„The Noble Experiment“ – Prohibition in den USA (Teil 1)
Als Speakeasy kein Konzept war, sondern kriminell: Mit der Serie “Prohibition USA” werfen wir einen Blick zurück auf ein legendäres Gesetz, das trotz des Vetos des US-Präsidenten umgesetzt wurde. Im ersten Teil erklärt Peter Eichhorn, wie es zu den ersten Abstinenzbewegungen in den USA kam und warum beim Verband amerikanischer Bierbrauer deutsch gesprochen wurde.
Teufel Alkohol! Gesellschaftliche Gewohnheiten, kulturelle Identität, private Feierlichkeiten und schlichter Rausch. Verdammt, gepriesen und einfach nicht wegzudenken aus den Momenten der Alltäglichkeit. Oder doch? Wie ein Omen der Verdammnis ergießt sich am 15. Januar 1919 eine gigantische Melasse-Welle durch die Straßen Bostons. 21 Tote und 150 Verletzte fordert die „Bostoner Melasse Katastrophe“ oder die „Große Boston Melasse Flut“, wie das Ereignis in den Geschichtsbüchern bezeichnet wird.
Was war geschehen? Ein gigantischer Tank der staatlichen United States Industrial Alcohol Company war geborsten. 15 Meter Höhe und 27 Meter Durchmesser maß das Ungetüm mit einer Füllmenge von 8,5 Millionen Litern, welches miserabel gewartet war und sich in dementsprechend desolatem Zustand befand.
Es war überraschend warm geworden in Boston, Massachusetts. Am Vortag herrschten noch eisige 14 Grad unter dem Gefrierpunkt, und plötzlich stieg das Thermometer auf fünf Grad über Null. Die Auswirkungen auf den Tankinhalt waren erheblich. Die Temperaturschwankung beschleunigte die Fermentation, erhöhte den Druck und führte zum Bersten des gigantischen Behälters.
Prohibition USA: Der Weg ist frei für den National Prohibition Act
War dies ein Omen? Eine Mahnung aus Kapitel sechs im Buch Genesis, als Noah seine Arche baut? Jedenfalls ratifizierte am Folgetag der Bundesstaat Nebraska als 36. Staat (von 48) den 18. Zusatzartikel zur Verfassung und sorgte somit für die notwendige Mehrheit, die Prohibition in den Vereinigten Staaten auf Bundesebene umzusetzen. 1919 wird zum entscheidenden Jahr der Weichenstellung für die Ära des Alkoholverbots, die sich bis 1933 erstrecken sollte.
Am 28. Oktober 1919 stimmte der Kongress für die Gesetzgebung des „National Prohibition Act“, der oft als „Volstead Act“ bezeichnet wird, benannt nach Andrew Volstead, dem Vorsitzenden des Rechtsausschusses, der die Ausformulierung des Gesetzestextes verantwortete. Auch das Veto von Präsident Woodrow Wilson nutzte nichts und wurde von Kongress und Senat überstimmt. Die Prohibition trat am gesetzlich frühest möglichen Zeitpunkt in Kraft: Punkt Mitternacht am 17. Januar 1920.
Der Volstead Act regulierte drei wesentliche Aspekte rings um den Alkohol. Erstens: Berauschende Getränke sollen verhindert werden. Zweitens: Herstellung, Verkauf und Transport (nicht aber der Konsum) von berauschendem Alkohol werden reguliert und bestraft. Und drittens: Ein notwendiger Vorrat von Alkohol wird gesichert, um wissenschaftliche Forschung zu ermöglichen und die Bereiche Brennstoffe, Färbemittel und weitere industrielle Abläufe zu gewährleisten. Sowie ebenfalls für religiöse Rituale.
Ein Melting Pot voller Alkohol – eine Vorgeschichte
In seinem Werk „Ein Tagebuch in Amerika“ schreibt der britische Marineoffizier Frederick Marryat im Jahr 1836: „Man sagt, die Briten können nichts vernünftig ohne ein Dinner regeln. Aber ich bin sicher, die Amerikaner können nichts ohne einen Drink regeln. Trifft man sich, trinkt man; verabschiedet man sich, wird getrunken; mit einer neuen Bekanntschaft wird getrunken; bei einem Geschäftsabschluss wird getrunken; sie streiten mit dem Drink in der Hand und versöhnen sich bei einem Drink. Sie trinken, wenn es heiß ist; sie trinken, wenn es friert. Bei einem Wahlerfolg feiern sie und jubeln; bei einer Niederlage trinken sie und fluchen. Sie beginnen früh am Morgen mit dem trinken und trinken bis spät in die Nacht hinein; sie beginnen früh im Leben und machen weiter, bis sie früh in Grab fallen…Wasser taugt immerhin für die Navigation zur See.“
Tatsächlich trinkt im Jahr 1830 jeder Amerikaner über 15 Jahre durchschnittlich eine Menge von 88 Flaschen Whiskey im Jahr. Bereits 1810 zählen die USA 14.000 Brennereien.
Die USA im 19. Jahrhundert sind ein Land im stetigen Umbruch. Einwanderung, Krieg, Industrialisierung prägen die Entwicklung; Stadt gegen Land, Protestanten gegen Katholiken und die Gewohnheiten der unterschiedlichen Alt- und Neuamerikaner sorgen für unterschiedliche Interessen und Motive, welche Verhaltensweisen als amerikanisch und gesellschaftlich anerkannt gelten dürfen. Die Sorge wächst, dass die USA zum Land der Säufer werden.
Anti-Alkohol – Moral und Organisation
Frühe Temperenzler-Initiativen und Anti-Alkoholkampagnen der Kirche verbreiten sich bereits im frühen 19. Jahrhundert in den USA. Eine erste Organisation, die nachhaltig das Thema proklamiert, war die American Temperance Society (ATS), die im Februar 1826 in Boston gegründet wurde und nach fünf Jahren 2.220 Ortsgruppen mit 170.000 Mitgliedern besitzt. Weitere fünf Jahre später sind es rund 1.250.000 Mitglieder mit 8.000 Gruppen.
Die Hauptinitiative gilt der Mäßigung bei destillierten Getränken. Einen Schritt weiter geht die Bewegung der „Washingtonians“. Sechs ehemalige Gewohnheitstrinker gründen im April 1840 in Baltimore eine Gesellschaft, bei der Erfahrungsaustausch und gegenseitiger Halt zu einer komplett alkoholbefreiten Lebensführung beitragen sollen. Bald würden die Washingtonians eine halbe Million Mitglieder aufweisen.
Trinker beraten Trinker. Ein Vorläufer der Anonymen Alkoholiker, doch 1840 existiert der Begriff „Alkoholiker“ noch nicht. In USA ist vom „Drunkard“ die Rede. Die Kirchen beäugen die Entwicklung kritisch und akzeptieren nicht, dass Leitlinien zur Lebensführung ohne Religiosität verbreitet werden. So entstehen weitere Impulse gegen den Alkohol aus den Kirchen heraus, allen voran durch die Methodisten. Angeprangert werden moralischer Verfall, Trunksucht, Misshandlung von Frauen und Kindern, Geldverschwendung in den Kneipen und bei Prostituierten. 1851 verabschiedet der Bundesstaat Maine ein erstes Anti-Alkoholgesetz, welches 1856 wieder zurückgenommen wird.
Bürgerkrieg und Goldrausch führt ebenfalls zur Prohibition USA
Die Mitte des 19. Jahrhunderts verändert Amerika gewaltig. Die demokratischen Revolutionen in Europa (und ihr Scheitern) spülen Hunderttausende Emigranten in die Neue Welt, insbesondere aus Deutschland, Österreich und Frankreich. Hungersnöte in Irland erzeugen eine weitere, gewaltige Einwandererwelle. Und ab 1854 lockt der kalifornische Goldrausch Glücksjäger aus aller Welt an die amerikanische Westküste.
Der amerikanische Bürgerkrieg (1861-1865) unterbricht die Einwanderung und auch die Abstinenzlerbewegung. In der Politik überwiegt die Thematik der Sklaverei, und die Finanzen des Staates sind auf die Erträge der Alkoholsteuer angewiesen. Nach Kriegsende erleichtert der „Homestead Act“ die Einwanderung in die USA. Die Zahl der Skandinavier, insbesondere aus Schweden, nimmt nun zu und chinesische Arbeiter, die ebenfalls vor Kriegen aus ihrer Heimat fliehen, werden für den Eisenbahnbau rekrutiert.
Die Eisenbahn sorgt zunehmend für eine schnellere Verbreitung von Waren, Menschen und Ideen in dem riesigen Land. Die neuen Einwanderer bringen ihre heimatlichen Fertigkeiten und Traditionen mit. Deutsche Brauer prägen fortan das Bierwesen der Vereinigten Staaten, und Brauer wie Anheuser, Busch, Miller, Pabst oder Schlitz stillen den Bierdurst der Einwanderer. Der Verband amerikanischer Bierbrauer verfasst Publikationen auf Deutsch und hält seine Sitzungen ebenfalls in deutscher Sprache ab.
1869 entsteht mit der Prohibition Party (PRO) neben Republikanern und Demokraten eine erste, neue Partei in den USA. Als politische Kraft nimmt diese Partei Einfluss auf die nächsten Jahre und die Durchsetzung der Alkoholverbote. Die Partei existiert noch heute.
Prohibition USA: Zeitenwandel mit Rock
Für die Temperenzbewegung erweist sich eine weitere Gruppe als maßgeblich: Frauen kämpfen nun an vorderster Front für neue Rechte und gegen den Alkohol. Unmittelbarer politischer Einfluss ist Frauen zu diesem Zeitpunkt noch verwehrt, und so entwickelt sich ein weiblicher Aktionismus, wie der „Kreuzzug der Frauen“ in den Jahren 1873 und 1874.
Ausgehend von Ohio und angeführt von Eliza Daniel Stewart, versammeln sich Frauen vor den Saloons, deren Zahl immens angewachsen war, blockieren die Eingänge, beten laut und singen christliche Lieder. Aus diesem Aktionismus geht dann die Woman’s Christian Temperance Union (WCTU) hervor.
Bekannt und berüchtigt wird auch Carrie Nation, die bei späteren ähnlichen Aktionen stets ein Beil mit sich führt, mit dem sie die Flaschen der Saloons zerdeppert und die zwischen 1900 und 1910 mehr als 30-mal verhaftet wird. Oft bilden die Interessen und Aktionen der Temperenzlerinnen und der Suffragetten, die für die politische Beteiligung der Frauen kämpfen, ein wirkungsvolles Bündnis.
Aber auch Männer setzen sich verstärkt für die Prohibition ein, ob aus religiösen, politischen oder monetären Motiven. Schlau baut der ehemalige Baseballspieler und missionierende Wanderprediger Billy Sunday auf die neue Technik des Lautsprechers und predigt bei seinen Veranstaltungen, für die er ordentlich Eintritt kassiert, gegen den Alkohol als Wurzel allen Übels.
1893 entsteht in Ohio die Anti-Saloon-League, die rasch zu einer politisch einflussreichen Organisation anwächst. Erstmals erlebt die USA politische Lobbyarbeit gegen den Alkohol mit festangestellten Mitarbeitern und wohlorganisierten, finanzierten Strukturen. Unter der Maßgabe, dass Abstinenz der natürliche menschliche Zustand sei, erwirkt der stark religiös geprägte Anführer Wayne Bidwell Wheeler starken Zuspruch auf politischer Ebene und wirkt an dem 18. Zusatzartikel wesentlich mit.
„Wahre Amerikaner brauchen keine Saloons.”
Die Befürworter der Prohibition in den USA spüren kräftigen Aufwind. Können sie doch ihr Anliegen mit weiteren Themen und Gruppen gut verbünden. So geht es eben auch um das Wohlergehen von Emigranten, Arbeitern und Kindern. Frauenrechtlerinnen und Kirchen stehen Seite an Seite, wohingegen jegliche Befürworter von Alkohol an inhaltlichen wie auch organisatorischen Schwierigkeiten scheitern.
Weitere Impulse bahnen die letzten Meter zum Erfolg der Temperenzler-Anliegen. So verabschieden Kongress und Senat Anfang 1913 Regelungen zu einem neuen Einkommenssteuergesetz. Ab sofort ist die Regierung nicht mehr auf die Einkünfte aus der Alkoholbesteuerung angewiesen. Mächtige Unterstützer, wie Carnegie und Ford, fordern Alkoholverbote, um die Gesundheit und somit auch die Produktivität der Arbeiter zu stärken. Die Gewerkschaften stimmen mit ein.
Prohibition USA und Hass auf alles Deutsche
Der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg 1917 schürt den Hass auf alles Deutsche. Dies bekommen insbesondere die deutschstämmigen Brauereibesitzer heftig zu spüren. Hatte es zum Kriegseintritt an die 1.000 Brauereien im Lande gegeben, halbiert sich deren Zahl innerhalb von sechs Monaten. Eine weitere Entwicklung, die den Prohibitions-Befürwortern in die Karten spielt und 1919 in den Volstead Act mündet, der mit ein paar Sätzen und Unterschriften versucht, den American Way of Life zu verändern.
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