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Die wahre Systemrelevanz der Gastronomie liegt in der Bekämpfung des Wahnsinns

Bars bleiben weiterhin geschlossen und werden das aller Voraussicht nach noch eine Weile bleiben. Das ist für die Betroffenen wirtschaftlich und psychisch bedrohlich. Aber gesellschaftlich ist es ein Desaster. Denn eines hat stattdessen geöffnet und treibt bunte Blüten: die Echochambers des Irrsinns. Eine persönliche Betrachtung.

Ich weiß nicht, ob es so etwas wie Dog Days in einer ohnehin deprimierenden Pandemie geben kann, aber die Tage fühlen sich allmählich ganz sicher so an. Ich stehe, wie häufig, am frühen Abend in der U-Bahn, überreizt wie abgestumpft zugleich. Auf der Bank neben dem Fahrkartenautomaten streiten drei Alkoholiker; worüber, weiß ich nicht, und es hat nicht den Anschein, als wüssten sie es selbst. Neben dem wartenden Waggon springen zwei Dealer nervös zwischen Tür und Bahnsteig hin und her, die restlichen zwei, drei Gestalten ducken sich in ihre dicken Jacken weg und in ihre Smartphones hinein.

Der U-Bahn-Monitor zeigt, dass sich ein Promipaar, das ich nicht kenne, über Nachwuchs freut, und dass es vermehrt zu Übergriffen von Coronaleugnern auf Politiker, Journalisten und Wissenschaftler kommt, eine Entwicklung, die das BKA beobachte.

Business as usual, quasi. Als jemand, der in Berlin-Wedding lebt, bin ich darauf trainiert, dass Szenen und Menschen an mir vorbeiziehen wie in The Walking Dead. Den letzten Spaziergang mit meiner Tochter musste ich abbrechen, weil ein Verrückter Autos demoliert und fünf Meter neben uns einen Stein in die Heckscheibe eines parkenden Wagens geworfen hat.

Aber wir nähern uns der Vollendung des ersten ganzen Jahres Pandemie, und das Gefühl, in einer Dystopie zu leben, kriecht im Augenblick wie ein Schatten über die Seele; schleichend, omnipräsent und so – wie alles an dieser Pandemie – schwer zu fassen. Normalität scheint allmählich aus dem Straßenbild zu verschwinden, verblasst wie Michael J. Fox in der Schlussszene aus Zurück in die Zukunft. Aus den Mitteilungen und Telefonaten mit Freunden und Bekannten schwingt, so zumindest der Eindruck, eine zunehmede Anspannung mit. Wenn man überhaupt noch spricht – denn was gibt es noch zu sagen? Auf Instagram ist weiterhin alles cool, klar. Aber das Leben wirkt zunehmend wie ein bizarrer Widerspruch aus analoger Verwahrlosung und digitaler Badassness; garniert von einer immer wieder auflodernden Fassungslosigkeit, wann sich Realität und Satire ineinander aufgelöst haben, kämpft man sich durch plötzlich herabfallende Schneemassen als wäre man in fucking Fargo.

Und jetzt auch noch Mutationen.

Die Systemrelevanz der Dinge

Nicht zwangsläufig der Punkt, an dem man die gute, ein Jahr alte Systemrelevanz aus der Mottenkiste holen möchte. Oder aber genau doch. Ich möchte von dieser Systemrelevanz sprechen, genauer von der Systemrelevanz der Gastronomie. Zu Beginn der Pandemie wurde diese bereits viel diskutiert; während sie die Jalousien (und Hosen) runterlassen musste, hat die Gastronomie nämlich stets angemahnt, ebenfalls systemrelevant zu sein. In bescheidener Demut hat sie dabei nicht eingefordert, es auf die gleiche Weise wie die Medizin oder zu sein, aber nichtsdestotrotz wichtig für das Funktionieren einer Gesellschaft. Mittlerweile ist dieses Thema einigermaßen verstummt. Monat für Monat hat sich Covid-19 als Gummiwand erwiesen, die immer wieder einen Ball ins Feld zurückbringt. Die Inzidenz-Arithmetik ist eine unüberwindbare Hürde, an der Argumente wie Abstandsregeln, Lüftungsfilter, Gästeminimierung oder Anwesenheitslisten abprallen wie Selbstzweifel an Kanye West.

Deswegen möchte ich an dieser Stelle auch nicht vom ersten Wort in System-Relevanz, dem System, sprechen. Das ist müßig. Wohl aber vom zweiten Teil, der Relevanz. Denn spätestens in diesen trüben Monaten sollte der letzte Disruptions-Euphemist, der sich das Managermantra von der „Krise als Chance“ vorbetet, allmählich erkennen, welche a) Zumutung das öffentliche Leben ohne Gastronomie ist, und b) was ihr Fehlen an der Gesellschaft als Gesamtes anrichtet. Im gleichen Maß, wie wir die Zahlen zu dämmen versuchen, fluten wir nämlich auch die Schleusen des kollektiven Wahnsinns; durch geschlossene Bars, Kneipen und Restaurants ist nicht nur eine ganze Industrie und ihre Beschäftigen in einer monatelangen Nervenmühle und kämpft mit Existenzängsten. Wir potenzieren auch bei vielen Menschen einen schleichenden Persönlichkeitsverlust, der von einem guten Schluck Bier unter Freunden häufig verriegelt oder wenigstens in Zaum gehalten wird. Wir verlieren mit trockenen Zapfhähnen und verstaubenden Shakern unser soziales Schmiermittel und stoßen Menschen in Echochambers des Irrsinns. Das mögen viele kleine Einzelbeispiele sein – aber was ist eine Gesellschaft anderes als eine Verkettung vieler kleiner Einzelbeispiele?

„Vor diesen Fallen ist niemand gefeit, absolut niemand. Sorge. Angst. Scham. All das spielt sich in allen von uns ab, im Augenblick potenziert. Und ohne Gastronomie wächst diese Armee der Zerrütteten, Zermürbten und Zahlungsunfähigen.“

Ohne Gastronomie in das Rabbithole des Wahnsinns

Zu einfache Theorie, möglich. Aber ich habe lange genug in Bars gearbeitet, um genügend dieser Einzelbeispiele gesehen zu haben. Ich habe auch nicht immer in Bars gearbeitet, in denen man diskutiert hat, ob man Krug Champagner auf einen French 75 kippen darf. Ich kenne diese Typen, die immer mal zu späterer Stunde in den Laden schleichen; sie gucken finster drein, tragen den Typ einsamer Wolf vor sich her, gegen den sich die Welt verschworen hat. Irgendwann nach dem zweiten Drink ecken sie mit ausländer- und frauenfeindlichen Sprüchen und Ansichten an, denn sie sind ja zum Provozieren hier. Das haben sie sich so gesagt. Jeder Bartender, Hand aufs Herz, kennt diese Beispiele. In 19 von 20 Fällen Männer. Man weiß dann auch, dass die eigentlich nicht unbedingt auf Ärger aus sind. Sie wollen heute das andere testen. Aus diesem Grund sind sie nämlich hier. Und nicht anderswo.

Ich bin jetzt nicht so naiv zu glauben, dass jeder, der denkt, Corona sei ein von jüdischen Geheimbünden gelenkter Plan zur Abschaffung des Bargelds, nach dem Besuch meiner Bar von dieser Überzeugung geheilt wäre. Die Chancen dazu stehen aber höher, wenn ich ihm einen Shot oder einen Naked & Famous hinstelle und sage: „Hier, probier mal das. Und sag mal, was ist eigentlich los bei dir? “ Oder wenn er mit der Person oder Gruppe daneben ins Gespräch kommt. Das kann dann über den Abend ein wenig ausufern, vielleicht hauen sie sich am Ende auch auf die Fresse. Auch gut, wenn auch schlecht für den Abend. Aber im überwiegenden Fall reibt man sich aneinander, testet sich aus, und lässt dann ab. Beim Pinkeln zielt er noch absichtlich neben das Pissoir und denkt sich „Hat er sich verdient, der Penner!“ War aber trotzdem ein guter Abend, so insgesamt. Würde ich noch in Wien arbeiten, würde er sich mit einem „Bist eh ka Oasch!“ in die Nacht verabschieden.

Eines aber passiert ganz sicher nicht: Dass Menschen ihre Sinne beisammenhalten, wenn sie zu Hause von Algorithmen in Parallelwelten gezogen werden wie Odysseus von Sirenen; wenn sie sich dabei Flasche um Flasche reinziehen und Abscheu gegenüber einer ungerechten Welt aufsaugen wie der Teppich das umgekippte Bier um fünf Uhr morgens.

Vor diesen Fallen ist niemand gefeit, absolut niemand. Sorge. Angst. Scham. All das spielt sich in allen von uns ab, im Augenblick potenziert. Und ohne Gastronomie wächst diese Armee der Zerrütteten, Zermürbten und Zahlungsunfähigen – die sich im Übrigen nicht nur aus demokratiefeindlichen Rechten oder Querdenkern rekrutiert. Auch liberaler Eingestellte, die gerne auf ihrer Weltanschauung beharren, zählen dazu. Auch diese Gattung kennt man als Bartender bestens: Konsens-Theoretiker, die am Tresen Reden schwingen, aber die Polizei rufen, wenn der Nachbar um 22:05 Uhr die Musik zu laut aufdreht. Aber wenn uns Corona eines lehrt, dann das: Der schleichenden Unsicherheit und den Ängsten, die die Pandemie auslöst, ist das ideologische Häkchen am Wahlzettel egal.

Sie krallt sich alle.

„Das macht die Gastronomie nicht nur wichtig. Sondern so relevant, dass dieses System ohne sie zusammenbrechen kann. Und wird.“

No Bars, More Bubbles

An welchen Orten würde das aber weniger passieren? Genau. Dort, wo sich diese Menschen begegnen können. Sprich im Moment eben nicht begegnen können. In Bars. In Kneipen. In Restaurants. In Clubs. Clubs!! Doppelausrufezeichen!!! Ein echtes Gespräch, eine echte Unterhaltung, unterscheidet sich eben immer noch fundamental von einem Posting. Der direkte Dialog ist ein komplexer Vorgang, ein „du Hurensohn“ schreibt sich um einiges schneller, als würde man es jemandem wirklich ins Gesicht zu sagen. Es macht etwas anderes mit einem selbst, diese Wörter auszusprechen, als sie bloß zu tippen. Man muss kein Psychologe sein, um zu wissen, dass der Mensch von Angesicht zu Angesicht mehr Anstand hat als vor der Tastatur. Und Respekt.

Das ist die Relevanz der Gastronomie, von der ich spreche. Das ist das, was in all dem theoretischen und nüchternen Gerede über Zahlen, Fakten und Inzidenzen unerwähnt bleibt. Das ist die Summe der Einzelbeispiele, aus dem sich eine Gesellschaft zusammensetzt.

Natürlich bin ich nicht so naiv zu glauben, dass Bars und Kneipen nicht auch ihre eigenen Echochambers sind. Das sind sie sehr wohl. Niemand wird das Schumann’s in München mit einem Ort verwechseln, der vom Taschengeld von Hartz-IV-Empfängern lebt. Aber siehe oben: Gerade weil sich die Angst vor, um und mit Corona Menschen aller Art und Ansichten krallt, wäre es wichtig, dass es wieder Räume der Vermischung gibt. Bars und Gastronomien sind grundsätzlich Orte der Begegnung. Sie sind Erlebnisse des Hier und Jetzt. Damit sind sie im Grunde eines der zunehmend wenigen Ereignisse, die das noch vermögen. Sie ermöglichen, unsere Masken (im metaphorischen Sinne) fallen zu lassen, die wir täglich mit uns herumtragen. Warum reden schließlich immer alle vom Klischee des Bartenders als Psychologen, bei dem sich die Gäste ausheulen? Weil es stimmt!

Und diese tausend kleinen Tresen, an denen jetzt niemand steht, sind extrem viele Einzelschicksale ohne Ventil. Und diese werden womöglich zu Kandidaten, die sich bei Walmart eine Fellmütze kaufen und sich rüsten wie Davy Crockett für die Schlacht bei Alamo. Oder, wer es unter volkswirtschaftlicheren Faktoren betrachten will: Sie leiden psychisch in einem Sinne bis hin zur Depression, um irgendwann nicht mehr zum Bruttoinlandsprodukt beitragen zu können.

Ohne Gastronomie kein System

Ich bin auch nicht so vermessen zu glauben, dass die Gastronomie nun schneller aufmachen wird, weil sie durch diesen Text als großer Friedensstifter gesehen werden könnte. Das ist auch gar nicht die Absicht dieses Kommentars. Aber man muss diese Punkte beachten, wenn man die Gastronomie wieder als letztes aufmachen will. Weitere Einschränkungen brauchen eine Einbeziehung der Gastronomie, und sei es noch so reduziert. Traurigerweise ist das Image, insbesondere der Bars, in der Politik kein sonderlich positives, wenn überhaupt vorhandenes. Und Gesundheitsminister Jens Spahn ist wahrscheinlich auch viel zu sehr damit beschäftigt, sich Tapeten für seine neue Villa auszusuchen, die er sich im letzten Jahr mitten in der Pandemie in Berlin gekauft hat und gegen deren Kaufpreis-Veröffentlichung er gerichtlich vorgegangen ist, als diesen Artikel zu lesen.

Deswegen muss man es jetzt, nach einem fast vollständigen Jahr 1 der Pandemie, wieder laut rausschreien: Gastronomie ist extrem relevant! Und das nicht nur in einem Wert, der in wirtschaftlichen Zahlen zu messen ist. Sondern in einem gesellschaftlichen Wert, der weit über das persönliche, vielzitierte Amüsement hinausgeht, als das man sich einen Abend in der Bar oder im Restaurant gönnt.

Das macht die Gastronomie nicht nur wichtig. Sondern so relevant, dass dieses System ohne sie zusammenbrechen kann. Und wird.

Noch mehr labern: Willkommen bei Clubhouse

Es passt jedenfalls in den Augenblick der allgemeinen Isolation in Jogginghosen, dieser Achterbahn der Gefühle zwischen Memes-Postings und Merkel-Pressekonferenzen, dass soeben die gehypte Audio-App Clubhouse ausgerollt wurde. Ohne Zweifel die passende Plattform für diese Zeit: Noch mehr reden, ohne sich zu begegnen. Ich öffne die App gelegentlich, zwischen den U-Bahn-Stationen. Beteiligt an einer Diskussion habe ich mich noch nicht. Wahrscheinlich unterschätze ich die App. Aber ich muss gestehen: Meine Lust auf mir unbekannte Profile, die über die Zukunft sprechen, ist auf dem Nullpunkt.

Ich weiß auch nicht, unter welchem Algorithmus mich die App eingeordnet hat, aber da ich noch eine U-Bahn-Station Zeit habe, lese ich die Vorschläge der kommenden Talks des Abends. „Daddy Issues – Millennial Edition. Hat unsere Generation einen kollektiven Vaterkomplex? Wir öffnen heute mal nicht nur Papas Geldbeuel, sondern vor allem auch unser Herz“ oder „Pouch-Underwear: Trend oder Trash? Es geht um die Beutel-Unterhose für Männer als Modetrend und was der Urologe dazu sagt. Sind Boxershorts oder Slips in Gefahr, oder sogar eine Gefahr? Was tragt ihr gerne?“. Oder „Life Stories. Wie bist du der geworden, der du heute bist? Meilensteine! Was hat dich bewegt, berührt? Was ist der Sinn deines Lebens? Lebensgeschichen Tauchbecken“. Oder aber „Gemeinsam Zähneputzen Deutschland. Das Event, damit du Abends Zähneputzen nicht vergisst. Wir putzen jeden Tag um 22:30 Uhr gemeinsam unsere Zähne. Komm mit Zahnbürste in den Raum und melde dich.“

Dog Days. Wahrlich. Muss hier aussteigen.

Credits

Foto: Editienne

Comments (4)

  • Peter Schütte

    Großartig! Danke für diese Zeilen.

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  • Max Illich

    Ich freue mich sehr, von Eurem Lesestoff durch diese schräge Zeit getragen zu werden. Danke dafür.

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  • Sebastian

    bombe!

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  • raul duke

    hervorragender artikel!
    alles gesagte trifft den nagel auf den kopf und hat mich gleichzeitig bestens unterhalten!
    schade, das ich bei der arbeit bin…, mit einem leckeren old fashioned in der hand, hätte das lesen noch mehr spaß gemacht!

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