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Riga: „Balzam“ und der Bauch des Baltikums

Es ist in der lettischen Hauptstadt gar nicht so einfach, etwas anderes als Vodka oder Traditionslikör zu finden. Man muss schon ein wenig suchen. Unsere Autorin hat genau das getan. Und eine Stadt gefunden, die gerne schon ganz vorne mit dabei wäre. Und eigentlich auf einem guten Weg ist. Wenn es schon keine richtigen Straßen gibt.

Wessen Herz für Jugendstil schlägt, dessen Magen sich gleichwohl nicht allzu schnell geschlagen gibt, ist hier goldrichtig. Gold gibt es nämlich im Dekor der Häuserfassaden, Goldenes gibt es ins Glas und zur besseren Erinnerung auch auf die Hüften.

Riga – gefühlt liegt das irgendwo zwischen Reykjavik und Russland. Tatsächlich liegt es aber in Lettland, also zwischen Litauen im Süden und Estland im Norden. Im Herzen des Baltikums also. Baltikum. Was, wann, mit wem und gegen wen war das nochmal? Viel Streit mit der Sowjetunion, ein bisschen mit Deutschland, und immer wieder mit der Sowjetunion.  Lange, bevor Lettland erst 1991 seine Unabhängigkeit erlangte, wurde die Rigaer Altstadt während der Kämpfe um die Rückeroberung der Stadt im Jahr 1944 schwer beschädigt.

Im Paris des Nordens

Der Kapitale sieht man das allerdings keineswegs an. Wer schon in Paris und Wien die Augen nicht vom Gold-Dekor der barbusigen Fassaden-Frauen lassen konnte, hat es in Riga schwer. Nicht umsonst nennt man es das „Paris des Nordens“. Marija, eine Lettin wie aus dem Bilderbuch, erklärt, dass es bisweilen sogar zu Verkehrsunfällen kommt, weil man(n) „abgelenkt“ ist. Und das geht leicht – keine der Frauenfiguren lächelt und mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Groll sehen sie auf den Passanten herab. Der, wie er da angezogen über den Rigaer Pflasterstein geht, zusätzlich von verstörten Männern mit verzerrten Gesichtern angeschrien wird. Dass der Jugendstil-Architekt Michail Eisenstein mit diesem Dekor angeblich seine unglückliche Ehe verarbeitet hat, fällt ganz leicht zu glauben.

Und eine Stadt, die allein ästhetisch derart dramatisch aufgeladen ist, lädt zur Nacht ja geradezu ein. Der Himmel der Hafenstadt ist auch im Oktober bis Einbruch der Dunkelheit klar und die buckelige schwarze Katze auf dem Turmdach steht bleiern still.

Nostalgischer Charme und nordischer Chichi

Als Wahrzeichen Rigas muss sie immerhin auch auf Aschenbechern, Kühlschrankmagneten und Schneekugeln nachgebildet werden, um in Läden voll Bernsteinschmuck und Jugendstilstuck an den Touristen gebracht zu werden. Dass Riga mit 736.000 Einwohnern der größte Ballungsraum des Baltikums ist, macht die Vorstellung von ländlicheren Gebieten zu einer gedanklichen Reise ins Nichts. Denn das einzige, was an einem Freitag Abend am pittoresken Rathausplatz laut wird, ist eine Bar-Tour skandinavischer Erasmusstudenten. Und dass ebenjene einen besonders guten Riecher für hohe Kneipendichten haben, ist bekannt. Besonders begehrt sind die Stellen einer Stadt, an denen historischer Charme auf distinguierten Lifestyle trifft – willkommen in der Altstadt von Riga!

Von Katholizismus und Kontrasten

Direkt an dem zentral gelegenen und beschaulich beleuchteten Domplatz liegt ein Restaurant. Es heißt Domini Canes („Hunde des Herren“) und belustigt sich mit diesem Namen über die Dominikanermönche und ihre eifrige Reinhaltung des katholischen Glaubens. Auf dem Domplatz! Zu Essen gibt es sehr feine Dinge aller Konsistenz „im Dialog“ mit exotischen Tieren anderer Konsistenz – und ein Heizpilz, wie man ihn in Deutschland bereits in den 1990er Jahren verboten hätte, macht die kühle Herbstnacht lau.

Riga ist eine Stadt der Kontraste. In einem Trachtenkleid aus weißer Spitze eilt abermals eine Bilderbuch-Lettin vorüber, während an einer Jugendstil-Lampe gleich einer Pariser Metro-Station ein Jugendlicher sein „Commuter“ abstellt. Ein Rad, wie es am Kottbusser Tor in Berlin keine zwei Minuten stehen bliebe. Der Vodka kommt aus traditionell lettischem Quellwasser, dafür mit Blattgoldglitter am Bodensatz daher. Am Tag darauf steht das Rad noch immer da.

Das Balsam des Baltikums

In wenigen Städten fühlt man sich so unheimlich heimelig wie in Riga. Absonderlich gleichwohl appetitlich ist auch das Frühstück. Bratwurst, Bohnen und Buchweizencrepes mit Roggenbrot, Rogen und Piroggen aller Art. Mit Blick auf den Vodka vom Vortag ist das gut. Für den Weg in die Stadt hingegen wäre jetzt eine Sänfte nützlich: Die Kombination aus Kopfsteinpflaster und Fassadenpracht hält vermutlich das städtische Krankenhaus in Betrieb. Da hilft auch der allgegenwärtige Konsum des Rigaer Traditionsschnapses Black Balzam nicht. Der Likör geht auf die Rezeptur eines Apothekers aus dem 18. Jahrhundert und besteht aus Kräutern, Blüten, Ölen und Beeren. Die nostalgische Black Magic Bar mitten in der Altstadt besitzt noch den alten Apothekentresen und serviert einen so hochprozentigen „Black Coffee“, dass sich die Form des lettischen Frühstücks von selbst erklärt.

Der am Wasser gelegene Zentralmarkt besteht aus fünf riesigen Hallen, in denen die grandiose Groteske der traditionsbewussten Moderne geradezu weitergeführt wird. In den 1930er Jahren war er der größte und modernste Markt Europas. Der Bauch Rigas ist er auch heute noch. Auf fast sechs Hektar Fläche verkaufen – schon wieder! – Bilderbuch-Lettinen getrockneten Kabeljau, geräucherten Aal, Rogen-Tartar, Bullenhoden sowie Penisse, deren Besitzern man lieber nicht begegnen will.

Von der Skyline Bar des Radisson Blu Hotel aus hat man einen weitaus ungefährlicheren Blick auf die bei Nacht glitzernden Welldächer des Zentralmarkts und kann bei einem „Clavis Riga“ einen Tag aus Vodka und animalischen Weichteilen Revue passieren lassen. Der Cocktail besteht selbstverständlich aus Black Balzam, Rhabarberlikör, weißem Schokoladensirup, Grenadine und Apfelsaft, serviert mit Orangenzeste und natürlich von…einer Bilderbuch-Lettin.

 Endlich: die Auflösung des Bilderbuches!

Denn auf jene gilt es zu guter Letzt zurückzukommen. Rigas Bevölkerung ist nämlich nicht nur von einem deutlichen Frauenüberschuss gezeichnet, sondern auch von besonders charakteristischen Frauen. Diese sind in der Regel sehr groß, haben langes, blondes, glattes Haar, einen Mittelscheitel und hohe Wangenknochen. Mit denen und ihren blauen Augen gucken sie sehr streng und man möchte auf keinen, aber auf gar keinen Fall Streit mit ihnen. Allein der Fingernägel wegen! Aber einmal mit ihnen Feiern zu gehen, verspräche eine goldene Nacht über glitzernden Dächern, Drinks und Dynamo Riga-Tatoos an Schlüsselbeinen.

Die Männer wirken hingegen weniger bemüht. Aber die müssen auch nicht tagein tagaus mit Pfennigabsatz über Pflastersteine, deren Anordnung mehr Zufall als eine Straße ist. Auch der Stoßdämpfer scheint in Lettland noch nicht eingeführt zu sein, aber vermutlich hat der Busfahrer zum Flughafen ein Fläschchen Balzam in der Tasche, als er fröhlich durch die Lautsprecher „bless your discs!“ lacht und auf das nächste Schlagloch zu fährt. Aber das macht nichts, denn ich habe auch einen Balzam dabei.

Credits

Foto: Riga via Shutterstock

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