Sieben Fakten zur Barkarte
Die Getränkekarte ist eine aus historischer Sicht relativ junge Erfindung. Dennoch ist sie in den meisten Fällen aus keiner Bar wegzudenken. Warum führen Bars überhaupt eine Karte? Was spricht dagegen? Und wie lässt man aus der schnöden Preisliste ein echtes Kleinod werden? Stefan Adrian hat gesucht — und gefunden.
Sie wird dem Gast als eleganter Ledereinband übergeben, oder als verschmiertes, laminiertes Plastik. Sie kann eine wunderbare Geschichte erzählen, oder einen schlechten Witz. Sie bringt neue Inspiration für den Gaumen, oder verschafft nur neue Ideen zur Flucht. Sie kann sich in Luft auflösen und in Form eines Menschen auftauchen, der behauptet: “Ich bin die Karte!” Eine Barkarte hat viele Formen, Aussehen und Inhalte. Sie verrät vieles über die Bar, in der man sich aufhält, um nicht zu sagen: das meiste. Sieben Betrachtungen zu einem Objekt, das zwischen einem Dasein als Freund und Feind oszilliert.
1) Seit wann gibt es Barkarten?
Eine genaue Datierung ist in diesem Fall kaum möglich. Barkarten und Getränkekarten entwickelten sich mit den Veränderungen in der Gastronomie, in der es lange Zeit keine Trennung zwischen Orten des Essens und des Trinkens gab. Das Wort “Menu” leitet sich vom Lateinischen “minutus” ab und bezeichnet etwas, das in kleinem Rahmen hergestellt wird. Die ersten Menüs, die dem Konsumenten eine Auswahl ermöglichten, wurden auf eine Kreidetafel geschrieben. Moderne Menüs tauchten erstmals in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich auf.
In den USA, der Wiege der Barkultur, waren Bars oft Bestandteil eines Hotels. Karten wie jene aus dem Mart Ackerman’s Saloon in Toronto aus dem Jahre 1856 müssten jedem Cocktail-Freund und Hobby-Forscher das Herz aufgehen lassen. Darauf zu finden sind die für die damalige Zeit typischen Punches (u.a. Brandy Punch, Wide Awake Punch, sowie der Mint Julip oder der Ladies’ Fancy Julep und somit mit unterschiedlicher Schreibweise verwendet), Cobblers (Grand Trunk Cobbler, Napoleon’s Own Cobbler, Siberian Cobbler, Port Wine Cobbler) sowie die Rubrik Diverses mit Gin Smash, Cocktail à la mode, Omar Pasha Cocktail oder Dr. Green’s Anti-Dyspeptic Bitters. Ein seltenes Exponat aus einer Zeit, in der Jerry Thomas noch kein Buch veröffentlicht hatte.
2) Was ist die Funktion einer Barkarte?
Eine bekannte Weisheit ist jene, dass es sich bei der Barkarte um die Visitenkarte einer Bar handelt. Das sieht heute nicht mehr jeder so, aber Fakt ist, dass sie ein wichtiger Bestandteil des „Triumvirats“ einer Bar ist: Personal, Interieur, Karte. Diese Punkte bilden das Triangel, in dem sich der Gast wohlfühlt — oder eben nicht. Die Barkarte ist der letzte dieser drei Faktoren, mit der er dabei in Berührung kommt. Er betritt zuerst den Raum und spürt die allgemeine Atmosphäre. Er wird vom Personal begrüßt und macht sich ein Bild der Menschen, denen er sein Geld anvertraut. Er bekommt schließlich die Karte vorgelegt und überschaut das Angebot.
Ein wesentlicher Faktor schwingt beim Betrachten der Karte bereits mit: der Stil der Bar. Die Karte ist ihr verlängerter Arm. Ist die visuelle Sprache der Karte klassisch und schlicht? Dann passt wahrscheinlich auch die gediegene Hintergrundmusik. Knallen einem auf der Karte ein paar Pistolen aus der Tequila-Abteilung entgegen? Dann wird es lauter zugehen. So, wie ein Kleidungsstil vieles über den Träger verrät, verrät die Karte sehr viel über die Bar.
3) Was muss auf einer Barkarte rechtlich zu finden sein?
Die deutschen Lebensmittelbestimmungen sind bekanntermaßen streng, und das betrifft natürlich auch die Getränkekarten. Die Kennzeichnungspflicht verwendeter Inhaltsstoffe kann manchem Barbetreiber beim Überarbeiten einer Karte dementsprechend den Schweiß auf die Stirn treiben. Schon wer eine Olive in einen Drink fallen lässt und das nicht mit dem Zusatz „geschwärzt“ (weil Eisengluconat) ausweist, dem kann theoretisch auf die Finger geklopft werden. Des weiteren ergeben Kennzeichnungen wie „mit Farbstoff”, „koffeinhaltig” oder „chininhaltig”, für die meist Nummern vergeben werden, muntere Zahlenkolonnen in der Barkarte. Alleine eine Cola Light bringt es auf beachtliche vier Ausweisungen (koffeinhaltig, mit Farbstoff, mit Aspartam, mit Süßungsmittel).
Die Berliner Veterinär- und Lebensmittelaufsicht, die für die Kontrollen in Berlin verantwortlich ist, lässt sich jedoch nicht lumpen, in ihrem Merkblatt ihre fachliche Spirituosen-Kompetenz zu beweisen: „Southern Comfort ist ein Likör und kein Whisky.” heißt es da. Oder auch: “Metaxa ist eine griechische Spirituose und darf nicht in der Rubrik Weinbrand, Brandy oder Cognac aufgeführt werden.” Ein Schalk, wer annimmt, eine großflächige Überprüfung in der Praxis würde für ein heilloses Durcheinander in der Gastronomie der Hauptstadt sorgen.
4) Noch ein Grund mehr, auf Barkarten zu verzichten, wie es immer häufiger der Fall ist. Was spricht dafür?
Ob der Grund für den Verzicht ist, sich in der Tradition einer Speakeasy-Bar zu bewegen, oder die persönliche Vorliebe der Betreiber: Eine Bar, die nur über Beratung und Befragung des Gastes funktioniert, muss sich um des erhöhten Kommunikationsfaktors zwischen Gast und Bartender bewusst sein. Wortkarge Zauberer haben es da schwer. Keine Karte zu haben, verspricht in den meisten Fällen einen intimen Rahmen, da eine Bar dieser Art eine gewisse Größe meist nicht übersteigen kann – und will.
Der sofortige, direkte Kontakt mit dem Gast ersetzt die alte Gastro-Regel “Erstmal die Karte hinlegen und Zeit gewinnen”. Man kann den Gast direkt nach seinen Vorlieben befragen, und niemand wird durch falsche Vorstellungen in die Irre geleitet: Keine überraschten Augen mehr, weil statt des erwarteten Longdrink-Glases mit viel Eis eine Cocktail-Schale auf den Tisch drapiert wird. Was nicht aufgeschrieben wird, kann auch nicht im Nirvana von Seite 27 verloren gehen, da kaum jemand die Nerven besitzt, so weit zu blättern. Last but not least: Niemand kann die Barkarten als Andenken klauen.
5) Und was spricht weiterhin dafür, eine Karte zu verwenden?
Viele Gründe. Nicht jeder Gast will sofort in einen ausführlichen Dialog über seine Geschmacksvorlieben treten oder ausgehorcht werden. Vor allem solche, die sich durch Fragestellungen leicht verunsichert fühlen bzw. in einer mangelndem Kenntnis der Materie ertappt, wollen ihr Getränk möglicherweise lieber in Ruhe aussuchen. Erzählt man schließlich von seinen Vorlieben, könnte das zur Folge haben, dass man sich vielleicht einem geringerem Wagemut in der Entdeckung hingibt.
Wie bereits erwähnt, kann dem Gast durch eine Barkarte die Richtung gezeigt werden, in den für ihn die Reise an diesem Abend geht, und mit welcher Sorte Gastgeber er es zu tun hat. Eine Barkarte ist eine Spielwiese voller Möglichkeiten, sei es im Design, im Inhalt oder in den Formulierungen.
Steht auf der Karte ein Cocktail mit den Zutaten Rye und Grey Goose, der sich “Ryen Gooseling“ nennt, ist das möglicherweise ein Fingerzeig, dass hier mit Augenzwinkern gearbeitet wird. Karten, die sich laufend ändern, zeigen schließlich eine konsequente Weiterentwicklung des Gesamtproduktes. Die Artesian Bar in London, vielfach als beste Bar der Welt ausgezeichnet, hatte nach der Preisvergabe nichts besseres zu tun, als ihre preisgekrönte Karte auseinander zu pflücken und für 85.000 £ neu zu entwickeln.
Und dann gibt es noch einen Grund, den man nicht vergessen sollte: Der Gast kann durch eine Karte sein Budget der Nacht verwalten. Er weiß schlicht und ergreifend, wie viel das Getränk kostet. Das mag für manche Einrichtungen aufgrund der Lage und Ausrichtung des Klientels kein Faktor sein, für die meisten ist es das aber doch. Und nichts ist schlimmer, als einen guten Bar-Abend mit der Frage an den Bartender abzuschließen, ob sich mit dem restlichen „Zehner“ noch ein Getränk bestellen lässt.
6) Ja, was denn nun – Barkarte ja oder nein?
Die Frage einer Karte ist eine Frage der Philosophie, wie man seine Bar betreiben möchte. Eine Barkarte kann und soll den Gast an der Hand nehmen. Sie kann ihn in ein Reich führen, von dem er nicht wusste, dass er es betreten wollte. Sie kann helfen, neue Geschmäcker zu erschließen und Grenzen zu verschieben. Der Gast kann sich beim Studieren der Karte in aller Ruhe in die Kammer seiner Experimentierfreude zurück ziehen und dann bestellen.
Sie kann aber auch vor den Kopf stoßen. Vermutlich jeder Bartender kennt den verwirrten oder erschöpften Blick eines Gastes, der nach der siebten Seite nicht mehr weiß, was er liest, und dem die Namen der Zutaten und Ingredienzen so sehr im Kopf herumschwirren, dass er die Karte beiseite legt wie ein Rosamunde Pilcher-Buch, in dem er versehentlich im Wartezimmer eines Arztes geblättert hat – und einen Gin & Tonic bestellt. Das kennt er schließlich.
Die Folge sind Überforderung und Gereiztheit statt Überlegung und Gelassenheit. Vielleicht sollte man an dieser Stelle das Rad nicht neu erfinden und gute alte Basics anwenden: die Kombination aus Karte und persönlicher Beratung.
7) Etwas Inspiration für Kartendesign gefällig?
Außerdem ist noch genügend Raum nach oben, sich durch einfallsreiche Barkarten in der Historie zu verewigen, vor allem in Deutschland. Hier stand bis zum Ende der 1970er Jahre teilweise auf allen Hotel-Barkarten fast das gleiche, wie in der sehr lesenswerten Zeitreise von Franz Brandl zu lesen ist, die an dieser Stelle vor einigen Jahren erschien und auf die gerne nochmal verwiesen werden soll. Unter der Berücksichtigung, dass erst 1974 mit der „Harry’s New York Bar“ in München die erste echte American Bar in Deutschland eröffnet wurde, die an kein größeres Haus angeschlossen war, sieht man, wie relativ jung gehobene Barkultur in den Ländern der Gasthäuser, Wirtshäuser, Heurigen und Buschenschanken tatsächlich ist.
An dieser Stelle haben wir einige nationale und internationale Beispiele für einen kleinen Querschnitt des zeitgenössischen Kartenwesens zusammen gestellt. Fragrances, Berlin, Goldene Bar, München, Seiberts, Köln, Death & Co., New York, The Nightjar, London oder The Dead Rabbit, New York. Diese Beispiele zeigen uns allesamt, dass die Barkarte ein kleines, identitätsstiftendes Kunstwerk sein kann. Also viel mehr, als nur eine schnöde Preisliste.