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Der Stinger Cocktail hat eine Frischzellenkur verdient

Der Stinger Cocktail ist ein klassischer Zweiteiler aus Brandy bzw. Cognac und Crème de Menthe. Seine historische Rezeptur macht ihn eher zu einem Herbstdrink. Gabriel Daun widmet sich dem namentlich zwar bekannten, auf Barkarten jedoch kaum erwähnten Cocktail – und verpasst ihm gleichzeitig eine zeitgenössische Frischzellenkur. Das Geheimnis: Pisco. 

Wieder einmal widmen wir uns einem Drink, der ein wenig mehr Aufmerksamkeit verdient, als er gegenwärtig erhält. Ein eigentlich simpler Drink, der dennoch über eine gewisse Eleganz verfügt. Die Entstehungsgeschichte des Stinger ist etwas unübersichtlich. Begeben wir uns zunächst auf Spurensuche, bevor wir darüber sprechen, wie er auch heute serviert werden kann. Spoiler-Alarm: Es gibt wesentlich mehr als eine Möglichkeit!

Die Ära der US-Tycoons

Der Stinger, so ist es oftmals zu lesen, entstammt der Upper Class der USA, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts feierte und trank. Cornelius Vanderbilt gelangte während dem Gilded Age, der wirtschaftlichen Blütezeit, die in den USA nach dem Sezessionskrieg begann, als Eisenbahnunternehmer gelinde gesagt zu großem Reichtum. Als er 1877 verstarb, war er der reichste Amerikaner überhaupt. Er besaß zu diesem Zeitpunkt etwa 100 Millionen Dollar, ein zur damaligen Zeit absurd großes Vermögen.

Die Industrialisierung nahm auch in den USA zu dieser Zeit freilich noch weiter Fahrt auf und schon bald wurde Andrew Carnegie als Tycoon in der Stahlbranche so reich, dass ihm selbst Spenden in Höhe von 350 Millionen Dollar zu Lebzeiten nicht sonderlich wehtaten. John D. Rockefeller stieg 39 Jahre nach dem Tod Vanderbilts gar durch Erdöl zum ersten Milliardär der Weltgeschichte auf.

Der Urenkel von Cornelius Vanderbilt wiederum, Reginald Claypoole Vanderbilt, fiel als Person verglichen mit diesen Tycoons etwas ab: Zwar dürfte er sich ebenfalls Zeit seines Lebens keine Sorgen um Geld gemacht haben müssen – Ur-Opa Cornelius sei Dank! – jedoch verspielte er als dem Reitsport zugetanes Individuum nach einem nicht abgeschlossenen Yale-Studium den Großteil seines Erbes, bevor er 1925, im Alter von gerade einmal 45 Jahren – immerhin immer noch als Millionär –, von einer alkoholinduzierten Leberzirrhose dahingerafft wurde.

Brandy Stinger

Zutaten

5 cl Cognac
1,25 cl Crème de Menthe (z.B. Tempus Fugit)

Der Stinger Cocktail in der klassischen Brandy-Variante

Der Stinger Cocktail, ein Schnösel-Drink?!

Die erfolgreiche und bis heute in den Vereinigten Staaten legendäre Familiengeschichte schrieb er ergo nicht weiter. Allerdings dürfte er, wenn er auch nicht der Urheber des Stinger Cocktail gewesen sein mag, zumindest als dessen größter Botschafter in die Geschichte eingegangen sein. Verglichen mit seinen Vorfahren zugegebenermaßen eine eher mediokre Leistung, mit der er seinen Urgroßvater sicherlich keine Konkurrenz zu machen vermochte – aber immerhin!

Wie dem auch sei: In jenem Reginald Vanderbilt schlummerte anscheinend ein wenig der Wunsch, lieber Bartender als lediglich lächerlich reicher Erbe und Pferdenarr zu sein. Dem ging er nach, indem er der High Society in New York in seiner Hausbar regelmäßig am späten Nachmittag und frühen Abend Drinks servierte – vor allem seinen Lieblings-Drink, dessen Erfindung zumindest von seinen Zeitgenossen, die in den Genuss kamen, von ihm verköstigt zu werden, dann auch ihm zugeschrieben wurde: den Stinger.

Der Stinger Cocktail geriet nicht in die Verlegenheit, es während der Prohibition seinem angeblichen, mittlerweile verblichenen Schöpfer gleichtun zu müssen, da die Zugabe von Crème de Menthe in Drinks es den Bartendern in den Speakeasies erlaubte, die Mängel der minderwertigen, schwarzgebrannten Spirituosen, mit denen sie sich zu arbeiten gezwungen sahen, zu tarnen. Der Stinger war deshalb auch während die USA unter dem 18. Zusatzartikel zumindest offiziell trocken und noch en vogue, auch wenn er allmählich an Renommee einzubüßen begann. Dennoch hielt er sich einige Jahrzehnte im kollektiven Trinker-Einmaleins, bis er schließlich in den 1960er oder 1970er-Jahren mehr oder weniger gänzlich aus der Mode kam.

Die Spur führt ins 19. Jahrhundert

Die Verbindung von Brandy (bzw. Cognac) mit einer Crème de Menthe ist allerdings auch schon verbrieft, bevor sich Reginald Vanderbilt im trinkfähigen Alter befand. Bereits 1891 (Vanderbilt erblickte 1880 das Licht der Welt) finden die Zutaten – wenn auch unter einem anderen Namen – bei William Schmidt zueinander:

 

William Schmidt, TheFlowing Bowl (1891)
155. The Judge
A mixing-glass ⅔ full of ice,
3 dashes of gum,
⅓ of crême de menthe,*
⅔ of brandy.
Shake to the freezing point; strain, and serve in a cocktail glass.

* [sic] Der Accent circonflexe stammt von Schmidt, nicht von mir! Abgesehen von den paar extra Spritzern Zucker handelt es sich hier würde ich behaupten bereits um einen Stinger, auch wenn er nicht so genannt wird.

 

Und auch George J. Kappeler erwähnt in seinem Buch, vier Jahre nach Schmidt, eine sehr ähnliche Variante, ebenfalls wieder unter einem anderem Namen:

George J. Kappeler, Modern American Drinks (1895)
Brant Cocktail.
Mixing-glass half-full fine ice, two dashes Angostura bitters, one-third of a jigger white crème de menthe, two thirds of a jigger brandy. Mix well. Strain into cocktail-glass; twist a piece of lemon-peel over the top.

 

Angostura Bitters also. Dennoch ziemlich nah dran am Stinger, würde ich sagen. Die erste Nennung des Drinks in einer Publikation unter dem Namen Stinger findet sich schließlich bei Jacques Straub:

 

Jacques Straub, Drinks (1914)

Stinger
½ jigger brandy.
½ jigger creme de menthe, white.
1 lemon peel.
Shake, strain into cocktail glass.

 

Und dann noch einmal drei Jahre später bei Tom Bullock:

Tom Bullock, The Ideal Bartender (1917)

STINGER–Country Club Style
Use a large Mixing glass; fill with Lump Ice.
1 jigger Old Brandy.
1 pony white Crème de Menthe.
Shake well; strain into Cocktail glass and serve.

 

Der Zusatz „Country Club Style“ rekurriert auf den St. Louis Country Club in Missouri, hinter dessen Tresen Bullock wirkte, als The Ideal Bartender publiziert wurde. Abgesehen vom Verzicht auf die Zitronenzeste unterscheidet sich das Rezept nicht von dem bei Jacques Straub. Beide sind in meinen Augen aus heutiger Sicht jedoch viel zu süß und eignen sich höchstens für Leute, die einen Stinger als willkommenes Äquivalent zum Zähneputzen nach der Zecherei verstehen. Allerdings ist somit nicht nur bewiesen, dass es sich um einen Drink handelt, der bereits vor der Prohibition bekannt gewesen ist, sondern auch, dass Vanderbilt mitnichten als Erfinder des Drinks gelten darf, auch wenn seine allabendlichen Gäste dies geglaubt haben mögen.

Den Stinger shaken oder rühren?

Wie aus den oben genannten Rezepten hervorgeht, wurde der Drink wohl immer geschüttelt, obwohl er eigentlich keine Zutaten beinhaltet, die danach dringend verlangen. Ich finde, er muss nicht geshaked werden – im Gegenteil: Ich mag meine Stingers gerührt! Ob Straight up serviert oder auf Crushed Ice, entscheide ich nach Laune, Wetter, Tageszeit und zum Einsatz kommender Basisspirituose. Faustregel für mich, wenn es um den Stinger geht: bei fassgelagerten Spirituosen gerne Straight up; wenn der Drink klar und frischer daherkommt, gerne auf (zerstoßenem) Eis.

Wer sich dazu entscheidet, den Stinger trotzdem zu shaken (und sich dabei wenigstens ein bisschen schämen sollte!), sollte eine Spur mehr Crème de Menthe verwenden, da der Drink ansonsten sehr schnell zu dünn und etwas belanglos zu werden droht. Bei einem gerührten Stinger ist umgekehrt in jedem Fall eine etwas trockenere Variante ratsam, da der Drink sonst schnell zu süß und irgendwie klebrig werden kann.

Wie immer in der Königsdisziplin „Zwei-Komponenten-Drinks“ ist höchste Präzision geboten sowie (wie selbstredend bei eigentlich jedem Drink) die Wahl von Zutaten ausschließlich allerbester Qualität. Wirklich anständiger Cognac (oder ein anderes Destillat, siehe weiter unten im Text.) und eine sehr gute (ungefärbte!) Crème de Menthe sind daher Pflicht! Mein Stinger-Ausgangs-Rezept, an dem man je nach Präferenz selbstredend schrauben darf und sollte, lautet (siehe auch Rezeptur oben):

Brandy Stinger

5 cl Cognac (ich mag im Stinger einen Blend aus 2 Teilen Pierre Ferrand 1840 und 1 Teil Montifaud VSOP)
1,25 cl Crème de Menthe (Tempus Fugit)
Eiskalt (wirklich: eiskalt!) rühren, in ein kleines Gobletglas abseihen, keine Garnitur.

Zuerst meldet sich der Cognac, traubig, mit feinen Fassaromen und – wie es sich für einen Shortdrink gehört – durchaus mit Power. Dann kommt die Kühle und Frische der Minze, etwas präsenter als bei einem Julep (den ich als Ahnvater des Stingers wähne), die aber dennoch sehr harmonisch in die Basisspirituose eingebunden ist. Der Stinger ist kein Everyday-Drink, aber einer, an dem man sich hin und wieder, wenn die Tage kürzer werden, erinnern sollte.

Pisco Stinger

Zutaten

5 cl Pisco Mosto Verde Italia
1,25 cl Crème de Menthe (z.B. Tempus Fugit)

Die Pisco-Variante verwandelt den Stinger in einen Sommerdrink

Es muss nicht immer Cognac sein

Soviel zur klassischen Version. Jetzt kommt die Variation: Ein – wie zumindest ich finde – unglaublicher Drink, der die klassische Variante sogar übertrifft ist, so zumindest die unmaßgebliche Meinung des Vaters dieser Zeilen, der sich diese Variante ausgedacht hat: ein Pisco Stinger.

Da es sich bei Pisco ebenfalls um ein Destillat aus Trauben handelt, lag der Gedanke für mich nah, einen Versuch mit dem südamerikanischen Traubenbrand zu wagen. Dem lag die Idee zugrunde, dass eine ungelagerte Spirituose besser mit den frischen Tönen der Minze harmonieren dürfte, als es ein im Fass gereifter Brand zu tun imstande ist. Und siehe da: Es handelt sich plötzlich nicht mehr um einen Drink, der eher zu fortgeschrittener Stunde im Herbst serviert werden sollte, sondern um einen Drink, der an einem heißen Nachmittag in der Sonne gefährlich werden könnte, da er über Suchtpotential verfügt. Ein aus Italia-Trauben gewonnener Mosto Verde harmoniert mit seinen frischen, etwas zitrisch anmutenden Aromen und seiner leichten Grasigkeit wunderbar mit der Crème de Menthe, die bemerkenswerterweise in der Variante mit Pisco noch etwas weiter in den Hintergrund tritt. Ausprobieren!

Ich finde diese Version übrigens auch optisch noch ansprechender und außerdem, wie bereits angedeutet, etwas frühlingshafter. Denkbar wäre durchaus auch ein Stinger mit einem Armagnac, gelagert oder ungelagert, der oftmals (zumindest noch) zu erschwinglichen Preisen zu bekommen ist, da die Armagnac-Kategorie trotz ihrer oftmaligen Güte längst nicht den gleichen Nimbus wie sein Bruder Cognac genießt. Auch Grappa finde ich alles andere als abwegig oder, wer mit gelagerten Spirituosen experimentieren möchte, Applejack.

Die Optionen sind mannigfaltig. Viel Spaß beim Ausprobieren!

Credits

Foto: Sarah Swantje Fischer

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