TOP

Der Sidecar: ein Cocktail mit bewegter Historie

Der Sidecar Cocktail ist ein Klassiker mit einem etwas angestaubtem Image. Über die Entstehung und die Gegenwart eines Cocktails.Und zwar eines solchen, der eine bewegte – und selten eindeutige – Geschichte hinter sich hat.

Ich bin ein klassischer Autodidakt. Wie viele (einer bestimmten Generation vermutlich), habe ich mir jeden Cocktail durch learning by doing beigebracht, und wie viele (einer bestimmten Generation vermutlich) war dabei das Buch von Charles Schumann für einige Zeit das bestimmende Werk. So war es auch klar, dass ich eines Nachts die Münchner Fibel aus der Lade zog, als ein Gast einen Sidecar bestellte. Das sei nämlich so ein Drink, hätte er mal gehört, an dem man die Qualität einer Bar einschätzen könne. Er sei ja eigentlich gar nicht so ein Cocktailtrinker, aber nun ja, dann würde er mal einen Sidecar probieren.
Aber sicher doch, war meine Antwort. Also schnurstracks ab hinter den Tresen; so getan, als würde ich die Platte wechseln, und dabei heimlich zum Buchstaben S im American Bar vorgeblättert. Und siehe da, da stand er, der Sidecar: 4 cl Brandy, 1-2 cl Triple Sec, 2 cl Zitronensaft.

Wie viele Autodidakten (einer bestimmten Generation vermutlich) war ich eher enttäuscht, einen Brandydrink vor mir zu haben, eine Spirituose, der ich nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit zukommen ließ – und auch nicht die Gäste der Bar, in der ich arbeitete… oh sweet bird of delayed youth!

Fast Forward

Nun ja, was soll ich sagen: Die Jahre zogen ins Land, und so taten es auch andere Bücher. Unter anderem David A. Emburys Dreifaltigkeitsbibel von Base, Modifier und Flavouring Part, The Fine Art of Mixing Drinks aus dem Jahre 1948, wo unter den Grundcocktails zu finden war: der Sidecar! Da stand er, mein geschmähter Bekannter, eingereiht in den Mount Rushmore der Cocktailhistorie, zu dessen Füßen ich kleiner Emporkömmling mich in meiner Scham wand.

Freilich war das Rezept des Trockenheitsfanatikers Embury ein anderes, als es Schumann aufführte. 6 cl Brandy stehen dabei 1,5 cl Zitronensaft und 0,8 cl Cointreau gegenüber, was verdeutlicht, dass Embury ihn eher wie einen Daiquiri betrachtete. Schumann orientiert sich in seiner Variante am Savoy Cocktail Book aus dem Jahre 1930, in der zwei Teilen Cognac jeweils ein Teil Cointreau und Zitronensaft gegenübersteht.

Aber der Sidecar ist ein schnelles Gefährt, das sich in seiner Entstehung nicht leicht in der Zeit lokalisieren lässt und weder in seiner Rezeptur noch in seinen Zutaten – mal ist es Brandy, mal ist es Cognac – ein einheitliches Bild abgibt. Vermutlich ist er in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Europa entstanden, aber ob in London oder Paris, scheint in den Wirren dieser Jahre verlorengegangen zu sein. Harry MacElhone, der sich die Erfindung des Drinks später selbst auf die Fahnen heftet, erwähnt ihn in seinem Harry’s ABC of Mixing Drinks aus dem Jahre 1922 und gesteht dessen Erfindung ursprünglich dem Kollegen Pat MacGarry im Londoner Buck’s Club zu. Ebenfalls 1922 erwähnt Robert Vermiere in Cocktails: How to mix them den Sidecar. Dort schlägt Vermiere in dieselbe, englische Kerbe: „Dieser Cocktail ist in Frankreich ausgesprochen populär. Er wurde ursprünglich in London von MacGarry erfunden, dem gefeierten Bartender des Buck’s Club.“

Beide Versionen sehen Brandy, Cointreau und Zitronensaft zu jeweils gleichen Teilen vor – also noch weniger trocken als die Savoy-Variante. 1937 publizierte William J. Tarling, Head-Bartender des Café Royal in London und Mitglied der United Kingdom Bartenders Guild (UKBG), das Café Royal Cocktail Book (während die UKBG unter ihrem Präsidenten Harry Craddock nahezu zeitgleich das Werk Approved Cocktails herausgab), wo der Sidecar seinen Platz bereits gefunden hat, auch hier sind alle drei Zutaten zu gleichen Teilen zu mixen (mit Brandy). Allerdings hat das Savoy Cocktail Book aus dem Jahre 1930 – siehe oben – eine bereits andere Rezeptur. Ein Grund, weswegen letztere auch als die englische Version bezeichnet wird, während die Rezeptur zu gleichen Teilen gemeinhin als französische Variante tituliert wird.

Worauf sich beide Versionen mehr oder weniger einigen: Der Name sei mit einem Motorrad in Verbindung zu bringen, ein Motorrad mit einem Seitenwagen, mit dem ein Hauptmann gerne herumkutschiert ist oder sich gerne herumkutschieren hat lassen. David A. Embury erwähnt, der Drink sei von einem Freund von ihm in Paris zur Zeit des Ersten Weltkrieges erfunden und nach dem Motorrad mit Seitenwagen benannt worden, mit dem sich jener Hauptmann zu „dem kleinen Bistro“ fahren ließ, in dem sie sich oft aufhielten. Der Name dieses Bistros bleibt dabei leider unerwähnt. Wer auf historische Winkelzüge steht, könnte die Vorstellung mögen, es sei jene Bar gewesen, die Harry MacElhone 1923 kaufte und in seine Harry’s New York Bar umtaufte.

Der Sidecar Cocktail: Es bestehen Zweifel

Aber selbst wenn der Ursprung des Namens durchaus plausibel scheint, wird er heute angezweifelt. Kein geringerer als Dale DeGroff betrachtet die ganze Sache mit dem europäischen Seitenwagen und der ganzen Expats-Riege skeptisch. Für „King Cocktail“, der in den 1990er-Jahren die Barszene von New York fast im Alleingang auf eine Rückbesinnung zu alten Werten und Zutaten führte, beginnt die Geschichte des Sidecar bereits im New Orleans des 19. Jahrhunderts. Und sie hat einen viel einfacheren, profaneren Grund: „Das Wort Sidecar bedeutet im Cocktail-Universum etwas völlig anderes: Wenn ein Bartender die Mengen falsch einschätzt, den Drink abseiht und noch etwas im Shaker übrig bleibt, kippt er diesen Rest in ein Shotglas – dieses kleine Glas nennt sich ‚Sidecar‘.“

Auch von DeGroff kursieren mehrere Versionen des Sidecar. Eine sieht einen Teil Cognac, einen Teil Cointreau und einen 3/4 Teil Zitronensaft vor, eine andere zwei Teile Cognac und jeweils einen Teil Cointreau und Zitronensaft (also im Prinzip die Version aus dem Savoy-Buch). Aber: Beide serviert DeGroff mit einem Zuckerrand.

Zurück in die Vergangenheit

Der Zuckerrand ist natürlich ein Wink mit dem Zaunpfahl, um nach einem Urahnen des Sidecar zu graben: dem Brandy Crusta. Diesen erwähnt bereits Jerry Thomas im Jahr 1862, bestehend aus 6 cl Brandy, 1-2 Dashes Curaçao, 2 Dashes Bitters (Bogart’s), 3-4 Dashes Gum Syrup, „etwas“ Zitronensaft, zu garnieren mit einer großen Zitronenzeste. Die DNA des Sidecar ist darin schon deutlich zu erkennen.

Auch in seiner Cousine, der Brandy Daisy, guckt der Sidecar in ein verwandtes Gesicht. 1887 finden sich in der überarbeiteten Ausgabe von Jerry Thomas dafür 6 cl Brandy, 3-4 Dashes Gum Syrup, 2-3 Dashes Curaçao, 2 Dashes jamaikanischer Rum und der Saft einer halben Zitrone, die geschüttelt, allerdings in ein großes Glas abgeseiht und mit Soda aufgefüllt werden. Aber lässt man dieses und den Rum weg, schält sich auch hier der Korpus eines Sidecar heraus, und es macht Sinn, wenn David A. Embury schreibt, der Sidecar hätte ursprünglich eigentlich aus viel mehr Zutaten bestanden, diese seien aber einer „Verfeinerung durch Weglassen“ zum Opfer gefallen.

So, wie auch der Brandy allmählich durch Cognac ersetzt wurde. In der angloamerikanischen Welt wird als Brandy ohnehin gerne salopp alles bezeichnet, was Weinbrand ist, es ist daher nicht unlogisch, dass mit dem besseren Ruf des Cognac dieser vermehrt eingesetzt wurde. Gleichzeitig hat Cognac weniger Geschmacksschwankungen als sein spanisches Pendant, was ihn zu einer stabileren Basis macht. Es ist auch die Basis, die heute öfter Eingang ins Glas findet.

Die Gegenwart

„Auf jeden Fall hat der Sidecar aufgrund seiner Entstehung eine Sonderstellung, da er in Europa erfunden wurde und nicht zur Zeit der Prohibition in den USA“, so Oliver Ebert von der Berliner Bar Becketts Kopf. „Wir machen ihn bei uns mit 5 cl Abecassis Cognac, 2 cl Pierre Ferrand Dry Curaçao und etwa 1,8 cl Zitronensaft. Natürlich balanciert letzteres je nach Säure der Zitronen, aber für uns hat sich bewahrheitet, dass etwas weniger Zitrone als Curaçao den Drink harmonischer macht“, meint der Barbetreiber.

Ein „zu großer Klassiker“, dieser Sidecar Cocktail

Der Cocktail sei ein viel zu großer Klassiker, um ihn auf eine kleine, ausgewählte Karte zu nehmen, wie sie im Beckett’s Kopf Brauch ist, aber empfohlen und gemacht würde er trotzdem regelmäßig. Gerade in kühleren Jahreszeiten wandere der Sidecar immer mal wieder über den Tresen. „Wenn Gäste etwas säuerliches, erfrischendes haben wollen, ist ein Sidecar wunderbar, da er durch den Cognac etwas Erdiges bekommt. Gin ist zu leicht, eine White Lady ist eher was für den Frühling. Im Winter passen diese Aromen des Holz, die durch die Lagerung des Cognacs mit in den Drink kommen, besser”, so der Mixologe des Jahres 2013, der auch eine Pi-Mal-Daumen-Regel hat: „Je filigraner der Cognac, desto mehr kann er in den Vordergrund, je gröber der Cognac, desto mehr kann in den Hintergrund. Aber oft ist im Sidecar der Curaçao das Problem, da er meist zu spritig ist.“

Im Grunde jedoch, so Ebert, sei der Sidecar einer dieser Drinks, die sich bestens dafür eignen, auch dort getrunken zu werden, wo angesichts des ersten Eindruckes an der Bar Zweifel bestehen. „Es ist eigentlich schwer, den Drink komplett zu versauen, da verhält er sich ein wenig wie ein Negroni. Ich kann mich auch an Sidecar-Mischungen zu gleichen Teilen erinnern, die wunderbar funktioniert haben. Ob 2:1:1 oder 3:1:1, ein Sidecar ist eigentlich immer ganz gut trinkbar.“

Vielleicht hat ja deswegen mein Gast damals einen Sidecar bestellt. Weil er sich dachte, den könne der Typ hinter dem Tresen ja wohl nicht verhauen. Gesehen habe ich ihn jedenfalls nie wieder, aber so ist es nunmal: Wir lernen oft von Menschen, denen wir nur einmal begegnen. Gerade hinter der Bar. Der Sidecar konnte jedenfalls nichts dafür.

Der vorliegende Text erschien erstmals in der Ausgabe 1/2017 von MIXOLOGY, dem Magazin für Barkultur. 

Credits

Foto: Tim Klöcker

Comments (1)

Kommentieren