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Tempus Fugit: Peter Schaf, der ewig Suchende

Mit Tempus Fugit haben Peter Schaf und John Troia seinerzeit eine besondere Firma ins Leben gerufen, die sich der Wiederbelebung vergessener Spirituosen widmet. Mit Produkten wie Gran Classico oder den Abbott’s Bitters zählen einige der großen Bartender-Lieblinge der letzten Jahre dazu. Wir haben Peter Schaf zum ausführlichen Gespräch über seine Motivation und die Idee hinter Tempus Fugit getroffen.

Peter, die Blickrichtung von Tempus Fugit ist auf Spirituosen gerichtet, und zwar rückwärtsgewandt. Gibt es eine Periode, die es euch besonders angetan hat?

Die vorrangige Zeit, mit der wir uns beschäftigen ist die zwischen 1750 und 1920. Zu Beginn des Industriezeitalters bekamen Zubereitungsformen von Likören neben ihrer medizinischen Bedeutung vor allem die, zu entspannen. Das führte dazu, dass moderne Methoden der Destillation und auch die technischen Gerätschaften sich schnell verbesserten. Die Geburt des „Cocktails“ Anfang des 19. Jahrhunderts hat dann natürlich ihr Übriges getan und als im frühen 20. Jahrhundert dann das moderne Bartending aufkam, führte das natürlich zu einem tollen Kulturbestand von Likören – die in der Zwischenzeit mithilfe künstlicher Zutaten hergestellt wurden. Mit Tempus Fugit versuchen wir, hochwertige Liköre, die vor allem während der US-amerikanischen Prohibition und dem Zweiten Weltkrieg populär waren, aufleben zu lassen.

Gibt es darunter auch Spirituosen, die für immer verschwunden sein werden? Vielleicht, weil es die Zutaten dazu nicht mehr gibt, weil das Rezept verloren gegangen oder die Prozedur schlichtweg nicht mehr rekonstruierbar ist?

Die meisten Rezepte, ganz egal, von welchem Konsumprodukt auch immer, sind sehr wohlgehütet. Und wenn das Produkt populär ist, sowieso! Daher muss man immer damit rechnen, dass historische Rezepturen mit dem Tod ihres Erfinders verschwinden. Dass die Rezepte einfach nicht mehr auffindbar sind, wenn eine Destillerie geschlossen wurde oder gar in einem Krieg zerstört wurde. Manchmal kommt es tatsächlich auch vor, dass Zutaten einfach nicht mehr aufzutreiben sind.

Und wenn natürlich die Hauptzutat illegal wird: wie etwa im Falle von Vin Mariani, dem historischen Vorläufer von Coca Cola, welcher jedoch aus Teilen des Kokastrauchs hergestellt und daher (mit dem Opiumgesetz von 1920, Anm. d. Red.) verboten wurde.

Quinquina Aperitif-Weine, deren Bestandteil maßgeblich Chinin war – wie im Tonic Water auch – waren im 19. Und 20. Jahrhundert sehr beliebt. Kina Lillet, vor allem bekannt aus dem James Bond-Roman „Casino Royale“ von 1953 (und natürlich dessen Verfilmung), gehörte zum festen Inventar vieler klassischer Cocktails. Dann wurde die Rezeptur verändert und plötzlich war der Geschmack nicht mehr so bitter wie vorher. Und den Bartendern fehlte das. Die Nachfrage war seitdem permanent da und so haben wir mit dem Kina l’Aéro d’Or versucht, den verlorenen Aperitif wieder aufleben zu lassen. Oder zumindest eine ziemlich gute Alternative davon.

In all der Fülle von Likören und Spirituosen gibt es dann natürlich auch noch diejenigen, die schlichtweg nicht so gut geschmeckt haben oder die, die gar nicht wirklich dazu gedacht waren, dass man sie genüsslich konsumieren sollte. Medizin muss ja nicht schmecken. Von daher ist es eine gute Sache, dass manche Dinge hier und da verschwinden. Ein bisschen wie eine Evolution der Flüssigkeiten – bei der wir an manchen Stellen ein bisschen Hand anlegen.

Woher rührt Dein Interesse für historische Zutaten, wie kommt man dazu? Hast Du schon als Kind Milch nach Haltbarkeitsdatum sortiert?

Fast! Beide Gründer von Tempus Fugit, also John Troia und ich, sammeln schon antike Flaschen, seitdem wir richtig jung waren – so hat sich ein lebenslanger Bezug zur Geschichte, aber auch zur Historizität vieler Liköre und Bitters entwickelt. Als ich im Jahr 1999 dann nach Frankreich gezogen bin, hat es mir der Absinth besonders angetan. Ich fing an, alte, ungeöffnete Flaschen zu sammeln und bot diese kulinarischen Historikern, Sammlern und Destillerien an, um herauszufinden, ob man diesen Absinth nicht wieder so herstellen könnte wie früher. In 2005 hat sich noch kein Mensch auf Absinth spezialisiert, also wurde ich sogar zu Anthony Bourdain in seine TV-Show No Reservations als ein solcher Spezialist eingeladen.

Dann ging alles sehr schnell und in der Zwischenzeit habe ich über 30 Absinth-Marken nachgebildet, 2007 Tempus Fugit gegründet um Absinth zurück auf den amerikanischen Markt zu bringen. Und wir bekommen ständig Anfragen aus der Cocktail Community, die nach Likören, mit denen Vintage Cocktails mischt, geradezu lechzt. Unser Portofolio ist in den letzten Jahren beträchtlich gewachsen – und so soll es auch weitergehen.

Manchmal wollen wir ein bestimmtes Produkt wieder aufleben lassen, weil es uns einfach Spaß macht. Trotzdem inspirieren uns auch die Nachfragen der Bartender sehr, diese Zusammenarbeit ist uns sehr wichtig, weil wir so sehen, was die derzeitigen Bedürfnisse und Geschmacksprofile sind.

Kannst Du anhand einer bestimmten Spirituose exemplarisch zeigen, wie so ein Wiederherstellungs-Prozess genau funktioniert? Wie geht ihr vor?

Nehmen wir einmal die „Crème de Menthe“-Liköre: Die breite Masse des heutigen Markts ist ziemlich eindimensional, sehr „minzig“ und verliert sich in sich selbst. Genau das macht den Likör zu stark, um mit anderen Zutaten vermengt zu werden, kein Geschmack kommt daran vorbei. Das mag dann an der industriellen Herstellung solcher Liköre liegen, wobei oftmals Konzentrate und Färbemittel verwendet werden. Das macht das Produkt natürlich günstiger und profitabler, seinen Geschmack aber nur selten besser.

Jedenfalls überlagern solche billigen Zutaten in klassischen Cocktails, wie zum Beispiel dem Stinger, meist die Basis aus Cognac, Brandy oder Whiskey so sehr, dass der Cocktail keinen Sinn mehr ergibt. So ein fertiger Cocktail, in den jemand grünen, billigen Minzlikör gekippt hat, sieht ganz und gar entsetzlich aus!

Was also braucht ein Bartender, der seine Zutaten kennen und bedacht mit ihnen hantieren will? Zum Beispiel mit seinem Minzlikör.

Genau, dieser Gedanke hat uns dann dazu gebracht, auf verschiedenen Sprachen und in alten Rezepturen zu recherchieren, was es mit den alten Minzlikören auf sich hat, wie die hergestellt werden. Wie immer haben wir alte, ungeöffnete Flaschen gesammelt und analysiert. Wir suchen die Zutaten in ihrer hochwertigsten Form, wie sie auch in Apotheken verwendet wurden, und fangen dann an, ganz kleine Mengen zu destillieren. In manchen Fällen haben wir sogar die gleichen Destillierkolben wie früher verwendet. Dann haben wir eine alte Rezeptur gefunden, die in einigen verschiedenen Handbüchern und Sprachen zu finden war: da war dann nicht nur der Zutaten-Mix an sich ganz köstlich, sondern passte auch zu Cognac, Brandy und Whiskey ganz vorzüglich – gerade im Stinger Cocktail! Wir wussten, dass hiermit das Rezept gefunden war, das wir gesucht hatten und nun galt es nur noch, einen legalen Weg zu finden, es auf den Markt zu bringen. Das bedeutet eine Menge formalen Kram, das Produktdesign muss gemacht werden und am Ende wird produziert. Der Weg dahin ist lang und steinig, aber er macht uns immer wieder Spaß.

Welche Rolle spielt Zucker in eurem Tagesgeschäft? 

Eine ziemlich zentrale: in unseren Crèmes und Likören ist er der essentielle Bestandteil. Der Begriff „Crème“ und auch „creamy“ assoziiert man immer mit Weichheit, mit Luxus und etwas Sanftem, das sich schön anfühlt. Das Mundgefühl von Cremigen kommt in der Regel von seinem hohen Zuckergehalt und nicht, weil da wirklich Rahm oder ähnliches drin wäre. Wir haben festgestellt, dass die spezielle Zuckerart ziemlich wichtig für das Endprodukt ist, da muss bei der Auswahl gut nachgedacht werden, genauso über die Menge, sodass ein optimales Zusammenspiel mit den pflanzlichen Bestandteilen entstehen kann.

Und weil Zucker in der Geschichte von Drinks eine große Rolle spielt, tut er es auch für Tempus Fugit. Gerade die Crème-Serie hat per definitionem einen ziemlich hohen Zuckergehalt. Am wichtigsten ist der Zucker aber vor allem für den Bartender – nämlich als Handwerk für die perfekte Viskosität im Drink. Und zwar ein Handwerk, das in sich gut gebaut ein muss, wie jedes andere Handwerk auch. Mit einem kaputten Hammer braucht man nichts festnageln zu wollen. So braucht ein Drink auch weder minderwertige Zutaten, noch zu viele davon. Zusätzlicher neutraler Zucker oder Zuckersirup macht rein gar nichts mit der Textur eines Drinks.

Welche Schwierigkeiten bereitet euch Zucker in der Analyse von Drinks? Schließlich oxidiert Zucker und der Geschmack verändert sich damit.

Das stimmt, einerseits. In einer wirklich ungeöffneten Flasche sorgt der Alkohol dafür, dass der Zucker beim Altern in der Flasche bleibt. Schließlich besitzen auch die wertvollsten und ältesten Weine noch ein hohes Maß an Zucker. Aber genau deswegen ist es so unglaublich wichtig, mit ungeöffneten Flaschen zu hantieren, wenn wir den originalen Geschmack herausfinden wollen. Nur im Vergleich zwischen diesen und geöffneten Flaschen können wir die Unterschiede bemerken.

Absinth ist daher ein sehr dankbares Produkt: dadurch, dass er einen hohen Alkoholgehalt besitzt und gänzlich ohne Zucker abgefüllt wird, ist er vor Oxidation wohl gefeit. Aber auch Whisky, Cognac und Rum halten sich sehr gut – ungeöffnet, wohlgemerkt!

Gibt es andere Probleme, mit denen ihr auf der Suche nach alten Rezepten zu tun habt?

Originalrezepte gehen in der Regel verloren, sobald eine Destillerie schließt, aus welchen Gründen auch immer. Im Falle von Absinth wurden, im Zuge der Prohibition, immer wieder Rezepturen verbannt und vernichtet. Aber auch mit existierenden Rezepten kann es zu Schwierigkeiten kommen. So wollen uns die Chefs historischer Destillerien oftmals ihre Rezepturen nicht verraten!

Richtig alte und originale Handbücher der Destillerien sind leider schwer zu finden, und sie zu erwerben, kann sehr teuer werden. Nichtsdestotrotz haben wir mittlerweile eine Bibliothek erstellen können, die sämtliche wichtigen Manuale aus dem 18., 19. Und 20. Jahrhundert birgt, manche sogar noch handgeschrieben! Nicht ganz so einfach waren bisweilen auch die Übersetzungen, in der Regel aus dem Französischen, dem Deutschen, Italienischen oder Spanischen, da sich eine Sprache in 200 Jahren ja doch verändert. Übersetzungsfehler sind da fatal, einige haben wir sogar gefunden – da werden dann versehentlich giftige Pflanzen angegeben, anstelle der original genannten Zutaten! 

Das klingt nach echter Quellenkritik im akademischen Sinne. Woher weiß man in der Regel, welche Version das Original ist – abgesehen von giftigen Pflanzen?

Wenn wir in einer Destillerie handgeschriebene Dokumente finden, so sind diese in der Regel original, davon gehen wir aus. Wenn in verschiedenen Übersetzungen, also verschiedenen Ländern, dieselben Zutaten angegeben werden, nehmen wir ebenfalls an, dass diese Herstellungsweise flächendeckend als „original“ anerkannt wurde. Aber, davon abgesehen: Nur, weil irgendein Rezept original ist, heißt das noch lange nicht, dass es gut schmeckt. Wenn und eine ungeöffnete Flasche eines alten Destillats einfach nicht schmeckt, nehmen wir gerne auch Abstand von dem Produkt. Nicht alles, was „vintage“ ist, ist auch gut.

Habt ihr eine Lieblings-Ära, derer Rezepturen es euch besonders angetan haben?

Am interessantesten ist für uns die Zeit zwischen 1850 und 1920. Hier findet der Übergang ins Industriezeitalter statt – was bedeutet, dass die Destilliermethoden den heutigen zum Teil schon recht ähnlich sind. Trotzdem sind zu dieser Zeit noch eine Menge hochqualitativer Produkte entstanden. Dazu kommt, dass diese Ära das „Golden Age” der American Bar war und Bartender durch die halbe Welt gereist sind, auf der Suche nach neuen Rezepten.

Wenn Du eine Zeitreise machen dürftest…

… dann wären das die 1870er, und zwar genau dorthin, wo Jerry Thomas hinter der Bar steht.

Dass Spirituosen irgendwann verschwinden, hat in der Regel Gründe. Vielleicht hat sich der Geschmack der Massen verändert, oder die Nachfrage ist einfach verschwunden?

Was den Leuten heute oftmals nicht klar ist, ist der frühere Stellenwert von süßen Likören. Das waren elitäre Luxusgüter, wohingegen einfache Formen von Whisky, Rum oder Gin auch unter der Arbeiterklasse verbreitet waren. Mit der Verbesserung der Destilliermethoden während des 19. Jahrhunderts wurde auch die Herstellung von Likören sehr erleichtert, so dass die Produkte günstiger, zum Teil aber auch billig produziert werden konnten. Gleichzeitig nahm die Qualität der Basisdestillate deutlich zu.

Ende des 20. Jahrhunderts waren Whisky, Rum und Gin dann plötzlich die Superstars und Liköre sind zu billigen Nebenzutaten verkommen. Die meisten Liköre heute werden sehr kostenorientiert hergestellt und beinhalten nahezu ausschließlich künstliche Zutaten.

Gründe zur Verbesserung gibt es immer und überall. Dass der kultivierte Konsument hochwertigen Whisky schätzt, hat sich so eingebürgert. Die Liköre allerdings können noch ein wenig Unterstützung gebrauchen.

Haben Lebensmittelgesetze mit der „Evolution“ von Spirituosen zu tun?

Oh ja! Lange Zeit gab es überhaupt keine Kontrollen, wie und aus was Spirituosen gemacht wurden – nicht so wie „euer“ Reinheitsgebot, das so etwas auf ganz wunderbare Weise regelt. Die einflussreichsten Gesetze, die in die Entwicklung von Likören und Destillaten eingegriffen haben, waren beispielsweise der US-amerikanische Pure Food and Drug Act von 1906, der eine Menge Bitters vom Markt schmiss; oder das französische Absinth-Verbot von 1915. Klar, von der Prohibition zwischen 1920 und 1933 gar nicht zu sprechen, gilt heute vor allem die Liste der American Food and Drug Administration als maßgeblich bestimmend, welche Zutaten im Essen und Trinken erlaubt sind.

Jene Liste ist auch der Grund, weshalb eine Menge historischer Spirituosen in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr produziert werden können. Calamus beispielsweise stand irgendwann nicht mehr auf der Liste, gleichwohl er ein wichtiger Bestandteil des klassischen Fernet war. Also haben wir einen Fernet ohne Calamus konzipiert – einer der besten auf dem heutigen Markt, wohlgemerkt.

Auf welche Wiederbelebung seid ihr besonders stolz?

Für Tempus Fugit sowie die Schweizer Oliver Matter-Destillerie – wo wir das Originalrezept gefunden haben – war der Gran Classico international ein ziemlicher Erfolg. Der ist toll in einigen alten Klassikern, etwa im Negroni oder in Manhattan-Twists, wie zum Beispiel dem Gran Central, wie er in Köln serviert wird.

Ganz persönlich freue ich mich auch über Abbott’s Bitters, was John Troia und mich 15 Jahre Flaschensammeln, Kräuterrecherche und Nachdenken sowie sieben Jahre für den Launch gekostet hat. Aber es hat sich gelohnt. Die Aufgabe, diese Marke zu schützen, nehmen wir ausgesprochen ernst und haben so ziemlich alles dafür getan, dass sowohl Ansehen, als auch Geschmack der doch extrem wichtigen Cocktail Bitters in Ehren gehalten werden.

Das war das einzige Produkt, das wirklich nur von uns beiden gemacht wurde, von Anfang bis Ende. Wir hatten damit mehr Erfolg als wir uns erhofft hatten und der komplette Stock war innerhalb kurzer Zeit an die USA verkauft. Wir können der Nachfrage kaum nachkommen und arbeiten gerade daran, die Produktion zu vergrößern.

Was sind, davon abgesehen, eure nächsten Ziele, woran arbeitet ihr?

Ich lebe gerade in Köln, um Tempus Fugit auch in Deutschland bekannter zu machen, das mache ich vor allem mit dem Importeur und Vertriebshändler Markus Lion von Lion Spirits.

Es gibt einen ziemlichen Rückstand im Verhältnis von Nachfrage und Produktion historischer, aber eben natürlicher Liköre. Diesen haben wir, gemeinsam mit der Schweizer Oliver Matter-Destillerie, versucht aufzuholen und werden alsbald einige Neuigkeiten auf den Markt bringen. Die Nachfragen werden auch in absehbarer Zeit nicht aufhören und ich bin sehr dankbar darüber, dass wir es mit unserer doch recht kleinen Produktion geschafft haben, Bartender weltweit glücklich zu machen. Und das nur, weil ein Drink-Enthusiast dem anderen mal einen Tipp gegeben und uns weiterempfohlen hat – das ist einfach toll.

Credits

Foto: Peter Schaf

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