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The Garnish Wars, Episode X: Die große Ablenkung

Noch immer gibt es Bars, die auf opulente oder teils skurrile Staffage ihrer Drinks setzen. Wo eine Garnitur normalerweise einen kleinen optischen Akzent setzen und einen Cocktail vielleicht noch aromatisch erweitern soll, wird die überbordende oder „kreative“ Garnitur aus unzähligen Komponenten schnell zur unnötigen Ablenkung vom Inhalt des Glases. MIXOLOGY-Chefredakteur Nils Wrage mit einer nicht ganz sachlichen und ebenso wenig objektiven Polemik.

Die letzten eineinhalb Jahre mit ewig geschlossenen Bars, wenig sozialen Kontakten und wenig Gastronomiebesuchen hatten es mich fast vergessen lassen. Doch vor einigen Tagen sah ich dann wieder ein Video, das mir den Missstand ins Gedächtnis zurückgerufen hat. Es gibt sie noch. Die Garnish Wars.

Das Video, um das es geht und das mir ein Bekannter aus einer Bar geschickt hatte, lieferte das volle Programm: Es zeigte einen Drink, der mit einer Eiskugel in einer kleinen Metalldose samt Deckel serviert wurde. Die Dose stand auf einer hölzernen Farbpalette, neben ihr eine kleine Staffelei mit einem Stück Pergament (oder Oblate, ich habe mich nicht zu fragen getraut). Wiederum daneben waren drei unterschiedlich gefärbte Kleckse von Etwas, mit denen man auf die Leinwand pinseln konnte. Natürlich lag auch der Pinsel bei, man musste ihn nicht mitbringen. Wer bringt schon einen Pinsel mit in eine Bar? Eben. Full Service. Garniturservice.

Wenn das Lachen im Halse steckenbleibt

Nachdem ich vom Stuhl gekippt war, sah ich mir das Video erneut an. Und dann noch ein drittes Mal. Der trashige Dekorationswahnsinn zog mich zwar in seinen Bann, klar, aber er stieß mich auch ab. Es war ein bisschen wie das Klischee vom Autounfall, bei dem man auch hingucken muss. Beim vierten oder fünften Anschauen dann blieb das Lachen aber schließlich aus. Denn mir fiel auf, dass man sich in der Bar, die dieses crazy Ungetüm serviert, offenbar primär auf Staffage versteht – die Eiskugel im erwähnten Metallbecher hingegen war weit entfernt von Hochwertigkeit: Sie war schrundig, runzelig und milchig. Sie war alles, was eine Eiskugel in einer Bar mit Anspruch im Jahr 2021 nicht sein sollte. Und auch der Drink war höchstens passabel, schrieb mir der Bekannte hinterher. Das war es immer, was mich gestört hat, was den Garniturblödsinn zu echten Garnish Wars macht: Mit dem Beiwerk wird die große Hafenrundfahrt annonciert. Aber im Glas bleibt es ein Ausflug mit dem Tretboot auf einem Ententeich. Blending.

Vielleicht mag man mir in dieser Hinsicht auch einen generellen Konservatismus vorwerfen. Aber ich halte das eher für eine universelle, zeitlose Sichtweise, die auch schon Charles Schumann formuliert hat: „Ein Cocktail ist kein (…) Obst- oder Gemüsesalat und schon gar nicht geeignet für Regenschirmchen und Nationalflaggen.“ Und noch etwas eint mich mit ihm: Denn Auswüchse wie oben erwähnt haben immer den Ruch, darüber hinweg täuschen zu sollen, „dass diese Getränke lausig sind“. Aber man braucht für einen solchen Standpunkt gar nicht unbedingt das barkulturelle Autoritätsargument namens Charles Schumann. Auch generell ist ein recht verbreiteter Konsens, dass wahre Meisterschaft in fast allen Bereichen – ob Kulinarik, Kunst, Architektur, Musik oder Literatur – sich oft durch Minimalismus und Klarheit auszeichnet. Nicht durch Überfrachtung.

Gerümpel als Generationsfrage?

Das ändert leider nichts daran, dass „kreatives“ Dekorationsgerümpel in den Augen recht vieler Barleute noch immer absolut heißer Scheiß zu sein scheint. Auch Barschulen ermutigen ihre Schüler in einigen Kursen mittlerweile, Drinks auf der Fläche eines Platztellers mit allerlei Tand auszustatten. Woher mag das kommen?

Natürlich liegen die Wurzeln in den großen emanzipatorischen Jahren der Barszene, den Jahren ungefähr ab 2007, 2008 oder 2009 also, als die international immer besser vernetzte Community mehr und mehr Fahrt aufnahm. Die wichtigste Grundaussage damals: Wir wollen ernstgenommen werden. Diesen Zweck erfüllten unter anderem auch barocke, objektiv vollkommen blödsinnige Garniturmanöver. Denn sie sagten: Wir machen nicht einfach nur Sex On The Beaches, wir machen ernsthafte Handwerkskunst.

Das war damals durchaus (teilweise) sinnvoll und auch wichtig. Aufwendige Garnituren als Generationsfrage? Vielleicht. Weil man eine Zeit lang der wichtigsten Person – dem Gast – auch dadurch signalisieren konnte, dass man Bar als mehr begreift als das schlichte Mischen und Hinstellen eines alkoholischen Getränks. Mehr als die Zitronenscheibe. Mehr als die grellrote Plastik-Kirsche. Eben mehr als nur eine kleine Pflichtübung, die irgendwie obligatorisch ist. Wie gesagt: In manchen Fällen war das sinnvoll. Meistens aber nicht.

Die schlichte Garnitur als Akt der Demut vor dem Ort

Irgendwann war es jedenfalls nur noch erbärmlich. Der mit Liberace-Pomp samt gewaltigem Eisblock in einer Cocktailschale auf einem Palisanderholzpodest platzierte, mit zwei Blüten, einem Kräuterzweig, einer Ecke Bitterschokolade, einer Zeste und einem verunglückten Espuma ausgeschmückte sowie durch ein Foodpairing begleitete Cocktail als ganzheitliches sinnliches Erlebnis ist eine verschroben herbeifabulierte Fiktion, eine Illusion und ebenso Blödsinn. Gleiches gilt für die oben erwähnte Staffelei und den Bar-Tuschkasten, für irgendwelche mit Dampf oder Rauch gefüllten Glasglocken (die die fünf Nebentische eh nur olfaktorisch nerven), für einen Bluetoothlautsprecher, der zum Drink passende Musik rausschnauft. Sowas macht man traditionell nur bei Cocktailcompetitions und mit Drinks, für die sich danach keine Sau mehr interessiert.

Ansonsten aber ist sowas unnötig und gefährdet sogar das ganzheitliche sinnliche Erlebnis: Dieses Erlebnis gibt es in einer Bar nämlich ganz von alleine – durch die Stimmung, die Geräuschkulisse, die vom Team verbreitete Atmosphäre, durch die Gerüche, durch die Anwesenheit fremder und bekannter Menschen, mit denen man den Augenblick teilt. Das braucht es. Keinen Cocktail, dessen optischer Auftritt höchstens im Wohnzimmer von Donald Trump oder einem Film von Tim Burton unauffällig wäre. Gerade die Pandemie, die Lockdowns und das Wiedererwachen der Bars haben uns das mit aller schmerzlichen Deutlichkeit gelehrt: Wir haben nicht den Drink vermisst. Wir haben die Bar vermisst. Und die Bar braucht keinen Popanz aus irrsinnigem Beiwerk, sie braucht Drinks, die man schlicht und demütig zubereitet, die den Ort namens Bar mit Leben füllen. Sie sollen ihm nicht die Show stehlen.

Der Laborkolben und das Einmachglas lassen grüßen

Immerhin scheint inzwischen wenigstens der recht lang präsente Trend überstanden, Drinks bloß nicht in Gläsern zu servieren. Sie wissen schon, da gab es so eine Phase. Auch so eine Phase, noch so eine Phase. Diese Phase, während der Cocktails gern in Blumentöpfen, leeren Gemüsekonserven, Asia-Imbiss-Lieferschachteln, ess- und kompostierbaren Papphütchen oder in ominösen, den Geschmack massiv beeinträchtigenden Holzschüsseln serviert wurden. Nicht zu vergessen: der Erlenmeyerkolben from hell. Angesichts der mitunter gebotenen Darreichungsform einiger cocktailkultureller Hervorbringungen wären selbst Puristen manchmal schon mit einem Tiki Mug zufrieden gewesen. Dabei gibt es wirklich wenig Dinge, die von solcher Eleganz und Zeitlosigkeit sind, wie es ein schlichter Tumbler oder eine Coupette bieten. Eine noch gelungenere Verschmelzung von Zweckmäßigkeit und Gestaltung ist vielleicht nur noch die moderne Toilette. Ja, ich weiß. Es gibt auch Becher, die wie eine Toilette aussehen.

Immerhin hatte ich stets das gute Gefühl, mit dieser Sichtweise nicht allein zu sein: Der grandiose Instagram-Account WeWantPlates ist ein beredter Zeuge des Wahnsinns all jener Serviervorschlagsgemeinheiten, die besser auf ewig im Kopfe ihres Erfinders geblieben wären. Das Einmachglas mit dem Schraubverschluss jedenfalls hat sich inzwischen von genau dort den Weg in die Outlets der Kettengastronomie gebahnt, um millionenfach als Limonadendistributeur zu dienen. Sie wissen schon, so Franchise-Läden, die auch im Jahr 2021 immer noch mit alten Europaletten als Möbel bestückt werden. Für solche Läden ist das Limonadenweckglas – zumindest, wenn sie auch Burger verkaufen und in denen vollbärtige Männer noch als Hipster betrachtet werden – mittlerweile sogar Pflicht. Festgeschrieben in der Freiwilligen Selbstkontrolle Städtische Systemgastronomie. Glaube ich. Wenigstens tragen diese Limonaden keine Garnitur.

Klarheit statt Klimt!

Verschwinden werden derlei Dinge nie. Es wird immer jemanden geben, der einen irritierend zurechtbramabasierten Cocktail für interessant hält oder für, noch schlimmer: witzig. Macht nichts, einige der größten oder bekanntesten Barleute haben sich da in der Vergangenheit ebenfalls die eine oder andere Todsünde erlaubt. Sogar Alex Kratena und Simone Carporale haben damals, als das von ihnen geleitete Artesian in London mehrfach hintereinander zur „World’s Best Bar“ gekürt wurde, ganz und gar himmelsschreienden Unfug getrieben, der nicht das Geringste mit sinnhaften Garnituren zu tun hatte. Ich weiß nicht mehr genau, was das war. Aber da flogen irgendwelche Ballons oder Duftblasen durch die Gegend. Das war dann die Garnitur. Und Marian Beke – zweifelsfrei einer der einflussreichsten und besten Bartender unserer Zeit, der teils unglaubliche Drinks entwickelt – feiert und feuert in seinem The Gibson in London ein derart skurriles Requisitentheater um seine Cocktails herum ab, dass man sich wie in einer Mischung aus Monkey Island und einem von Gustav Klimt gemalten holländischen Stillleben vorkommt. Mit Bar hat das nichts zu tun.

Bis zur nächsten Episode …

Beenden will ich die heutige Schlacht der Garnish Wars aber mit einem kleinen weißen Fähnchen. Ja, auch ich habe mal diesen schweren Fehler gemacht. Ich habe ihn lange mit mir herumgetragen. Aber ich gestehe es lieber jetzt und hier, denn sonst leakt das irgendwo bei Leuten, die dem Magazin gern schaden wollen: Auch ich habe mal eine Zeit lang zwei Drinks in einem Einweckglas serviert, nämlich zwei Varianten von Mai Tai und Fog Cutter. Das war so Ende 2014, kurz bevor ich mit der Bar aufhörte und nur noch als Journalist zu arbeiten anfing. Offenbar hatte mir da eine leise Stimme ganz dezent zugeflüstert, dass jeder seine Stärken hat. Darauf einen kleinen Negroni. Sogar ohne Orangenzeste. Aber dafür aus einem Glas. Bis zur nächsten Episode der Garnish Wars.

Credits

Foto: Hyo-Song Becker

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