Eine Szene im Aufbruch: Zu Gast auf dem zweiten Tirana Cocktail Fest
Ich war noch nie in Tirana, aber ich weiß, wo die Hauptstadt von Albanien auf dem europäischen Atlas liegt. Zumindest ungefähr, so wie es vermutlich vielen geht. Nämlich bei Montenegro und Griechenland. Beide Staaten bilden die Nord bzw. Südgrenze des Landes; im Norden außerdem noch der Kosovo, im Osten Nordmazedonien und im Westen weitestgehend das Meer. Die Währung ist der Lek, und, grob umgeschlagen, wird dieser zum Euro mal einhundert genommen: ein Euro ist 100,24 Lek.
Albanien gehört herzlich vielen EU-Abkommen und globalen Kooperationen an, ist etwas kleiner als Belgien und hat ein My mehr Einwohner als Schleswig-Holstein. Aber es hat zwei Brüder in der Hauptstadt sitzen, die sich der Weiterentwicklung der nationalen Trink- und Cocktailkultur angenommen haben. Das sind Sofokli und Evi Cali, die beiden Veranstalter des Tirana Cocktail Fest, das am 23. Mai zum zweiten Mal stattfand. Sofokli ist zudem Betreiber der hauptstädtischen Bar Nouvelle Vague. Das Fest hat (noch) wenig mit Bar Show oder Convent zu tun. Hier geht es um das Miteinander, ohne dass es ein Sauffest ist. Es geht um den Austausch, aber ohne Eierschaukelei. Und eben um nationale aromatische Kulturgüter, doch weit weg von Angeberei. Aber die Tirana Cocktail-Szene boomt, und Sofokli Cali und seine Bar sind die treibende Kraft dahinter.
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Die Gastfreundschaft in die Wiege gelegt
Er selbst wurde 1985 geboren, als das Land noch unter kommunistischen Diktatur stand. Der Vater der Brüder war Bürgermeister im Süden Albaniens. Weil es in keiner Stadt des Landes allerdings mehr als ein oder zwei kleine Läden oder Gastronomien gab, waren die Einwohner gezwungen, sich die Zeit bei gegenseitigen Besuchen schön zu essen – und zu trinken. Wenn „Sofo“ sich an seine Kindheit erinnert, dann hatten sie ständig Besuch zuhause und bei den Großeltern. „So war es bis zum Sturz des Regimes 1991, als wir bereits nach Griechenland ausgewandert waren und jeden August für ein paar Tage Urlaub zurückgekommen sind. Es waren jeden Tag Menschen zu Besuch da, um Zeit mit meinem Vater zu verbringen. Die politischen Dinge interessierten mich weniger, was aber meine völlige Bewunderung einfing, war, wie meine Mutter und meine Großmutter den Gästen ständig Respekt und Aufmerksamkeit zollten. Und mit Respekt meine ich ihre Art und Weise als Gastgeberinnen. Das war eine Choreografie. Sie hörten nie auf, Gliko – eine hausgemachte Süßspeise – zu bringen oder immer ein Schlückchen Raki für die Männer und einen selbstgemachten Likör nach Saison für die Frauen nachzuschenken.“
Danach war selbstredend „Mezze“-Zeit, die Antipasti des Balkans, bloß deutlich üppiger und endloser. „Mein persönlicher Weg in der Welt der Gastlichkeit hat sehr früh begonnen und ich werde nie vergessen, wie glücklich, herzlich und zufrieden alle miteinander waren. Ich glaube auch, dass das der einzige Grund ist, aus dem ich diesen Job mit so viel Herzblut und Leidenschaft ausführen kann – weil ich schlichtweg so erzogen bin, ob gewollt oder auch nicht.”
Das war also klein Sofo, sechs Jahre alt. Das Land hat sich seither entwickelt, der Bub auch, gemeinsam mit dem Bruder. Die Träume von der gemeinsamen Bar gediehen und wuchsen. Es musste 2009 werden, bis sie endlich eine Bar am Strand eröffneten. Auf der küstenfreien Tirana-Tour zeigt er uns Bilder einer unverschämt atemberaubenden Küste im Süden, an der all dies stattgefunden hatte. Die Bar hieß Bossa Nova, das bedeutet übersetzt neue Welle. Und so war es auch gedacht, es sollte eine neue Welle in die albanische Trinkkultur geschwappt kommen.
Nach zwei Jahren ohne dezidierten Businessplan, ohne eine richtig gute Örtlichkeit für ihre gedankliche neue Welle gefunden zu haben, sind sie mit den Gedanken nach Tirana geschweift – und haben sich für das Nouvelle Vague entschieden, als städtische Version des Bossa Nova, denn es bedeutet ebenfalls „neue Welle“. Die Bar wurde am 22. Dezember 2012 eröffnet, und zwar mit genau einem Ziel: für eine angenehme Stimmung zu sorgen und Menschen glücklich zu machen. Danach folgten drei Schwester-Lokalitäten, darüber hinaus richten die Brüder auch Caterings aus, vom kleinen Privatevent bis zur Techno-Parade.
Die Nouvelle Vague zeigt den Weg
Im Nouvelle Vague wird versucht, Gastschichten umzusetzen. „Bislang hat das das Barteam und die Barszene beflügelt und ich versuche weiterhin, Bartender aus aller Welt in die Stadt und unsere Bar einzuladen, damit sie ihre Drinks zeigen und wir unsere Gastfreundschaft beweisen können.“ Und Tiranas Barszene floriert. Für Außenstehende kommt das möglicherweise überraschend, für Sofo nicht: „Man muss sich das mal vorstellen: Albanien in dieser Form gibt es erst seit 1991, gefolgt von einem Jahrzehnt des kompletten Chaos inklusive Bürgerkrieg und einer zum Großteil emigrierten Bevölkerung. Im Grunde sind wir Albaner also alle mehr oder minder in unseren Mittzwanzigern – und somit in einem Alter, in dem man nicht so recht weiß, wohin mit sich,” lacht er.
In einem Menschenleben betrachtet sind die Mitzwanziger für viele die Jahre, in denen die Liebe zur Bar in festere Formen gegossen wird: Von hieraus geht die Reise los, von hier aus wird es ernst. Das erste Tirana Cocktail Fest war mehr oder minder ein Experiment, das zweite ist schon eine Form der Bestätigung, lange aber noch keine Ankunft. Wer will schon gänzlich ankommen mit dreißig?
In Athen und Tirana groß geworden, brach der Kontakt von Sofo nach Athen nie ab, Bruder Evi war außerdem Schüler der dortigen Bar Academy und alle beide stets Stammgäste der Athens Bar Show. Sie luden Dionysis Polatos (Ipitou) und Christos Gkolfis (Theosis) ein, das ist nun sieben Jahre her und die allererste Gastschicht im Nouvelle Vague – und vermutlich Tirana und Albanien überhaupt – war vollbracht. In Mut gemantelt, wurde sodann Thanos Prunarus (Baba au Rhum) geladen und die Sache größer aufgezogen. „Als wir all unsere Gäste eingeladen und verkündet haben, dass sie heute nicht Drinks von uns, sondern die einer anderen Bar trinken würden, war das für alle ein regelrechter Schock, das hat es so noch nie gegeben.” Aber die Sache ging gut, es kam Vasilis Kyritsis (u.a. The Clumsies, Line, sowie aktuell Schweppes) und die Gastschicht in Tirana war etabliert.
Tirana Cocktail Fest: Volles Haus bei Runde Zwei
Das erste Tirana Cocktail Fest fand dann am Schwesternort „Tunel Terrace“ auf der Terrasse des The Palace of Culture of Albania statt. Das wiederum ist das größte Kulturzentrum des Landes, beherbergt wichtige kulturelle Einrichtungen und verhilft dem Festival somit zu einer ziemlichen Ansage. „Die Albaner kennen durchaus große Festivals, aber keine, bei denen man sich ausschließlich der Cocktailkultur widmet, das hat die Leute verwirrt und sie waren skeptisch.” Bis sie eines Besseren belehrt wurden. Am Brett waren Lost and Found (London), Himkok (Oslo), The Bar in Front of the Bar (Athen), Locale (Florenz) und L’ Antiquario (Neapel) „and they did their magic“, so Sofo: „Alle waren positiv überrascht, das war ein neuer Anfang für unsere Barszene.”
Im Blick auf die zweite Runde hatte man keine drei Jahre Zeit für die Planung wie beim ersten Mal, also sprach Sofo direkt den Bürgermeister an und bat um Hilfe – die er bekam. Mit dem „Sarajet e Toptanëve“, einem staatlich geschützten Kulturdenkmal, sollte das Festival genau den historischen Boden bekommen, auf dem es in die Zukunft trinken und tanzen wollen würde. Es befindet sich in der Mitte der Stadt und keine andere Veranstaltung solcher Größe hatte dort je stattgefunden. Zu Gast waren Svanen (Oslo), Red Frog (Lissabon), The Bar in Front of the Bar (Athen) und Santa (Florenz), mehr als 600 Drinks wurden zubereitet und waren in nur einer Stunde ausverkauft. Klare Ansage ans nächste Jahr, sollte man meinen. Natürlich war das Fest nicht zu Ende, DJs aus den UK und Italien sorgten für anhaltende Stimmung, Wiedersehensfreuden und Restgetränke außerdem.
So aufgewärmt man nach einer Reise, insbesondere mit Kolleg:innen, Alkohol und langen Nächten sein mag – sie liegt inzwischen einige Zeit zurück, was Gelegenheit geboten hat, sich zu beruhigen. Trotzdem: Albanien war anders als andere Reisen. Weshalb, kann Sofokli Cali besser formulieren: „Was uns im Blick auf unsere Nachbarländer besonders macht, das ist das Ausmaß dessen, wie wir für Gastlichkeit einstehen. Für uns Albaner gleicht Gastfreundschaft einer Art Religion. Wir haben ein Sprichwort: ‘Für die Albaner gehört ihr Zuhause dem Gast und Gott.’ Menschen willkommen zu heißen und sie froh zu sehen, gehört zu dem, wovon wir zehren. Wohin auch immer du gehen wirst, sei es in Albanien oder außerhalb – du wirst sofort bemerken, ob ein Drink, ein Kaffee oder ein Essen aus den Händen eines Albaners kommt oder nicht; und das liegt nicht am Aussehen oder am Geschmack, sondern an der Art und Weise, wie es dir serviert wird.”
Das mögen viele sagen, aber hier stimmt es wirklich.
Credits
Foto: Tirana Cocktail Fest