TOP
Der Paper Plane ist gelandet: Durch die Berliner Nacht mit Sam Ross

Der Paper Plane ist gelandet: Durch die Berliner Nacht mit Sam Ross

Wer ist der Mensch hinter den beiden Neoklassikern Paper Plane und Penicillin? Sam Ross. Wer aber ist Sam Ross? Wir haben mit dem Betreiber des Attaboy eine Nacht in Berlin verbracht – zwischen Cocktails, Cowboying und Caps.

„Ich kannte niemanden in New York, als ich in die USA gekommen bin. Die New York Mets und das Stadion war wie eine große Familie. Und das sind sie geblieben.“ Sam Ross, so viel ist klar, trägt sein Basecap der New York Mets nicht aus modischer Zierde. Er trägt es aus Überzeugung und aufgrund der persönlichen Verortung des Exilanten. Denn: Die Baseball-Mannschaft der Mets ist alles andere als eine Siegertruppe. Sie ist eher der ewige Verlierer, oder zumindest der ewige Zweite hinter den übermächtigen New York Yankees. Deren Logo ist eine globale Fashion-Ikone – jenes der Mets wirkt hingegen wie ein auf dem Schwarzmarkt verunglücktes Plagiat. „Das passt auch zu Australien, wo man weniger wahrgenommen wird als die übermächtigen USA“, zieht Sam Ross einen Vergleich.

Michael McCollum aus dem Attaboy Nashville (links) und Sam Ross
Michael McCollum aus dem Attaboy Nashville (links) und Sam Ross in der Green Door Bar
Der Vortrag über die Entstehung des Attaboy war gut besucht

Von Melbourne in das Milk & Honey

Denn in Down Under ist Sam Ross aufgewachsen, bevor er mit 21 Jahren von Melbourne nach New York ging. Und nach New York ging es so, wie alle gute New York-Geschichten beginnen müssen: mit 500 US-Dollar in der Tasche, einem One-Way-Ticket, keinem Job und einen einzigen Bekannten in der großen, weiten Stadt, der ihn auf seiner Couch schlafen lässt. „Ich hatte zwar eine kleine Reputation in Melbourne, aber ich wollte mich in New York beweisen. Die dortige Barszene war damals auch nicht wirklich beeindruckend, aber als ich einen Fuß in das Milk & Honey gesetzt habe, wusste ich, dass ich hier arbeiten wollte.“

Die Empfehlung für das Milk & Honey kam im Übrigen von jenem Bekannten, auf dessen Couch er sein erstes Domizil aufgeschlagen hatte. „Ich bekam in der Bar eine Telefonnummer, und als ich diese anrief, war am anderen Ende der Leitung Sasha Petraske. Eigentlich hätte es Elizabeth Sun sein sollen, die damals Barmanagerin war und später ein Teil der Band Gogol Bordello. Und dann hatte ich den Job.“

Der Rest ist, wie man so schön sagt, Bargeschichte. Sam Ross erzählt das alles in ruhigem Ton; er spricht nicht laut, aber keinesfalls zu leise, er gestikuliert nicht wild mit den Händen oder rutscht auf dem Stuhl des Restaurants hin und her, in dem wir sitzen. Sein Handy beachtet er im Laufe des Abends nur beiläufig. Er hat diese Geschichte, wie er von Australien in das Milk & Honey kam, bestimmt schon oft erzählt, aber er lässt einen das nicht spüren. Vielmehr wirkt er wie jemand, der jedes Detail neu erzählen muss, um selbst immer wieder etwas Neues zu entdecken, das ihm bislang entgangen war; dass er schon mit 15 in einer Bar namens Ginger mit seiner Schwester und seiner Mutter gearbeitet hatte; dass sein älterer Bruder in London für Dick Bradsell und Wayne Collins gearbeitet hatte, bevor er zurück nach Australien ging, um dort zu machen, was sein Vater und Großvater vor ihm gemacht hatten: Autos zu verkaufen. „Heute gibt mein Bruder zu, dass ich der bessere Bartender bin. Aber er hat eine Weile gebraucht“, grinst er. Er ist seit 12 Jahren US-Staatsbürger, aber die Selbstironie, die immer wieder in seinen Worten durchblitzt, weist ihn als Australier aus, so wie sein leichter Akzent. Man merkt: Hier sitzt eine Person, die weiß, was sie geleistet hat, ohne das ständig vor sich ausbreiten zu müssen.

Coco Prochorowski, Markenbotschafter von Hendrick's Gin, brachte Sam Ross und Michael McCollum nach Berlin
Coco Prochorowski, Markenbotschafter von Hendrick's Gin, brachte Attaboy nach Berlin
Nach dem Vortrag gab es auch eine Gastschicht in der Green Door Bar
Nach dem Vortrag gab es auch eine Gastschicht in der Green Door Bar

The Milk & Honey Years

Der erste Drink im Milk & Honey ging in der Silvesternacht von 1999 auf 2000 über den Tresen. Vier Jahre später trat Sam Ross durch die Tür, drei Jahre darauf kreierte er mit dem Paper Plane und dem Penicillin zwei Drinks, die sich rasch im globalen Cocktail-Kanon etablieren sollten. Und doch: Wir haben es hier nicht mit einer musealen Figur zu tun. Sam Ross ist gerade mal 41 Jahre alt. Er ist zwei Jahre älter als Cristiano Ronaldo und zwei Jahre jünger als Beyoncé. Der Fakt, dass seine Drinks in einer guten Bar so automatisch abgerufen werden wie ein Daiquiri oder ein Manhattan, ist dem Umstand geschuldet, dass er ein junger Bartender in der Blütezeit der jungen Bar-Renaissance war. Sam Ross weiß das. Niemand kann heute mit 25 einen Drink kreieren, der um die Welt geht.

Am Tag zuvor bei seinem Workshop in der Berliner Green Door Bar ging es ihm auch nicht um diese beiden Drinks, und noch weniger prügelte Sam Ross seine Bedeutung in das Publikum. Er erklärt mit seinem Bar-Manager aus dem Attaboy Nashville, Michael McCollum, schlichtweg die Geschichte, die Philosophie und Methodik ihrer Bars. An der Arbeitsweise hat sich in zwanzig Jahren auch wenig geändert. Wie damals wird nach wie vor à la minute gearbeitet. Pre-Batching gibt es nicht, auch keine Bar-Karte oder Reservierungen. Nur Sirups werden angefertigt, Roto-Vap oder Sous-vide – Fehlanzeige. Die Bartender kennen knapp 600 Drinks, die sie nach einem logisch aufgebauten Prinzip von Cocktailfamilien einstudieren. „Cowboying“, wie Ross und McCollum es nennen, ist streng verboten – das ist der Ausdruck dafür, direkt am Gast eine neue Kreation zu erfinden. Geschöpft wird immer aus dem Fundus. Der sitzt und ist wasserdicht.

Es wirkt auch nicht wie kalkuliert, nostalgisch oder verklärt, wie Ross über Sasha Petraske spricht. Er weist seinem Mentor einfach einen Platz in seinem Kosmos zu, vielleicht auch, um sich gegen das allmähliche Vergessen zu stemmen. Nicht alle der Anwesenden kennen die Figur Sasha Petraske nämlich. „Ich kannte sie nicht“, sagt eine Bartenderin im Publikum, die Sasha für einen weiblichen Vornamen hält. Für manche mag auch die Faszination einer Bar schwer nachzuvollziehen sein, die sich vor mehr als zwanzig Jahren als Schneiderei getarnt und drei Tische bedient hat. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die Hälfe nach dem Vortrag zum Batching ins eigene Labor geht und à la Minute für eine überholte, unpraktikable Form des Arbeitens hält. Der Ruf des Milk & Honey beruhte zu einem großen Teil auch auf dem berühmt-berüchtigten Verhaltenskodex, den Sasha Petraske ausgegeben hatte, wie: den Hut abnehmen, keine Frauen anmachen, kein „Starfucking“.

Das geht nämlich gerne etwas unter, wenn über das Milk & Honey gesprochen wird: die emanzipierte Rolle des Ladens im Umgang mit weiblichen Gästen „in einer Zeit, in der New York nicht sehr sicher war, gerade für Frauen“, so Ross. Er und sein Freund und Geschäftspartner Michael McIlroy haben diese Einstellung auch weitergelebt, als sie 2014 aus dem Milk & Honey (das von Petraske an einen anderen Ort verlagert wurde) das Attaboy kreierten. Ohne dabei den Kodex wörtlich zu übernehmen wegen, so Basecap-Träger Sam Ross, „der dämlichen Sache mit dem Hut.“.

Natürlich wurden auch Paper Planes serviert
Natürlich wurden auch Paper Planes serviert
On the Road: Michael McCollum und Sam Ross im Wax On
On the Road: Michael McCollum und Sam Ross im Wax On

Expansion und Schicksalsschläge

Sam Ross macht das ungekünstelt, diese immer wieder eingestreute Huldigung an seinen 2015 mit erst 42 Jahren überraschend verstorbenen Mentor Petrakse, und dem Vertrauen in seine eigene Handschrift, die er (mit seinem weiterhin Geschäftspartner McIlroy) entwickelt hat. Und die kann sich sehen lassen, denn 2017 kam das Attaboy Nashville dazu, danach die Lake Side Lounge (Nashville, 2019), Hearts (Nashville, 2020) und Temple Bar (New York, 2021). Selbst hinter dem Tresen steht er heute nur noch bei seinen – eher seltenen – Gastschichten; weswegen er sich am Tag danach beim Dinner auch Sprüche von Michael McCollum gefallen lassen muss: „Na, juckt die Schulter?“

Michael McCollum wiederum ist geboren und aufgewachsen in Nashville und war bereits einige Male in Deutschland. Allerdings nicht in Berlin und nicht in Bars, sondern in Kaiserlautern, denn er hat neun Jahre in der US-Army gedient, war im Irak und in Afghanistan – und die Frage, ob auch auf ihn geschossen wurde, beantwortet er mit einem erstaunten: „Fuck yeah, of course I’ve been shot at!“ Er hat semi-professionell Eishockey gespielt, weswegen seine Vorderzähne nicht mehr echt sind, „wie bei den meisten im Süden.“ Für einige Jahre hat er im New Yorker Pouring Ribbons gearbeitet, bevor er zum Eröffnungsteam des Attaboy Nashville gehörte. Und der mit Sam Ross somit auch durch einen emotionalen Tiefpunkt gewandert ist: 2020 zog ein verheerender Tornado durch Nashville. Er kostete 25 Menschen das Leben, darunter dem Attaboy-Bartender Michael Dolfini und seiner Freundin Albree Sexton, die auf dem Nachhauseweg von der Schicht auf einem Highway von Trümmerteilen getroffen wurden.

Die Blicke von Ross und McCollum wandern für einen Augenblick an einen Ort, an dem die Bilder der beiden auferstehen, kurze, emotionale Avatare der Erinnerung, die aufziehen, bevor sie wieder verblassen oder weichen müssen: der nächsten Person, dem Dessert, der nächsten Taxifahrt. In diesem Fall warten das Wax On, das Becketts Kopf und das Buck & Breck auf die beiden; also einmal die neue Form von Bar, die auf Pre-Batching, Kartenzahlung und Nichtraucher setzt, zweimal in die verrauchten Tempel der Berliner Neoklassik, deren Betreiber in den Nullerjahren auch starken Einfluss durch das Milk & Honey erhalten hatten, was Technik, Umsetzung und – ja – auch Abschottung betrifft.

Sam Ross bleibt dabei stets aufmerksam, geht auf Fragen ein und spult kein Programm ab, das er schon tausendmal gesehen hat, obwohl er es schon tausendmal erlebt hat. Er spiegelt die Erfahrung eines Menschen wider, der weiß, dass es nichts bringt, mit dem Taxi staunend durch eine dunkle Stadt zu fahren, die man nur schemenhaft wahrnimmt und vielleicht nie wiedersieht. Ah, der Fernsehturm, ah, welcher Bezirk war das hier, Osten oder Westen? So etwas hört man von ihm nicht; man sieht auch wenige Posts oder Bilder. Er spricht mit den Leuten um sich, und nicht jeden Drink trinkt er aus. Der Flug geht an nächsten Tag früh zurück. Er macht diesen Abend, weil er Lust darauf hat, nicht weil es eine Verpflichtung ist, aber zum Partymachen ist er nicht hier. Bei den Tales of the Cocktail in New Orleans war er schließlich auch schon zehn Jahre nicht mehr. „I’m good“, sagt er dazu, „das sollen die Jüngeren machen.“

Cristiano Ronaldo macht schließlich auch weniger Fallrückzieher. Und Beyoncé jetzt Country.

The Subway Series

Wenige Tage nach ihrem Trip nach Berlin werden die World’s 50 Best Bars für Nordamerika verkündet, das Attaboy New York landet auf Platz 31. Diese Platzierung würde bei vielen anderen Bars massive Danksagungen auslösen, auf dem Instagram-Kanal der Bar oder bei Sam Ross davon zu sehen ist hingegen: nichts.

Im November dieses Jahres wird Sam Ross 21 Jahre in New York sein. Dann wird er die eine Hälfte seines Lebens in Australien, die andere Hälfte in den USA verbracht haben. Wenn er etwas Glück hat, kann er dieses Jubiläum bei einer „Subway Series“ feiern. Das hat nichts mit der Fastfood-Kette zu tun. So nennt sich ein Finale der Major League Baseball zwischen zwei New Yorker Mannschaften, eben weil die Stadien per U-Bahn zu erreichen sind. Das letzte Mal fand dieses für die Stadt epochale Ereignis im Jahr 2000 zwischen den Yankees und den Mets statt, Sam Ross hatte damals soeben die High School beendet und das Ganze mit einer Mets-Mütze verfolgt, die ihm sein Vater ein Jahr zuvor aus den USA mitgebracht hatte.

Die Yankees gewannen die Serie – natürlich – mit 4:1 Spielen. Im Oktober könnte es wieder so weit sein. Sam Ross wäre mit Sicherheit im Stadion. Familie und so.

Offenlegung: Sam Ross kam auf Einladung von Hendrick’s Gin nach Berlin. Von der Marke wurde auch der Abend organisiert. Auf diesen Text wurde in keiner Weise Einfluss genommen.

Credits

Foto: Stefan Adrian (Aufmacher & Wax On); Bastian Bochinski

Kommentieren

Datenschutz
Wir, Meininger Verlag GmbH (Firmensitz: Deutschland), würden gerne mit externen Diensten personenbezogene Daten verarbeiten. Dies ist für die Nutzung der Website nicht notwendig, ermöglicht uns aber eine noch engere Interaktion mit Ihnen. Falls gewünscht, treffen Sie bitte eine Auswahl:
Datenschutz
Länderflagge Deutsch
Wir, Meininger Verlag GmbH (Firmensitz: Deutschland), würden gerne mit externen Diensten personenbezogene Daten verarbeiten. Dies ist für die Nutzung der Website nicht notwendig, ermöglicht uns aber eine noch engere Interaktion mit Ihnen. Falls gewünscht, treffen Sie bitte eine Auswahl: