Steins Steter Tropfen: Über die Chancen(un)gleichheit der World’s 50 Best Bars
Unser Autor Martin Stein ist ein Cocktailreisender, der seine Zeit am liebsten in Bars verbringt. In seiner Serie „Steins steter Tropfen“ geht es um gute Getränke und Gedanken, die sie verbinden. Es geht um Beobachtungen von unterwegs und Betrachtungen von der anderen Seite des Tresens. Diesmal: zu Gast bei der Verleihung der World’s 50 Best Bars – und wie diese als Abbild unserer Gesellschaft taugt.
Gleich mal ein einleitender Exkurs: Das Leben des Getränkejournalisten ist ein Leben voller spannender, wenngleich auch anstrengender Brüche. Die Teilnahme an einem ungekannten Luxus wird begleitet vom alltäglichen Existenzkampf; das Leben oszilliert flink zwischen Prunk und Prekariat, zwischen Gucci und Gosse. An sich auch direkt mal ein Buch wert.
Erfahrung und Erkenntnis
Gut, Augen auf bei der Berufswahl, und nachdem einem als Barbesitzer das eigene Geld weggeschmolzen ist wie die Hohleiswürfel am Christopher Street Day, wird man eben im zweiten Bildungsweg sowas wie der Didi Hamann der Getränke – wobei Nörgeln im Fußball schon deutlich besser bezahlt wird.
Die Erlebnisse im Job sind allerdings nicht mit Gold aufzuwiegen, und die Erfahrungen gehen weit über die Erkenntnis hinaus, dass das Vier Jahreszeiten in München die besten Pralinen macht. Auch wenn ein bisschen Gold ab und an nicht schlecht wäre, so hat man doch das Privileg, weltweit die Besten ihres Faches kennenzulernen, und das ist erhellend, bereichernd (also, in einer nicht materialistischen Weise) und auch motivierend. Außerdem gibt es oft Häppchen, bei deren Genuss man sich in Ruhe überlegen kann, ob man sein Leben nicht doch noch herumreißen sollte.
Praktisch ist es, wenn sich viele Häppchen und viele tolle Menschen am selben Ort befinden. Vor allem deshalb sollte man mal auf die Gala der World’s 50 Best Bars gehen. Greatness und Getränke, und dazu viele kleine Häppchen, die zum Sinnieren über das Leben anregen und einem darüber hinaus nicht das Gefühl geben, sich zu überfressen.
Saure und süße Trauben
Natürlich finden alle die 50 Best Bars blöd. Also, alle außer den tatsächlichen „50 Best“, und vielleicht auch noch die Plätze zwischen 50 und 100. Es gilt also, bei der Lese am Weinberg der Kritik sorgfältig zwischen den sauren und den süßen Trauben zu unterscheiden. Punkt eins: Natürlich ist die Liste der 50 Best Bars nicht gerecht. Sie sind aber auch nicht ungerecht. Welche Auszeichnung ist schon gerecht? Seit der Auszeichnung von Mario Gómez als bestaussehender Fußballer des dritten Jahrtausends gab es keine gerechten Auszeichnungen mehr.
Aber: Sips, Paradiso, Connaught – die Gewinner der letzten Jahre sind allesamt brillante Bars mit einem einzigartigen Charakter. Soweit ich das beurteilen kann, reiht sich der diesjährige Gewinner, das Handshake Speakeasy aus Mexiko City, ganz gut ein, auch wenn manche doch eher die Bar Leone aus Hongkong noch einen Tick weiter vorne gesehen haben.
Wie sind denn die Maßstäbe, was wirklich, wirklich gut ist? Subjektiv sind sie auf jeden Fall, was die Macher der 50 Best Bars auch zugeben, und das ist gut so. Auf welcher Ebene soll man die Atlas Bar in Singapur mit dem Satan’s Whiskers in London vergleichen? Als würde man Fußball mit Tennis vergleichen, weil bei beidem ein Ball dabei ist. Entscheidend ist, dass Menschen generell gerne eine Liste wollen mit einer Eins und einer Zwei und einer 17 und einer 44, und zwar im vollen Bewusstsein dessen, dass die Kriterien in ihrer Schnittfestigkeit eher einem Salzburger Nockerl gleichen als einer Salami. Gestehen wir es uns ein: Wir wollen die Noten. Wir wollen kein „Kevin hat sich immer ausgezeichnet in den Unterricht eingebracht“ und auch keine Fußballturniere mit Medaillen für die Teilnahme anstatt fürs Gewinnen. Wir wollen Sieger und Verlierer sehen – und dann wollen wir uns anschließend darüber aufregen, wie ungerecht alles abgelaufen ist.
50 Best Bars als Abbild unserer Gesellschaft
Ob man sie mag oder nicht: Die List der 50 Best Bars ist bedeutend, und wenn man es in die Liste schafft, zahlt sich das aus. In Renommee und in harter Währung. Wie also kommt man rein? Herrscht Waffengleichheit beim Kampf um die Plätze?
Fuck no!
Die 50 Best sind sozusagen ein Abbild unserer Gesellschaft – jeder kann nach oben kommen, aber manche haben ein bisschen Vorsprung. Oder auch ein bisschen mehr Vorsprung. Möglicherweise gibt es eine Bar in Äquatorialguinea, so unglaublich großartig, dass sie alle bisherigen Preisträger in den Schatten stellen würde – sie bliebe bloß vermutlich auf alle Ewigkeit unbemerkt. 28 „Academy Chairs“ mit 700 Stimmberechtigten weltweit bringen ihre Meinung in den Entscheidungsprozess mit ein, aber auch die gierigste Leber kann sich nur in einem Bruchteil der in Frage kommenden Lokale gehärtet haben.
Also geht es für die Bars nicht nur darum, gut zu sein, sondern vor allem auch darum, dass das jemand bemerkt; bevorzugterweise jemand mit einem Stimmrecht. In den letzten Jahren hat das dazu geführt, dass mehr und mehr ambitionierte Bars spezialisierte PR-Agenturen anheuern, um sich diese Aufmerksamkeit zu sichern. Bars mit PR-Agenturen. Es klingt immer noch eigenartig. Aber so ist sie, die Moderne des globalen Bartendings.
Und so kommt man dann herum und sieht Bars, die Geld dafür ausgeben, um gesehen zu werden. Natürlich fehlt den meisten „normalen“ Bars die Schwungmasse, um sich so etwas leisten zu können. Andererseits kann man sich auch die Frage stellen, ob Bars unterhalb dieser Schwungmasse überhaupt globale Relevanz haben können. Es sind tatsächlich auch nach wie vor etliche Lieblingsbars in der Liste vertreten; das vorhin erwähnte Satan’s Whiskers etwa, und auch das Mailänder 1930 oder auch das Himkok aus Oslo – und Norwegen ist ja auch so etwas wie das Äquatorialguinea Europas, da kommt man auch nicht so zufällig vorbei. Man muss schon was machen für die allgemeine Aufmerksamkeit, und mit Geld allein ist es nicht getan.
Als ehemaliger (wohlgemerkt erfolgloser) Barbetreiber sieht man auch immer mal wieder Bars, bei denen man sich denkt: „Was auch immer die da machen, Geld verdienen kann’s nicht sein.“ Cool, einfach nur sorgenlos schön sein zu dürfen, die meisten anderen haben es da schwerer. Das ist wie im richtigen Leben: Man könnte so ungestört vor sich hin brillieren, wenn nicht die Miete zu zahlen und der Kühlschrank zu füllen wäre.
Die Ritter vom roten Schal
All das im Hinterkopf, kann man sich dem Reiz der Preisverleihung, in diesem Jahr in Madrid geschehen, nicht entziehen. Diese wird sehr professionell und auch zügig durchgeführt, was bei 50 Bars plus diversen Zusatzpreisen essenziell ist, schon weil die Getränkeversorgung während der Zeremonie eingestellt wird. Nicht blöd, die Organisatoren. Alle passen brav auf. Ich auch.
Die Ritter vom roten Schal, der versammelte Bar-Adel, die Begierde jedes Einzelnen der 1.500 Gäste, sich vor der 50 Best-Fotowand ablichten zu lassen: Es wäre leicht, sich darüber ausgiebig lustig zu machen. Leider sind der Stolz und die Freude in den Gesichtern auch ziemlich ansteckend, und man will viel eher mitfeiern anstatt sich distanzieren.
Individuelle Auszeichnungen etwa für Monica Berg und Iain McPherson, da ist nun wirklich jeder damit einverstanden. Der Sustainable Award wird Gottseidank nicht vom Hauptsponsor gestiftet. Handshake Speakeasy wie gesagt beste Bar des Jahres, und das ist auch bedeutend für ganz Südamerika, da zum ersten Mal überhaupt eine Bar außerhalb von Europa und Nordamerika den Spitzenplatz eingenommen hat. Wer es bei uns noch nicht gemerkt hat: Es sind in den letzten Jahren ganz neue Sternbilder im Barkosmos entdeckt worden, und das Handshake hat sich definitiv auch mehr den Arsch als den Geldbeutel aufgerissen.
Das hat schon was
Es geht hier ums Geschäft, und die Organisation rund um die 50 Best-Auszeichnungen ist, man mag es kaum glauben, gewinnorientiert. Bars sind das übrigens auch. (Und man kann, nur so nebenbei, als Baretreiber natürlich auf das ganze Spektakel verzichten und trotzdem eine erfolgreiche Bar führen.) Mal schauen, ob eines Tages jemand den Marlon Brando gibt und den Preis ablehnt. Vielleicht werde ich mir irgendwann meine Biografie noch nachträglich ethisch aufhübschen, aber so kurz nach der 50 Best-Gala gibt es sowieso noch zu viele Zeugen der ungeschminkten Wahrheit. Die Gala, die Feier, das Brimborium, die sich selbst Feiernden, die ansonsten immer nur die Feste der anderen ausrichten: Das hat schon was.
Ich finde Mandarin Oriental tatsächlich etwas besser als Ibis. Und möglicherweise habe ich auch ein peinliches Selfie mit einer herumliegenden Trophäe gemacht. Hat sich gut angefühlt. Ich verstehe es vollkommen, so etwas gewinnen zu wollen. Ein Platz unter den 50 Best Bars ist jedenfalls nicht so leicht zu haben wie ein Bundesverdienstkreuz, kommt mir vor.
Natürlich bin ich persönlich nicht käuflich, aber vielleicht wurde mir auch nur noch nicht genug geboten. Don’t stop trying. Ich mache mir derweil ein kleines Fläschchen Perrier auf, weil die französische natürliche Kohlensäure meinem unbestechlichen Gastronomengaster einfach am besten konveniert. Allein die Eleganz der Bläschen! Schlank und prickelnd! Diese Perlage, wie sie aber mal so richtig ordentlich perlt!
Aaaaaaaaah! Prost.
Credits
Foto: Martin Stein