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Tess Posthumus

Tess Posthumus im Interview: „Viele Frauen in der Bar-Community sind lesbisch.“

26September 2019, Glasgow. Es ist 9 Uhr morgens und das erste Interview des Tages von Tess Posthumus im Rahmen des globalen Finales von Diageos World Class, wo sie als Jurorin vor Ort ist. Die Niederländerin betritt den Raum mit heiserer Stimme, lautem Lachen und einem Becher Kaffee in der Hand. Tess Posthumus ist eine der bekanntesten Bar-Persönlichkeiten Europas und betreibt gemeinsam mit Timo Janse die Bar The Flying Dutchmen in Amsterdam. Darüber hinaus hat sie mehrere Bücher veröffentlicht, als lesbische Frau engagiert sie sich aktiv für Offenheit und Diversität in der Bar-Szene. Vor allem aber ist Tess Posthumus zumeist eines: voller Energie.

»Was cool aussieht, muss auch gut schmecken. Das vergessen manche und legen zu viel Wert auf das Visuelle.«

— Tess Posthumus

MIXOLOGY: Tess, wann war Deine letzte Gastschicht in Deutschland?

Tess Posthumus: Das ist tatsächlich schon länger hier. Im Frühling war ich beim Deutschlandfinale der World Class Competition, das Sembo Amirpour gewonnen hat, aber da habe ich keine Gastschicht gemacht. Es wird wohl zwei Jahre her sein.

MIXOLOGY: Die deutsch-holländische Barverbindung scheint eben nicht so stark. Der Austausch könnte besser sein, oder?

Tess Posthumus: Das stimmt. Ich kenne die Ursache nicht, aber es gibt auf jeden Fall viel Verbesserungspotential. Vor allem, wo wir doch so nah beinander liegen und ähnliche Märkte und Voraussetzungen haben: Beides sind Länder ohne eine starke Cocktailgeschichte, wohl aber mit einer Trinkkultur. Wir haben die gleichen Herausforderungen, wenn es darum geht, Neues zu entdecken. Wir könnten uns gegenseitig inspirieren und auf jeden Fall mehr zusammen machen.

»Wir sollten mehr darauf achten, was wir hier in Europa haben. Hier gibt es extrem viel Geschichte, Kultur und Tiefe.«

— Tess Posthumus

MIXOLOGY: In den Niederlanden orientiert man sich traditionell in Richtung See. Vielleicht ist das ein Grund?

Tess Posthumus: Möglicherweise. Im Bezug auf Bar gilt das ja nicht nur für die Niederlande, sondern für die meisten europäischen Länder. Wir schauen auf London oder die USA, Stichwort: hip & happening. Meist betrachten wir eben nicht die Dinge, die wir bereits kennen, obwohl gerade da etwas sehr Interessantes passieren könnte. Das muss aber nicht so sein. Wir sollten mehr darauf achten, was wir hier in Europa haben. Hier gibt es extrem viel Geschichte, Kultur und Tiefe.

MIXOLOGY: Was ist die populärste Spirituose im The Flying Dutchmen?

Tess Posthumus: Ich bin ein Riesenfan von Genever, zum einen, weil es natürlich eine holländische Spirituose ist, zum anderen, weil ich ein Buch darüber schreibe. Es wird im März 2020 erscheinen. Also animiere ich mein Team, Genever anzupreisen. Gin ist natürlich nach wie vor im Trend, American Whiskey ist auch stark. Mezcal ist weniger ein Thema beim normalen Gast, sondern eher bei Bartendern, die uns besuchen.

MIXOLOGY: Was kann man von Deinem Genever-Buch erwarten?

Tess Posthumus: „Enzyklopädie“ ist vielleicht das falsche Wort, aber es wird in diese Richtung gehen. Es gibt verschiedenen Kategorien, was Genever ist und wie er gemacht wird. Es wird auf jeden Fall nicht zu geeky sein, sondern zugänglich verfasst sein. Der größte Teil soll die Geschichte des Genever beleuchten, vom Anfang der Wacholderbeeren bis hin zur gegenwärtigen Lage. In der Zeit dazwischen wurde ja jede Menge Genever exportiert, aber irgendwann war das Ganze plötzlich tot.

»Man muss die World Class nicht gewinnen, um bei der World Class zu gewinnen.«

— Tess Posthumus

MIXOLOGY: Genever ist auch eine komplexe Spirituose …

Tess Posthumus: Absolut, und es gibt es viele Geschichten darüber zu erzählen, da Genever mit vielen anderen Spirituosen verwoben ist. Es gibt eine Verbindung zu Scotch Whisky, zu Eau-de-Vie, Brandy und natürlich Gin. Da setze ich an.

MIXOLOGY: Die World Class, auf der wir uns hier befinden, ist der größte Wettbewerb für Bartender und für viele ein Türöffner. Wie war das für Dich?

Tess Posthumus: Ich habe zweimal auf internationaler Ebene teilgenommen. 2013 kam ich ins Semifinale, aber nicht ins globale Finale – damals wurde noch eine eigene Ausscheidung in Europa gemacht. Dann hatte ich auch ein paar Wettbewerbe in den Niederlanden gewonnen, oder mit Disaronno einen größeren internationalen. Aber als ich es dann 2015 zum globalen Finale geschafft habe, hat das extrem viel verändert.

MIXOLOGY: Was man nicht unterschätzen darf: Man ist dann aber auch viel unterwegs in diesem Jahr, oder?

Tess Posthumus: Definitiv. Es ist ein Spaß, aber die Work-Life-Balance in dieser Zeit ist eine große Herausforderung – wie in anderen Berufen auch. Ich sage den Teilnehmern aber immer: Ihr müsst die World Class nicht gewinnen, um bei der World Class zu gewinnen. Das beste Beispiel dafür sind Lauren Mote und ich. Wir waren im gleichen Jahr in Finale, wir haben beide nicht gewonnen, Lauren ist jetzt der Global Cocktailian und bereist die Welt für Diageo. Ich habe zu Beginn den Bartendern sowie bei der Produktion geholfen, die letzten zwei Jahre war ich als Judge dabei. Zwischendrin war ich bei den nationalen Wettbewerben in der Schweiz, Deutschland und Österreich.

»Was cool aussieht, muss auch gut schmecken. Das vergessen manche und legen zu viel Wert auf das Visuelle.«

— Tess Posthumus

MIXOLOGY: Wie bewertest Du die Veränderung in der Qualität seit Deiner Teilnahme 2013? Sechs Jahre sind in Cocktailjahren ja eine Ewigkeit …

Tess Posthumus: Es verändert sich eindeutig. Das Interesse um die ganze Branche wächst, immer mehr wollen Bartender werden. Ich habe zu Beginn noch die klassischen Fragen gehört: „Studierst du?“ „Was machst du später, wenn du erwachsen bist?“ Heute ist der Beruf des Bartenders akzeptiert, das Image ist ähnlich wie bei Köchen. Das war eine große Veränderung. Man sieht es auch in Wettbewerben. Es gibt junge Bartender, die früher loslegen, der Einfluss von Social Media wächst – im Guten wie im Schlechten: Der Fokus wird ein bisschen zu stark auf Instagrammability gelegt. Was cool aussieht, muss aber auch gut schmecken. Das vergessen manche und legen zu viel Wert auf das Visuelle.

MIXOLOGY: Du bist ebenfalls sehr aktiv auf Instagram. Meist ist eine Tess mit strahlendem Lachen zu sehen …

Tess Posthumus: Stimmt. Bei mir geht es nicht um instagramtaugliche Cocktails. Ich würde dir auch nur einen Drink mit einem, sagen wir, Papagei darauf servieren, wenn der Papagei eine Funktion für den Drink hätte. Es ist ein schmaler Grat. Ja, Social Media ist wichtig, auch für Bartender. Heute Abend (das Interview wurde am letzten Finaltag geführt, Anm. d. Red.) wird es nur einen Gewinner geben. Dann ist das Jahr vorbei und der nächste wird gesucht. Das bedeutet, von 55 Teilnehmern werden 54 nicht gewinnen. Wir sitzen jetzt hier und machen Interviews, aber danach fahren wir alle wieder nach Hause, müssen weitermachen und die Geschichten selbst erzählen. Social Media hilft dabei.

»Wir unterhalten uns auch darüber, wie wir uns kleiden, denn wir sind uns über die Rolle als lesbische Role-Models bewusst.«

— Tess Posthumus

MIXOLOGY: Auf Instagram unterstreichst du auch die Tatsache, dass du eine lesbische Frau bist, und das in einem männerdominierten Business. Du hast auch mal geschrieben, was die Tess aus dem Jahr 2006 wohl über die Tess 2019 sagen würde. Wie findest du die Barszene in der Hinsicht?

Tess Posthumus: Es ist nicht einfach. Ich habe damit kein Problem, aber ich habe es immer im Hinterkopf. Beispielsweise heute Abend: Der Dresscode der Party ist schwarz. Ich bin aber nicht der Typ für ein Kleid. Es ist eine männerdominierte Branche, vergleichbar mit der Kochwelt. Aber viele von den Frauen, die in dieser Industrie arbeiten, sind lesbisch. Das hat etwas zu bedeuten. Ich habe immer stark für mich gekämpft, weil ich ein Vorbild sein will für Frauen und Männer, die in Ländern leben, wo es nicht so selbstverständlich ist, homosexuell zu sein, wie es das in den Niederlanden ist. Es ist mir also immer bewusst, dass ich schwule Frauen repräsentiere.

MIXOLOGY: Was wirst Du dann heute Abend tragen?

Tess Posthumus: Es wird eine weibliche Form eines Anzugs werden. Julie Reiner, die eine lesbische Ehe führt und ein Kind hat, trägt Kleider. Wir unterhalten uns auch darüber, wie wir uns kleiden, denn wir sind uns über die Rolle als lesbische Role-Models bewusst.

MIXOLOGY: Du bist auch Mit-Organisatorin der Cocktail Week in Amsterdam, die 2020 das vierte Mal stattfinden wird. Wie ist die Entwicklung?

Tess Posthumus: Gut! Es wächst langsam, aber es wächst. Dieses Jahr machen 54 Bars mit. Wir statten jede davon mit einer alkoholischen und einer alkoholfreien Spirituose aus – wir wollen auch verantwortungsvolles Trinken promoten. Die Cocktail Week ist eine Plattform, um mehr holländische Konsumenten zum Barhopping und zu Cocktails zu bewegen. Viele Gäste sind immer noch Touristen oder Expats.

MIXOLOGY: Und wenn Du einem Gast nur einen Drink servieren könntest, Deinen Lieblingsdrink. Was wäre das?

Tess Posthumus: Eine furchtbare Frage! Aber wenn ich mich nur für einen Drink entscheiden dürfte oder müsste, dann wäre es ein Corpse Reviver No 2.

MIXOLOGY: Tess, vielen Dank für das Interview.

Credits

Foto: ©Floris Heuer

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