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Steins steter Tropfen: Balance in Drinks

Steins steter Tropfen: Gleichgewichtsprobleme oder die Sache von zu viel Balance in Drinks

Im neuen Teil seiner Kolumne wagt Martin Stein eine provokante These: Balancierte Drinks mit perfekt aufeinander abgestimmten Zutaten können höchstens mittelmäßig schmecken. Wer richtig gut sein will, muss lernen, unbalancierte Drinks zu machen. Die eigentliche Schwierigkeit ist es nur, genau im richtigen Maß aus der Balance zu kommen.

Es gibt Begriffe, die sich großartig dafür eignen, Small Talk mit Fremden zu betreiben, weil sie wichtig klingen, weil jeder irgendwie ein bisschen was dazu sagen kann, und weil man letztlich nicht wirklich Ahnung davon haben muss. Beispiele? Waldorfpädagogik. Adorno. Kubismus. Abseits. Ungesättigte Fettsäuren.

Mein Lieblingsbegriff in mixologischer Hinsicht ist dabei der sogenannte „balancierte Drink“. Das kleine Einmaleins für angehende Bartender: Wasch dich, zieh dir ein sauberes Hemd an, sieh zu, dass deine Drinks schön balanciert sind.

Inhaltsleere Begrifflichkeiten

Tja. Klingt irgendwie recht schlüssig, aber vor meinem inneren Auge erscheint Morgan Freeman in „Die Verurteilten“ vor dem Bewährungsausschuss und sagt: „Ich will’s mal so sagen: Ich habe keine Vorstellung, was das bedeutet.“ Der Spätsokratiker Morgan Freeman benötigte 40 Jahre im Shawshank-Gefängnis, um herauszufinden, dass manche Begriffe gut klingen, aber dennoch ziemlich inhaltsleer sind, auch wenn er dabei sicher nicht an balancierte Drinks dachte.

Man hat halt eine ungefähre Vorstellung davon, was damit gemeint sein könnte, und wenn man jetzt für einen Whiskey Sour ein Mischverhältnis von 5:3:1 annähme, dann ist fast jedem klar, dass mit der Fünf nicht der Zucker gemeint ist. Damit hat es sich dann aber schon mit der Einigkeit, und gerade der Whiskey Sour ist ja gerne Gegenstand intensiver Debatten ob seiner Proportionen.

Natürlich ist die Frage des Gleichgewichts in einem Drink nicht unwichtig, aber es geht meiner Ansicht nach eher in die Richtung Koch-Lehrling, der die Suppe nicht versalzen soll. Ich will mal eine provokante These wagen: Tatsächlich balancierte Drinks, mit perfekt aufeinander abgestimmten Zutaten, können höchstens mittelmäßig schmecken. Wer richtig gut sein will, muss lernen, unbalancierte Drinks zu machen. Die eigentliche Schwierigkeit ist es nur, genau im richtigen Maß aus der Balance zu kommen. Man will ja nicht umfallen.

Bloß nix Unbalanciertes präsentieren!

Das Biotop, in dem der balancierte Drink am Besten gedeiht, ist die Cocktail-Challenge; standardmäßig wird da ja auch die Balance bewertet, was letztlich dazu führt, dass man reihenweise Drinks vorfindet, die schmecken wie der Sofabezug von Tante Hedwig: eine in sich stimmige Assemblage von Brauntönen. Bloß nix Unbalanciertes präsentieren! Die Forderung nach Balance bietet die Grundlage für Festspiele der Mutlosigkeit.

Zum Einen muss klar sein, dass Balance an sich keine Wertigkeit besitzt. Ein Hamburger von McDonald’s ist eine extrem balancierte Angelegenheit; professionelle Sensoriker tüftelten jahrzehntelang an der perfekten Patty-Brötchen-Soße-Gürkchen-Ratio und der idealen Grillsekunde – und trotzdem schmeckt das Ergebnis scheiße. Balancierte Scheiße eben.

Zum Anderen müssen wir uns ein wenig in die (Küchen-)Philosophie hinauswagen. Es ist nämlich ein traditioneller Trugschluss, dass der Mensch nach Symmetrie und Balance verlangt. Der Mensch meint vielleicht, dass er das tut, aber die Heerscharen von bis zur Belanglosigkeit operierten Gesichtern geben Zeugnis von der Erfolglosigkeit dieses Strebens. Dahinter steckt die Scheinsymmetrie des menschlichen Gesichts, wobei tatsächlich kein Gesicht wirklich symmetrisch ist – und das ist auch gut so. Wir sind unterbewusst damit vertraut, dass es hier und da einen Millimeter Unterschied zwischen links und rechts gibt und wollen das auch nicht anders. In einer Versuchsreihe zur Wirkung von Schönheit hat ein Forscherteam Probanden Bilder von Menschen vorgelegt, die mittels Computer anhand ihrer Mittelachse gespiegelt und demzufolge perfekt symmetrisch waren – diese Perfektion wurde ausnahmslos als unschön, gar abstoßend oder unheimlich betrachtet.

Ich glaube nun tatsächlich, dass sich diese Abneigung gegenüber dem allzu Perfekten (ja, Hyperlativ, ich weiß) verallgemeinern lässt. Ich glaube, dass die Menschen mit dem perfekten Partner die ersten sind, die fremdgehen. Ich glaube, dass ein perfektes Leben ein guter Grund ist, um über Selbstmord nachzudenken. Und ich glaube, dass man sich mit perfekt balancierten Drinks ordentlich den Abend versaut. Gut für den Magen sind die bestimmt auch nicht.

Mehr Tom Hardy als Zac Efron

Im Leben habe ich noch keinen balancierten Drink gemacht, und das liegt nicht (ausschließlich) am Unvermögen. Die Drinks, die mich in den letzten Jahren von anderen begeistert haben, waren auch nicht balanciert, jedenfalls nicht nach meinem Verständnis. Sie hatten Ecken und Kanten und Charakter, sie waren mehr Sophia Loren als Claudia Schiffer, mehr Tom Hardy als Zac Efron.

Erst kürzlich durfte ich da eine ganz herausragende Erfahrung machen: das Dead End Paradise in Beirut, dem Jad Ballout mittlerweile auch eine Filiale in Barcelona beigesellt hat, mit seiner unangestrengten Fusion aus Tiki plus Naher Osten plus Asien, bietet Drinks, die perfekt sind wie der Fünfsaiter von Keith Richards in der offenen Stimmung. Just Fun, No Bullshit als Motto der Bar trifft tatsächlich auf jeden einzelnen der Drinks zu; eine Freude, sich da hindurchzuprobieren.

Das begehrte Cocktail-Tier mit der besonderen Fehlfarbe findet sich manchmal aber auch vor der eigenen Haustür: die meiner Ansicht nach besten und spannendsten Drinks meiner Heimatstadt Regensburg bastelt gerade Sanchez Meier in der Barock Bar, und ich überantworte mich mittlerweile blind seinen Kreationen. Neuester Favorit dort ist der „Mon Dieu“, eine fröhliche Mischung aus Cognac, Rum, St. Germain, Verjus, Salz und Säure, die trotz des furchtbaren Namens zu meinen Lieblingen gehört. Regensburg mit seinen mittelalterlichen Häusern und den vielen Wohnungen ohne jeden rechten Winkel zeigt, worauf es ankommt: Man kann ein Bild mit der Wasserwaage aufhängen – oder so, dass es gerade aussieht. Auf der Suche nach dem gefühlten rechten Winkel: Sanchez Meier ist Ihr Mann.

Die Frage der Balance darf nie zu einem Wettbewerb um den kleinsten gemeinsamen Nenner werden, ansonsten erhält man eben auch nur ein Bud Light in der Coupette.

Es ist manchmal wirklich ein Treppenwitz: Da werden mit erlesensten Zutaten und ausgefeiltesten Techniken außergewöhnliche Ingredienzien geschaffen, denen dann, im nächsten Arbeitsschritt, alle Eigenheiten abgeschmirgelt werden, um nur ja dem Wunsch nach Balance zu entsprechen. Wie beim erwähnten Hamburger: Wir haben das Wagyu-Beef, und dann hauen wir es auf den Grill und braten es gründlich durch.

Geht es dabei wirklich nur um die Interpretationsfrage, was denn Balance eigentlich bedeutet? Klar, das ist wie bei den meisten Religionen; obwohl es in der Regel von ganz ganz oben ein dickes Buch als Anleitung gibt, versteht jeder etwas anderes darunter; im schlimmsten Fall ist es eben auch nur ein billiges Schlagwort mehr, das dann auf dem Cocktail klebt wie auf auf dem Supermarkt-Jogurt: CO2-neutral, nachhaltig, anti-rassistisch, energieeffizient, balanciert.

Der balancierte Drink ist eine unflexible Angelegenheit

In der Praxis sehe ich in den Bars aber tatsächlich oft die Angst vor dem Besonderen, vor dem, was hervorsticht, wobei es doch gerade die markanten Merkmale sind, die dafür sorgen, dass das Endprodukt herausragt. Es ist im Grunde egal, wie man es begründet: Fibonacci, Goldener Schnitt, persischer Webfehler oder die Oma, wenn sie beim Würzen ihrer Speisen die Heisenbergsche Unschärferelation aktiv interpretiert – alles Großartige, behaupte ich mal, befindet sich ein bisschen abseits der Lotrechten. Das eigentlich Schwierige ist nur die Frage, wie weit genau. Das ist tatsächlich – tata, Pun intended – ein Balanceakt.

Der balancierte Drink ist ja auch eine ganz unflexible Angelegenheit, weil er immer gleich gleichmäßig ist. Die Rücksichtnahme darauf, ob jemand gerne trocken, süß oder sauer trinkt, ob es der erste Drink des Abends ist oder der vierte, muss hinter der Diktat der Balance zurückstehen. Möglicherweise vermeidet man so zwar leichter Qualitätsschwankungen, aber man beraubt den Drink auch seiner Vielseitigkeit. Letzter Hamburger-Vergleich: es ist bei einem Drink kein Qualitätsmerkmal, dass er in jeder Bar auf jedem Kontinent in jeder Stadt und jedem Land immer exakt gleich schmeckt.

Ich habe keine Ahnung, ob sich diejenigen, die weltweit die Besten darin sind, genau die richtigen zwei Millimeter links oder rechts der Lotrechten zu mixen, ihres Talents überhaupt bewusst sind. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Vieles kann man ja auch lernen, aber nur, wenn man sich von vorneherein darüber klar ist, dass man vielleicht auch mal daneben zielen muss, um ins Schwarze zu treffen.

Also mal die Oma nach ihren Rezepten fragen. Oder Charles Schumann. Und damit leben lernen, wenn die Antwort „nach Gefühl“ lautet.

Credits

Foto: leremy - stock.adobe.com; Bearbeitung: Editienne

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