Steins steter Tropfen: Die Flucht vor dem Milk Punch hat begonnen
Unser Autor Martin Stein ist ein Cocktailreisender, der seine Zeit am liebsten in Bars verbringt. In seiner Serie „Steins steter Tropfen“ geht es um gute Getränke und Gedanken, die sie verbinden. Es geht um Beobachtungen von unterwegs und Betrachtungen von der anderen Seite des Tresens. Diesmal fordert er Mäßigung mit dem Milk Punch, denn: genug ist genug!
Nur zuviel ist genug, sprach einst der Maler Francis Bacon, und ähnliches hörte man beizeiten auch von Dschingis Khan oder Uli Hoeneß. So entstehen Weltreiche und Gefängnisaufenthalte. Mehr, immer mehr, ist die Devise.
Andererseits ließen sich Bedienstete in Neu-England früher vertraglich zusichern, nicht mehr als zweimal pro Woche Hummer essen zu müssen; die hatten also ganz definitiv zu viel vom genug, und wenn man ihnen damals gesagt hätte, welche Delikatesse künftiger Zeiten sie da naserümpfend verschmähten, dann hätten sie vermutlich gesagt, dass ihnen das trotzdem furzegal wäre und sie den Scheiss einfach nicht mehr sehen könnten.
Wohlgeschmack scheint also durchaus im Zusammenhang mit der Häufigkeit des Genusses zu stehen, wie sich an diesem Beispiel deutlich zeigt. Wer sich mal drei Wochen von Kaviar ernähren muss, der wird gerne mal einen vierstelligen Betrag für eine Leberkäsesemmel lockermachen. Und was Francis Bacon angeht: Der starb 1992, weshalb er, obwohl er soff wie ein Bürstenbinder, seine eigene Aussage vermutlich nicht am Milk Punch erproben konnte.
Der Milk Punch ist überall
Vielleicht hätte er es sich dann doch anders überlegt. Ein paar Wochen intensiven Erlebens unserer aktuellen Cocktail-Szene, und er hätte möglicherweise gesagt: Dankeschön, aber jetzt langt’s mir. Könnte ich vielleicht einen Fernet haben? Der Mensch will also nicht dauernd Hummer essen, und schon gleich nicht Kaviar von früh bis spät, und eventuell, ganz vielleicht, will er auch nicht mit Cocktail-Menüs konfrontiert werden, in denen der Milk Punch wuchert wie der schwarze Schimmel in einer WG von Maschinenbau-Studenten.
Die Technik der Milchklärung ist zwar schon uralt; Reinhard Pohorec erwähnt in seinem Artikel zum Thema ein Rezept von 1711, und wenn eine Küchentechnik so lange überdauert, dann wird schon was dran sein. Das ähnlich alte Hirschohrfrikassee zum Beispiel findet sich kaum mehr auf irgendwelchen Speiseplänen wieder. Die Zeit hat ihr Urteil gesprochen.
Also, nichts gegen den Milk Punch, so grundsätzlich. Andererseits würde ich mir auch gerne in meinen Arbeitsvertrag reinschreiben lassen, dass ich höchstens zweimal in der Woche einen trinken muss. Aber das wird schwierig. Der Milk Punch ist mittlerweile ubiquitär wie die Süßkartoffelpommes beim Burgerbrater, und, mal ehrlich, ungefähr genauso innovativ.
Da wird geklärt, was nicht bei drei auf dem Baum ist, weil, na ja, keine Ahnung. Weil man, wenn man das Sieb und die Vollmilch schon mal rausgeräumt hat, dann auch gleich die gesamte Backbar durchlaufen lassen kann? Oder ist einfach die Versuchung zu groß, mit einer scheinbar – ich wiederhole: scheinbar – simplen Technik sein Getränkeangebot gleich mal zwei Stufen aufzuwerten, wie seinerzeit den Joghurt mit den rechtsdrehenden Milchsäurebakterien? Es scheint kein Halten mehr zu geben. Wenn man schon dabei ist: Warum nicht auch gleich Klares klären? Das kann doch den wahren Afficionado nicht erschüttern. Bestimmt gibt’s auch irgendwo schon die ersten Milk-Punch-Martinis. Milk-Punch-Old-Fashioneds. Oder im Gegenzug dann auch gleich eine Milk-Punch-Pina-Colada. Wenn schon, denn schon.
Try to unthink … that!
Die Grundaussage des Milk Punchs ist Folgende: „Ich kann mir zwar keinen Rotovap leisten, aber ich bin trotzdem fancy.“ Süßkartoffel-fancy halt. Nochmal: schon eine coole Technik, so an sich, aber eben ein bisschen zu einladend in seiner vordergründigen Einfachheit, und das führt dazu, dass für viele der Milk Punch als Anweisung missverstanden wird, mit Milch zu panschen.
Und: Natürlich verändert auch der gelungene Milk Punch nicht nur die Optik und das Mundgefühl, sondern auch den Geschmack, wenn auch nur subtil. Aber da kommt’s wieder auf die Häufigkeit an: Wenn man in einer Woche gefühlte 90% Milk Punches vorgesetzt bekommt, dann wird man da sensibel, man könnte auch sagen, ein kleines bisschen allergisch.
Irgendwann geht einem dieses spezielle kleine Geschmäcklein nicht mehr aus der Nase; es setzt sich fest, fast schon in der Kleidung, und es geht dann auch ganz schwer wieder weg. Man riecht irgendwann Milk Punch auch ganz ohne Milk Punch. Soll ich Ihnen eine Assoziation verpassen, die wiederum Sie nur noch ganz schwer aus Ihrem Kopf bekommen werden? Bitte schön, hier meine Tasting Notes zum typischen Milk Punch: das Säuerliche, der Hauch von Milch … es ist schlicht nicht zu ignorieren. Eine, wenn nicht DIE prägende Charakteristik beim Genuss ist definitiv „Anklang von Babykotze“.
So, try to unthink that. Gern geschehen. Machen Sie aber da auch gerne mal die Gegenprobe, spazieren über die Neugeborenenstation eines Krankenhauses, schließen die Augen und denken an den letzten Barbesuch. Tief einatmen. Genau.
Na ja, Babykotze ist immer noch angenehmer als die klassische Sonntag-Morgen-Pfütze aus Döner, Oetinger und Jägermeister, und in Zeiten, in denen sich Naturwein-Enthusiasten über eigentliche Fehlaromen wie nasser Hund und Pferdeurin begeistern können, mag man auch in dieser Richtung aufgeschlossener werden. Aber eben doch nicht immer und dauernd und permanent! Kein Glas, keine Coupette, keine Nick & Nora mehr ohne Milk Punch, so schaut’s doch aus! Man muss das so bitter formulieren: der Milk Punch ist das Maggi der modernen Mixologie.
Mäßigung mit dem Milk Punch, bitte!
Wie wohl unsere originären Milk Punch Boys das Phänomen beurteilen, das sie ja ganz maßgeblich mit losgetreten haben? Freuen sie sich über den Erfolg, oder ist es für sie auch ein ganz persönliches Manhattan Project, das ungeahnte Gefahren in die Welt gesetzt hat? Haben sie manchmal das Gefühl, Pandoras Tetrapak geöffnet zu haben? Trinken sie selbst mittlerweile heimlich nur noch Hefeweizen? Wie ist das, wenn man die Bibel geschrieben hat, aber die Interpretation und praktische Umsetzung dann durch Gloria von Thurn und Taxis erfolgt?
Einstweilen scheint der Siegeszug des Milk Punch unaufhaltsam, und seine Derivate verbreiten sich schneller über den Planeten als seinerzeit Covid. Als passende Deko am Glas wäre schön langsam eine Magentablette angebracht, ansonsten scheint zu gelten: Make Sodbrennen great again! Was sagen denn unsere begabten Chemikerkollegen? Kann man denn einen Drink auch nachträglich wieder so ein klein wenig verunreinigen? Die Verklärung beenden? Entmilchen? „Ich hätte gerne Ihren Signature, aber dirty, bitte.“ Ich finde, das sollt eine valide Bestellmöglichkeit sein.
Also: ein bisschen Mäßigung, bitte schön. Auch wenn es mancher Bartender gar nicht für möglich halten mag, aber man kann sich Milch auch einfach übers Müsli kippen. Meinetwegen, wer unbedingt mag, darf sich dann auch noch einen Schnaps hineintun. Aber, in Gottesnamen, nicht jeder Drink braucht den Punch der Milch. Beherrscht euch. Es ist schon lange genug, es ist zu viel. Meine Duldsamkeit ist erschöpft, meine Toleranz ist erschöpft.
Ich kann’s nicht anders formulieren: Mittlerweile bin ich Laktose-intolerant. Fuck off, Laktose.
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Credits
Foto: Stranger Man – stock.adobe.com
Harald Sandner
Du bist ein affenscharfer Kompositeur, einfach klasse