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Tel Aviv

Bedrohtes Trinken

Im Spicehaus in Tel Aviv wird getrunken und gefeiert. Doch an manchen Orten ist die Gefahr eben ein ständiger Begleiter. Wie in Tel Aviv, wo eine der besten Cocktailbars zeigt, dass Avantgarde tatsächlich auch im Spaß leben kann.

Das Berliner Nachleben. Freitag abends bis Sonntag mittags zehntausende Menschen auf gewinnbringender Flucht vor dem, was die Alltäglichen gemeinhin als Alltag bezeichnen. Man stelle sich dieses Berliner Nachtleben vor, und man stelle es sich bedroht vor. Jedes Wochenende, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde bedroht. Bedroht von einer Personenschaft, die diesem Nachtleben mit Sprengstoffgürteln ein Ende setzen will.

Keine Hauptstadt, aber kreatives Haupt

Willkommen in Tel Aviv, der israelischen Metropole des schnellen Lebenswandels und der Freizügigkeit. Tel Aviv, fälschlicherweise selbst in Qualitätsmedien oft als Hauptstadt Israels bezeichnet, hat ein pulsierendes Nachtleben, das jenem von Berlin gleicht. Nur eben ohne Billigflieger-Touristen, die sich für wenig Geld bewusstlos machen. Tourismus allerdings prägt sehr wohl auch die Bar- und Clubszene des größten Ballungszentrums des Landes. Es handelt sich bei diesem Tourismus jedoch um israelischen Tourismus, um Zureisende aus dem Land selbst, das gerade mal ein wenig größer als Hessen ist. Soll heißen: Maximal drei Stunden Autofahrt sind nötig und man steht inmitten pulsierenden Lebens.
Freilich: Es hat seit den Nullerjahren keine Anschläge mehr auf das Tel-Aviver-Nachtleben gegeben (Anschläge in Tel Aviv aber sehr wohl). Damals jedoch gab es eine Serie von Terrortaten, die nur ein Ziel hatten: die Feierlaune der Israelis zu zerstören. Man kann hier nun in die politische Diskussion eintreten, inwieweit es gerecht ist, dass Israelis feiern, währenddessen in dreistündiger Autoweite das palästinensische Volk unterdrückt wird – diese Sichtweise findet man sehr oft in Europa, vor allem in Deutschland. Aber das hier ist das falsche Magazin für diesen Diskurs. Tatsache bleibt, dass in den Clubs und Bars von Tel Aviv auch palästinensische Personenschaften Zugang bekommen, meist Araber, die in Israel leben und die israelische Staatsbürgerschaft besitzen. Von jenen gibt es viel mehr, als man gemeinhin annimmt. Sie müssen sich am Eingang lediglich – wie alle anderen auch – den verständlicherweise rigiden Sicherheitskontrollen unterziehen, die vor allem in den Clubs seit den Anschlägen der Nullerjahre zum Alltag gehören. Die Barszene ist dagegen relativ „barrierefrei“.

Wider den Fundamentalismus!

Und es ist eine Barszene, von der man sich in Berlin und andernorts einiges abschauen kann. Vor allem den Zugang zur Cocktailkultur, der ähnlich ernsthaft, aber selten so fundamentalistisch ist. Dieser Mangel an Fundamentalismus, der in Berlin oft moralinsauer daherkommt, ist dem Süden zuzuschreiben, dem Leichtlebigen, das den Alltag der hier Feiernden prägt. Mag sein, dass der Barmensch ein paar neue Cocktails parat hat, man will mit ihm jedoch nur kurz über Ingredienzien und Herstellung reden, vor allem, weil man die Leistung zu würdigen hat, dann aber schnell zum Wesentlichen übergehen: zur Frage, wer wo auflegt und wer mit wem in die Kiste steigt. Das wird an warmen Tagen (und das sind in Tel Aviv mehr als siebzig Prozent der Tage) meist am nahen Strand entschieden, wo schon mal Soldatinnen und Soldaten, die noch in Uniform feiern gegangen sind, ihre Militärkleidung ablegen und entweder nackt oder in mitgebrachtem Badezeug ins Mittelmeer steigen, um sich dort vom Salzwasser tragen zu lassen. Vor Augen eine erleuchtete Skyline; in den Ohren das Wummern der Bässe, das sich hier im Wasser zu einem Lebensrauschen zusammenfindet. Hier, nachts im Meer, werden Tel Aviv und sein Nachtleben zum unvergesslichen, singuläreren Erlebnis.

Nackte Soldaten und Kiffende Rabbis

Kreativität ist die Mentalität und die Stärke Israels. Sie durchzieht alle Bereiche. Vom Militär bis zur Gastroszene. Kein Volk hat mehr Freude an der Interpretation als die Israelis. Das geht sogar (und kam von dort) bis ins Religiöse: In Tel Aviv findet man heute sogar Rabbiner, die den Genuss von Cannabis mit dem Judentum in positive Übereinstimmung bringen können. Diese (es sind dann freilich wenige) Rabbiner trifft man auch im Nachtleben wieder – als eifrige Clubgeher. Kreativität aus Interpretation: Das bestimmt selbstredend auch die Tel-Aviver-Barszene, deren Protagonisten sich an London, New-York und freilich auch Berlin orientieren, das von dort Mitgebrachte jedoch vor Ort sofort einem eigenen Zugang unterwerfen, der das Internationale mit dem Regionalen in Zusammenhang bringt, dieses Regionale aber als Eigentliches der Welt begreift.
Der Ort, wo dies am Nachdrücklichsten und Merkbarsten geschieht, ist das Spicehaus nahe der Yehuda Hayamit Street, die direkt zum Hafen führt, wo man im The old Man and the Sea essen sollte – alleine wegen des Meeresblicks. Das Spicehaus nimmt das ganze Erdgeschoß und fast den kompletten Gehsteig eines eher hässlichen Wohngebäudes ein. Der Laden war vor ein paar Jahren die erste Pharmacy-Cocktail-Bar Israels und ist seitdem die Anlaufstelle für jene jener Klientel, die es unentwegt nach Neuem und Unbekanntem dürstet.

Das Hässliche im Zeitgemäßen

Das Haus mag hässlich sein, die Bar hingegen ist sehr schön. Große, oft unterteile Fenster, eine mehrfach bogenförmige Holzverkleidung mit Abstellflächen und eine Art Tresen aus Mahagoni, an den man sich anlehnen kann, mehr nicht – die meisten Menschen hier sitzen an Tischen. Das Interieur ist nicht hundertprozentig bargemäß; es gehörte früher zur East-Jaffa-Perfume-Company, wie es auch auf den Lettern über dem Eingang steht. Quasi ein besetzter Laden; Improvisation und Interpretation. Ob das mit der Perfume-Company ein gutes Fake ist, kann (oder will) keiner sagen.
Frei von jeder Improvisation sind hingegen alle Cocktails, deren ernsthafter Fertigung man zusehen kann. Und man sieht gerne zu. Die gegenwärtigen Signatures heißen „The Thing“ (Gin, Ingwer, Mandarine, Himbeere, Ginger-Beer) oder „Istanbul“ (eigener Zitrusvodka, Lychee, Rose, Oleo Saccharum), aber das können schon nächste Woche völlig andere Drinks sein. Je nach Laune jener Leute, die das Trinken hier denken.

Das Spicehaus bringt Tel Aviv und Berlin zusammen

Für Berliner Gemüter mag manches hier unangenehm kitschig sein. Etwa Drinks, die in einem Plastik-Totenkopf serviert werden. Oder in einer überdimensionierten Plastikspritze. Das freut vor allem das mitunter sehr junge Publikum, das glamourmäßig gestylt ordentlich Lärm macht. In Berlin, ja selbst in München, würde man das Spicehaus zum Teil des Ballermanns erklären. Aber das hier ist eben eine andere Welt, in der Ballermann auch eine andere Bedeutung hat. Bombenstimmung.
Das Wesentliche am Spicehaus ist das Selbstgemachte, das Angesetzte, das duftig Kräutrige, die Berge Südfrüchte, das Orange, die Gerüche in der Bar – selten riecht ein Lokal so sehr nach Süden wie es das Spicehaus tut. Und wer sich jetzt wundert, warum da „haus“ statt „house“ steht, der wird zu hören bekommen, dass die Leute vom Spicehaus schon sehr oft in Berlin waren. Und dass man mit deutschen Worten keine Probleme hat. Schon alleine wegen der vielen deutschen Juden, die auf ihrer Flucht in Tel Aviv eine neue Heimat gefunden haben. Einige von jenen leben heute noch. Und stehen manchmal abends am Hafen, den Blick nach Europa gerichtet.

Hinweis: Der vorliegende Text erschien erstmals in leicht anderer Form in der Ausgabe 6/2017 von MIXOLOGY, dem Magazin für Barkultur. Informationen zu einem Abonnement gibt es hier.

Credits

Foto: Shutterstock

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