Eine deutsche Rarität: Das Pusser’s in München wird 50
Es ist davon auszugehen, dass der Erfinder des Rades bei seinen Zeitgenossen auf großes Misstrauen stieß. „Das sieht aber komisch aus! Wozu soll das denn jetzt wieder gut sein? Es ging doch bisher auch ganz gut ohne! Immer muss alles noch schneller gehen, dabei ist die Steinzeit eh eine einzige Hetzerei …“
Es ist vielleicht ein wenig gemein, das München der 1970er Jahre mit der Steinzeit zu vergleichen, andererseits aber … na ja. Ist schon auch nicht so ganz falsch. Im Bezug auf alkoholische Mischgetränke war im Bierland Bayern noch nicht einmal die Goaßmaß (dunkles Bier, Kirsch, Cola) erfunden, und für einen Radler benötigte man schon eine sehr gut aufgelegte Bedienung, und die war eigentlich auch noch nicht erfunden.
Beharrlichkeit und keine Berührungsängste
Nichtsdestominder eröffnet der amerikanische Luftwaffensoldat Bill Deck 1974 mitten im Zentrum der Stadt eine American Bar, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er eine vermisst. Die Anzahl der Freunde und Ratgeber, die das für eine gute Idee halten, kann man recht genau mit Null beziffern. Schon die Suche nach der passenden Immobilie stößt auf Verständnislosigkeit. Wie? American Bar? „Also, das ist ein Ort, wo Gentleman hinkommen“ – „Ach so, ein Schwulenclub!“
Im Gegensatz zu potenziellen Vermietern hat Deck jedoch genaue Vorstellungen: „Ich wusste, wie es aussehen muss, und zwar – Sie werden lachen – aus den alten Hollywood-Filmen, die ich mit zwölf Jahren gesehen habe.“ Um dem Unternehmen ein wenig Rückenwind zu verpassen, klopft der von Berührungsängsten unbelastete Deck in Paris bei Andrew MacElhone an, dem Sohn des legendären Namensgebers von Harry’s New York Bar. Er will sein Wissen erweitern, das sich bislang auf die Bewirtung der Jagdkameraden des Vaters in der heimischen Kellerbar beschränkte, und gleichzeitig eine Partnerschaft eingehen, die es ihm erlaubt, den berühmten Pariser Namen auch für sein Münchner Barprojekt zu verwenden. MacElhone, beeindruckt vom Elan des jungen Amerikaners, ist einverstanden.
The Rest is history …
Weniger beeindruckt sind leider die Münchner; der Name entfaltet nicht den erhofften Klang. Von New York hat man ja schon gehört, aber wer soll denn dieser Harry sein? Seine Drinks beäugen sie mit dem gleichen Argwohn wie Dschungelcamp-Teilnehmer die Kriechtiere auf ihrem Teller, und so bleibt der Erfolg erst einmal aus, und zwar derart, dass der Pariser Partner schon die Segel streichen will.
Nicht jedoch Bill Deck. „Wenn ich eine Idee habe und davon überzeugt bin – you cannot stop me.“
The rest is history, wie man so schön sagt, und das Besondere daran ist, dass diese Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist. Seit knapp 20 Jahren leitet Sohn David Deck die Bar und zeigt, dass sich auch ein großes Erbe mit Erfolg weiterführen lässt. Landauf, landab scheitern Familienunternehmen an der Aufgabe, einen Nachfolger zu finden, und gerade das Spannungsfeld ist nicht zu unterschätzen, in einer legendären Bar die Tradition zu bewahren, ohne dabei zu erstarren. Bill und David Deck haben diese Aufgabe ganz offensichtlich gemeistert: Sie haben, wie David betont, ein Regelwerk untereinander etabliert, mit dem sie offensichtlich sehr gut fahren. Auch Bill betont den gegenseitigen Respekt: „Das ist mein Sohn, aber wichtiger noch: das ist mein Partner.“
So wurde David auch nie in die Rolle des Thronfolgers hineingezwungen, und wenn man mit David spricht, wird deutlich, dass das auch der richtigen Weg war: „Es war nie klar, es war nie gefordert, es gab nie einen Druck in diese Richtung.“ Weshalb er ganz für sich alleine eine Entscheidung treffen konnte, die er offenkundig auch nicht bereut hat.
Pusser's
Die Decks sind trotz oder gerade wegen ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten als Team eine Macht: Der oft ungeduldige, extrovertierte Bill und der eher ruhige, abwägende David ergänzen sich auf eine so runde Art und Weise, dass ihre Entscheidungsfindungen schon durch dieses Selbstkorrektiv eine Trefferquote vorweisen können wie ein olympisches Sportschützenfinale. Jetzt sind es also 50 Jahre, und für beide Decks scheint die Bar eher ein Jungbrunnen zu sein als ein Burnout-Beschleuniger.
50 Jahre! Was für eine Dimension. Ein zeitlicher Rahmen weit jenseits klassischer Memes wie „ich bin so alt, ich musste noch für SMS Geld bezahlen“; ein halbes Jahrhundert liegt den meisten jüngeren Menschen so fern wie der Untergang Pompejis oder kostenpflichtige Pornographie.
Die Geschichte hinter der Geschichte
Es ist mittlerweile üblich, dass Bars ihre Geburtstage feiern, und beileibe nicht nur die runden; den zweiten, den sechsten, den siebten undsoweiter. Dahinter steckt zumindest unterschwellig mehr als nur der Marketinggedanke, sondern oft genug auch das Wissen um die Tatsache, dass zwar der Mensch sterblich ist, die Bar jedoch sterblicher. Corona war da nur der Brandbeschleuniger für den Umstand, dass seit jeher die meisten Lokalitäten so langlebig sind wie der Morgentau auf der Wiese.
Bei Harry’s New York Bar änderte sich nur der Name. 1993 wurde daraus das Pusser’s, weil die dritte Generation der Pariser Namensgeber plötzlich neue Pläne hatte, damit den Karren aber recht schnell an die Wand fuhr. Bill Deck macht deutlich, dass ihn diese Geschichte tief verletzt hat und er erst jetzt langsam bereit ist, sie in ihren Einzelheiten zu erzählen – leider noch nicht im Rahmen dieses Interviews. Andererseits sprengt das zu Erzählende auch so jeden Rahmen.
Das Pusser’s ist auch zu substanziell, um in einem Promi-Namedropping-Artikel verwurstet zu werden. Natürlich waren sie alle da, aber der Maßstab für die Decks ist nicht Berühmtheit, sondern Persönlichkeit. So erzählt Bill Deck auch lieber von dem Bücher lesenden Streifenpolizisten, dem er Styling-Tipps gab, als von der Münchner Schickeria. Die klassische American Bar, wie sie im Pusser’s gelebt wird, stellt den Gast in den Mittelpunkt, und zwar unterschiedslos, weshalb sich auch Hollywood-Legenden hintenanstellen müssen. Auch Startender-Ambitionen wussten die Decks ihren Mitarbeitern schnell auszutreiben, denn nach wie vor gilt: „The Star is the Bar“.
Dass auch ein Charles Schumann durch diese Bar geprägt wurde und sie selbst auch mitprägte, wissen immerhin einige Menschen; auch diese Episode steht vielleicht sinnbildlich für die befruchtende Wirkung einer Bar, die als Keimzelle für die landesweite Wiederbelebung einer totgeglaubten Kultur diente. Er selbst reimt: „Ohne Harry’s Bar – Schumann’s nicht da!“ Apropos Charles Schumann: Es kann kaum ein Zufall sein, wie ähnlich sich die beiden quasi-Altersgenossen in vielem sind, in ihrer Betonung des stilsicheren Auftretens, ihrer Meinungsstärke und ganz besonders auch in ihrer unerschöpflichen Neugierde. Bill Deck schiebt das auf das gemeinsame Sternzeichen und meint überdies: „Ich bin auch heute noch der Schwamm. Ich will aufsaugen. I need to know! Und das macht den Beruf so phantastisch – weil es nie langweilig wird.“
Ein Bindeglied der Getränkekultur
Die Gefahr der Langeweile besteht schon deshalb nicht, weil sich das Publikum des Pusser’s immer wieder erneuert. David Deck ist zu Recht stolz darauf, dass man es immer wieder geschafft hat, seine Gäste nicht nur zu behalten, sondern auch stets neue, jüngere hinzuzugewinnen. „So bleiben wir auch nicht stehen, wenn wir uns mit unseren Gästen unterhalten, und über alle Branchen und Generationen hinweg finden unglaublich interessante Menschen ihren Weg hierher.“
Die Karte ist klassisch opulent und hat trotz des legendären Painkillers seit der Umfirmierung keinen grundsätzlichen Kurswechsel erfahren, wie David Deck betont: „Das Fundament ist ja nach wie vor die Classic American Bar. Das Interessante dabei ist dann nicht, ob es ein Rum ist, sondern die flüssige Geschichte dahinter, die vielen Traditionen, wie sie zum Beispiel auf den Schiffen der Briten 400 Jahre zurückreichen.“
Es geht um das Fundament. Wer im Pusser’s sitzt, erlebt ein Bindeglied der Getränkekultur, wie es nur noch selten zu finden ist. Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Das Lokal wurde gegründet, als weit und breit niemand mehr wusste, was eine American Bar denn überhaupt ist, und es ist jetzt immer noch da, in einer Zeit, wo es schon wieder viele vergessen haben.
So oder so bewahrt sich das Pusser’s seine singuläre Stellung.
Credits
Foto: Martin Stein
Michael Erdmann
Unvergessen die Fotos, auf denen Bill Deck als Model in irrsinnig lustigen Verkleidungen Drinks präsentierte!
M .E.