Semih und Sherry machen ein Speakeasy: das „Plus43“ in Wien
Seit „Dr. Gonzo“ Hunter S. Thompson ist es ja nicht verpönt, zum Bericht auch die Umstände zu liefern, wie man auf sein Sujet kam. Diese Innenansichten aus dem Nähkästchen lesen sich ja auch ganz gut. Und in diesem Falle war es tatsächlich der Zufall, der die Schritte in Richtung der Tür führte, an der Noppen wie bei einem überdimensionierten Lego-Stein prangen. Sie stellen eine Telefontastatur dar, mit der man den Passcode an der Tür eingibt. Berührt man sie in der richtigen Reihenfolge, springt die Tür zu Semih Aybars Reich auf. Dazu sollte man aber den Code kennen. Hat man sich in Erfüllung der Cocktail-Beamten-Pflicht aber schon durch den boomenden Bar-Bezirk Neubau getrunken, wartet man einfach listig, bis Raucher ihrer Sucht frönen. Und gleitet dann hinein, um dem Chef einen Spontanplatz abzuschwatzen.
Trüffel und Kürbiskern-Öl, kein Süßkram
So begann die Bekanntschaft mit Semih Aybar und doch stimmt das so nicht ganz. Denn eigentlich sollten sich die Wege schon Jahre zuvor gekreuzt haben, nachdem der Wiener bei einer der unterschätztesten Bars der Stadt für Köstliches zu chinesischen Kreationen gesorgt hat. Das „Market“ betitelte Lokal ist ein Pionier der modernen China-Küche (Rehleber aus dem Wok, um ein Beispiel zu geben). Die Drinks dazu reichten vom harmonischen Acht-Schätze-Tee bis zu elaborierten Kreationen, gerne aus der Abteilung „Savoury“. Lustiger Weise folgte Semih hier seinem Bruder Hakan Aybar nach, der heute im Hotel „Jaz in the City“ als Barmanager tätig ist.
„Durch meinen Bruder, viele Reisen und die Ausbildung in der „Ebert’s Bar“ habe ich viel gelernt“, fasst der Chef der „Plus43“ seinen Werdegang zusammen. Der gipfelte dann im Juni 2021 mit der eigenen Bar in der Westbahnstraße, direkt um die Ecke der jüngst hier vorgestellten übersiedelten „Parfümerie“. Die immerhin sechs Jahre im „Market“ brachten auch im Solo-Projekt eine ziemlich merkliche Fokussierung auf den „Cuisine Style“ des Mixens mit sich. „Hibiki mit Trüffel“ etwa wäre eine typische Kombination, die man sich im Speakeasy im Hipster-Bezirk erwarten darf. Wobei der Fokus auch klar auf österreichischen Aromen liegt. „Plus43 ist ja die internationale Ländervorwahl und das Telefon verbindet Menschen“, erklärt Aybar, „wir tun das von Österreich aus“. Weshalb es auch selbstverständlichen Einsatz von z. B. Kürbiskernöl in seinen Drinks gibt.
Ein Soloalbum, mit Respekt aufgelegt
Doch auffällig ist beim Erst-Besuch neben der Qualität der Drinks, für die sich die Bar viel Zeit nimmt (ein Vorteil der überschaubaren Größe und dem Fehlen von „walk ins“), dass sie allesamt von Semih Aybar gemixt werden. Jenem Mann, der auch begrüßt, Garderobe managed und das Inkasso stemmt. Nicht, dass man es nicht probiert hätte, wird diese „One Man-Show“ dann erklärt, „aber es hat einfach nicht gepasst“, seufzt der Barchef alias „Mädchen für alles“ über die probearbeitenden Kollegen. Es sind eben klare Vorstellungen mit dem „Plus“ verknüpft. Schritt für Schritt soll aber ein solides Team mit Leuten aufgebaut werden, „die auch eine Leidenschaft für das Bartending haben und ähnliche Ziele haben wie wir“.
Zu diesen gehört eine offene Atmosphäre, die sich in den in Wien gar nicht so häufigen zwei-sprachigen Drinks Menus äußert, aber auch in der Tatsache, dass hier auch viele Frauen alleine auf einen Cocktail herkommen. „Respekt“ ist eben nicht nur ein Wort, denn Gäste werden auch ermahnt, wenn sie es mit klassischer Anmache versuchen. „Das ist nicht unser Stil“, legt Allein-Mixer Aybar Wert auf ruhige Atmosphäre. Schließlich hat er schon genug Funktionen, um auch noch den Rausschmeißer zu geben.
Erweiterung der Mix-Möglichkeiten
Möglich ist derlei Arbeitsweise ohne körperlichen Raubbau ohnehin nur mit zwei Faktoren: Den Rücken hält seine Freundin Sherry dem Workaholic frei – sie kümmert sich um den Außenauftritt des „Speakeasys“. Und die Arbeit dürfte fruchten: Vor allem viele internationale Gäste frequentieren die Bar, die Wiener stammen aus weniger aus der Umgebung, sondern dem Ersten und Sechsten Bezirk, hat man analysiert. Zum anderen nützt Semih die beiden Ruhetage Sonntag und Montag, um alles vorzubereiten. „Ehrlicherweise verwerfen wir auch viel, wenn uns das Ergebnis nicht überzeugt“, so der Perfektionist. Denn ohne „clear ice“ oder seinen hausgemachten Likören – etwa den Falernum – legt der 26-Jährige nie los.
Dafür bekommt er immer öfter freie Hand, was seine zwischen 13,50 und 20 Euro angesiedelten Cocktails angeht: „Gäste fragen meist nur beim ersten Mal nach der Karte, dann vertrauen sie unseren Empfehlungen“. Die Basis dafür legen 500 Spirituosen, darunter auch etliche Sammelobjekte – vor allem bei den „dark spirits“. Mit ihnen sollen auf lange Sicht noch exklusivere Angebote möglich sein: „Aktuell stecke ich viel in den Ankauf“. Zudem gibt es erste Erweiterungspläne für die Ein-Raum-Bar mit ihren 15 Sitzplätzen.
Das Sündenregister des Bartenders
Bestseller der aktuellen Karte ist der „Pimp my Gimlet“, doch auch der „Bee in the Cup“ hat viele Freunde. Und im Freestyle? „Da fragen die Gäste gerne nach meiner Idee oder der Gast kreiert einen Cocktail mit mir zusammen“. In der Eigensicht geht es aber vor allem um die Erfahrung, die dem Gast geboten werden soll – in einem geschützten, angenehmen Rahmen Top-Drinks zu konsumieren. Mit denen Semih Aybar irgendwann gerne zumindest unter die „Discoverys“ der 50 Best Bars-Liste kommen möchte.
Denn auch wenn die Bar versteckt sein mag, der Ehrgeiz ihres Chefs ist es nicht.
Credits
Foto: Semih Aybar