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Tel Aviv. Ein schweißnasses Aufbegehren.

Abgestumpftes Herz im Underground

Gegen 1:00 Uhr machen wir uns auf den Weg ins Deli. Es liegt auf der Allenby Road kurz hinter der King George. Eine schicke und klassische Bar, die jenem Underground-Charakter gerecht wird, den ein jeder erwartet. Touristen sucht man hier vergeblich. Nur Eingeweihte kennen das Schlupfloch zu diesem exquisiten Club. Einer von tausenden kleinen Sandwichläden, die in Tel Aviv wie Pilze aus dem Boden sprießen, dient als Durchgang zu einer knisternden Dreißigerjahre-Location. Vorbei an geschnittenen Tomaten, rohem Rindfleisch und Pita gelangt man vor eine obligatorische Stahltür. Man muss klopfen – eine echte Erleichterung für das abgestumpfte Herz eines Berliners.

Das Deli ist düster und klein. Ein langer Spiegel an der Wand versucht Größe zu zaubern, wo keine ist. Wir lassen uns auf den samtigen Couchen nieder. Passend zur Atmosphäre bestelle ich ein Glas Champagner. Hier bekommt man auch echte Cocktail-Klassiker wie Whiskey Sour oder einen Moscow Mule. Mit 60 Shekel, umgerechnet 12 Euro, liegt man hier schon im oberen Preissegment. Die zwei israelischen Freunde von mir, die mich heute durch die Nacht tragen werden, haben weitere Bekannte getroffen.

Es wird liebevoll gestikuliert und nach dem Befinden seines Gegenübers gefragt. Dafür gibt es gefühlte 100 verschiedene Versionen. »Ma nishma?« ist eine davon. Alle plappern im Rhythmus zur elektronischen Musik. Nichts genieße ich mehr, als diese Sprache nicht zu sprechen. Ich genieße das Nicht-verstehen-können und vor allem das Nicht-verstehen-müssen. Jedes Jahr fahre ich in dieses Land, um meine Familie und Freunde zu besuchen und um nicht verstehen zu müssen.

Im Deli bleiben wir nur eine Stunde. Die Nacht hat noch viel mit uns vor. Freunde von Neta und Chicky schließen sich an. Mein Telefon klingelt und Omri meldet sich. Er schlägt vor, sich im Jimmy Woo zu treffen, einem der neuesten und heißesten Läden Tel Avivs. Alle sind sich einig und wir wanken angetrunken und übermütig Richtung Rothschild. Auf dieser Allee haben letzten Sommer Tausende Israelis gezeltet und eine stille und farbenprächtige Revolution angeführt. Auch wenn die pyramidenförmigen Lager verschwunden sind und nichts mehr an diese Zeit erinnert, ist dieser Sturm allgegenwärtig.

Während wir auf dem begrünten Mittelstreifen des prächtigen Boulevards spazieren, erinnere ich mich an den letzten Sommer. Ich erinnere mich an die offenen Lectures und Panels, denen man beiwohnen konnte. Sie wurden auf Hebräisch geführt, aber auf alten Fernsehern flimmerten englische Untertitel. Ich erinnere mich an schlechte Musik, zu der die sogenannten »Tree-Hugger« tanzten, die israelischen Hippies. Ich erinnere mich an orthodoxe Juden, die vor ihren Zelten beteten.

Düsterer Elektro und Tanzwut

Bevor mich die alkoholgeschwängerte Sentimentalität übermannt, landen wir im Jimmy Woo. Einem Club, der sich seine Wandgestaltung beim King Size’ abgeschaut hat. Ein Delikatessenstand füllt unsere leeren Mägen mit italienischem Käse und Gebäck. Der Laden ist klein und halb gefüllt. Ein DJ dreht an seinen MacBook-Reglern. Sphärischer Elektro haucht der Bar etwas Düsteres ein. Das Highlight bildet eine Drehtür, die den ersten Raum mit dem zweiten verbindet.

Ein paar Drinks später treffe ich die ausgereifte Entscheidung, dass der Abend noch nicht enden darf. Schließlich scheint morgen wieder die Sonne kräftig auf die zerbröselnde Identität und offenbart den Berg Ballast, den es abzutragen gilt. »Ich will tanzen«, brülle ich einen Tick zu laut. Chicky schlägt das Shesek vor. Die Hälfte der Gruppe entschwindet in andere Richtungen. In Betten, in Bars oder Clubs. Wir brechen zur Lilienblum auf. Die Gegend rund um das Shesek ist überfüllt. Mädchen hocken barfüßig auf dem Bordstein und knabbern an Essbarem.

Maskuline, nackte Oberkörper fahren leichtsinnig mit ihren hupenden und lärmenden Rollern durch die engen Gassen von Florentin. Es ist 5:00 Uhr morgens, und auch wenn meine Lider schläfrig im Stakkato klappern, lasse ich mir einen letzten Drink nicht entgehen. Es ist voll und laut. Genau das, was man braucht, wenn die Zunge vom Trinken schwer geworden ist. Das Shesek ist eine Institution, und während die Halbwertzeit eines Tel Aviver Clubs keine zwei Jahre beträgt, konnte die Schnelllebigkeit diesem Laden nichts anhaben. Wir kämpfen uns, bewaffnet mit einem Vodka Tonic, den wir für 30 Shekel ersteigert haben, in den hinteren Raum, der versucht, eine entspannte Sechzigerjahre- Lounge-Atmo zu kreieren. Dafür ist es aber viel zu laut und viel zu voll. Die stählernen Stehlampen senken erschöpft ihre Köpfe. Menschen mit schwarzem, lockigem Haar bewegen ihre Arme in alle Himmelsrichtungen und ich tue es ihnen gleich.

Um 6:30 Uhr mache ich mich zufrieden auf den Heimweg. Nur 500 Meter fehlen bis zum Ende der Nacht. Der Kater am nächsten Tag sollte am Strand bei einer kühlen Limonana auskuriert werden. Die selbstgemachte Limettenlimonade mit frischer Minze (Nana) ist das inoffizielle Nationalgetränk. Die etlichen Restaurants, die sich entlang der Strandpromenade aufbäumen, liefern – dank der durch den Sand stapfenden Servicekräfte – bis zum eigenen Liegestuhl, was man begehrt.

Die amerikanische Idee von Dienstleistung hat sich in Tel Aviv durchgesetzt. Schließlich ist Israel das Stiefkind der USA. Doch auch Kinder werden erwachsen und beginnen sich zu lösen, von falschen Erwartungen und unguten Regeln. Die junge Nation hat vieles noch vor sich. Man wünscht ihr nichts sehnlicher als eine friedliche Stabilität.

(Dieser Artikel erschien erstmals in MIXOLOGY Issue 4/2012. Das Printmagazin MIXOLOGY erscheint alle zwei Monate. Informationen zum Abonnement finden Sie hier auf MIXOLOGY ONLINE.)

Foto: Birgit Glatzel

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