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Tour de Trance, Teil 1: Prolog – toxischer Alkohol und die Zukunft des Rausches

Achtung! Hier kommt ein Text aus der Vorhölle des Antiquierten. Die Ansichten des Autors sind aus der Zeit gefallen und das Folgende könnte ihre Gefühle verletzen. Zumal das Thema der gesellschaftliche Umgang mit Alkohol sein soll. Diese toxische, männliche Kulturmissgeburt ist das Synonym für Fussballrandale, Oktoberfestdelirium, Aggressionen, Krankheit und Tod. Alkohol macht Vernunft und Tugend besoffen, Alkohol ist rechtsoffen. In dieser Serie in einem Prolog und drei Teilen reflektieren wir die aktuellen Debatten über den gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol. Droht uns eine restriktive Politik wie in Skandinavien? Haben wir bald Warnhinweise auf Weinflaschen? Droht gar einen weiterer Kulturkampf, diesmal mit den Cannabis-Jüngern? Wie sieht die Zukunft des Genusses und des Rausches aus? Kulturtechniken, ohne die Menschsein nicht denkbar ist. In diesem Prolog werfen wir ein paar Schlaglichter, die in die kommenden Themen der Serie einführen – und noch ausführlicher erörtert werden.

„Ihr könnt uns den Alkohol nehmen, nicht aber den Rausch.“ (Peter Richter – Über das Trinken.)

Das Schwarzweißfoto ist zur Ikone geworden. Auf ihm ist zu erkennen, wie ein Mann an einem kargen Tisch in einem kommod möblierten Café sitzt. Vor sich eine Karaffe mit Wein, halbvolles Glas. Er löffelt eine Suppe in gekrümmter Haltung. Die nackten Beine krustig vom Staub und Dreck. Vor dem Tisch lehnt sein Rennrad. Ein anderer Mann späht verstohlen durch die Eingangstür, beobachtet den Mann am Tisch und den Kellner, der sich diesem nähert. Der Mann heißt Robert Jacquinot und ist Radrennfahrer. Aber nicht irgendeiner. Er fährt gerade die Tour de France, hat die erste und die dritte Etappe gewonnen, vier Tage das legendäre Gelbe Trikot getragen und befindet sich hier gerade auf der fünften Etappe in Les Sables d’Olonne.

Es ist das Jahr 1922. Ein Jahr später wird er wieder zwei Etappen gewinnen und das Gelbe Trikot tragen. Jacquinot macht also eine Pause und trinkt zur Stärkung ein Gläschen Wein. Es gibt noch andere Fotos von Rennfahrern jener Zeit, die ihre Pause mit einem Gläschen – Wein oder Bier – begleitet haben. Aber keines ist so berühmt geworden. Warum? Es teilt dem Betrachter mit, dass sich hier Askese mit Lust verbindet. Die Lust am Schmerz, der Qual, der „Erfahrbarkeit“ körperlicher Grenzen und jener, die das Leben mit seinen Passionen des Genusses feiert.

100 Jahre können viel verändern

Das ist gerade einmal 100 Jahre her. Unvorstellbar. Oft wird in Debatten über Maßnahmen,  Gesetze, Vorschriften, Weltanschauungen – im schlimmsten Falle Ideologien –, gesellschaftliche Normen oder normative Ethik auf den Faktor Zeit verwiesen: „Wir sind schließlich in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts.“ Ein ziemlich dümmliches Argument, da fortschreitende Zeit kein absoluter Wert ist, um Dinge zu rechtfertigen oder zu bewerten. Es würde wohl kein Mensch behaupten, dass die 1940er Jahre liberaler und fortschrittlicher waren als die 1920er oder die 1990er, als die 1970er.

Ebenso ist fraglich, ob die heutige Praxis, sich während der Tour-Pausen in Hotelzimmern Blutdoping transfusionieren zu lassen, einen Fortschritt gegenüber Jacquinots Einguss mit Rotwein darstellt. Offenbar seit Jahren gängige Praxis und Konsequenzen hat das nur, wenn die Sache in flagrante delicto auffliegt. Jacquinot ist jedenfalls niemals kollabierend vom Rad gefallen, war stets ein Sportsmann der hohen Schule und hat ein Leben bis ins biblische Alter geführt. Würde allerdings heute von einem Rennfahrer bei der Tour bekannt werden, dass er abends zur Entspannung nach den Strapazen gerne mal ein paar Bier trinkt, wäre er gesellschaftlich in Acht und Bann, Job und Sponsoren wäre er verlustig, für die Zukunft erledigt. Richtig so! Sportler sind Vorbilder – ach was, „Vorbild“ ist auch aus der  antiquierten Hölle, Role-Model muss es heißen –  und es ist schließlich 2022.

Auto als Bulle

Ab Juli 2022 dürfen in Europa nur noch Autos ausgeliefert werden, die über eine Schnittstelle messen, ob der Fahrer Alkohol konsumiert hat. Das reiht sich ein in die Tendenz, der Technik eine paternalistische Autorität gegenüber der Autonomie des Anwenders einzuräumen. Das iPhone überwacht über Bluetooth angeschlossene Lautsprecher hinsichtlich der Lautstärke, z.B. im Auto. Wird innerhalb einer gewissen Zeit ein vorher festgelegter Grenzwert überschritten, wird automatisch eine Lautstärkelimitierung vorgenommen. In der Literatur werden immer häufiger Romane ausgeliefert, die in Vorstelltexten auf „problematische Inhalte“ hinweisen. In den Lektoraten werden zunehmend sogenannte Sensitive Readers beschäftigt, die bereits vorab Einfluss nehmen, auf Inhalte, Gesprochenes und Erdachtes. Sehr zur Freude von Neojakobinern und Tugendwächtern. Als wären wir nicht 160 Jahre weiter seit der Zeit, als Flaubert und Baudelaire ihre Prozesse gemacht wurden. Ja, es ist schließlich 2022.

Wohlgemerkt: Über das „Social Scoring“ in China zeigt man sich noch empört. Während das Scoring-System in China mit Wohlverhalten des Einzelnen im Dienste des Kollektivs begründet wird, zieht man in Deutschland (Europa) den Schutz des Individuums zur Rechtfertigung heran. Was geschieht eigentlich in nächster Zukunft, wenn bei einem Autobesitzer dreimal hintereinander von seinem Fahrzeug festgestellt wird, dass Alkohol oder Restalkohol im Atem nachweisbar ist? Das Auto als institutionalisierte, persönliche Verkehrskontrolle. Folgt dann eine Meldung an die Behörden? Fragt der Autor den Sprachassistenten Siri: „Siri, trinkst du Alkohol?“, erhält man zur Antwort: „Ich brauche nicht zu trinken, aber ich habe Wissensdurst.“ Ja sicher, nach meinen Daten, Gewohnheiten und Ansichten. Warum wird überhaupt nur Alkohol am Steuer detektiert? Angesichts der immensen Zahl der Kiffer wäre doch eine Messung des THC-Gehalts über die Haut nur fair. Fragt man Siri, ob sie Cannabis rauche, kommt nur prosaisch: „Nein, tue ich nicht.“ Fragt man nach Haschisch, wird verschämt erklärt, man wisse nicht, was damit gemeint sei, könne aber eine Websuche starten.

Wein nicht tödlich und die Sonne abkleben

Im Februar 2022 hat die EU einen Krebsbekämpfungsplan beschlossen. Wunderbar, denkt man sich. Die vielversprechende mRNA-Forschung wird großzügig unterstützt, da in ihr berechtigte Hoffnungen liegen, dieser Geißel in Teilen Herr zu werden. Nun verhält es sich aber so, dass sich die Weinbranche Europas freut, dass es ihr (noch) nicht allzu heftig an den Kragen ging. Es geht also vorrangig um Prävention, auch sehr löblich. Vorgesehen waren Etikettaufdrucke wie: „Alkohol ist tödlich“ oder „Alkohol ist krebserregend“. Das ist gewichen zugunsten von „Informationen“ zu moderatem und verantwortungsvollem Alkoholgenuss. Allerdings soll über geänderte Werberichtlinien und Steuererhöhungen nachgedacht werden. Grundlage der Initiative waren Studien, dass es keinen auch noch so milden Konsum von Alkohol gäbe, der nicht gesundheitsgefährdend sei. Bis vor Kurzem gab es eine Fülle von Studien, die genau das Gegenteil behaupteten.

Ein Freund des Autors dieses Beitrages ist ein international renommierter Professor für Biochemie und Ernährungswissenschaften an der ETH in Zürich und bestätigt, dass man hierzu keine validen Aussagen machen könne. Außer natürlich, man gibt sich dem übermäßigen Konsum hin, aber auch da habe man das Problem der Eingrenzung. Es wäre interessant, einmal die Sonnenmilchindustrie ins Visier zu nehmen. Es weiß jeder, dass intensives Sonnenbaden oder gar ein Sonnenbrand Hautkrebs verursachen kann. Verführen die aufgeführten Schutzfaktoren auf den Verpackungen nicht geradezu, immer ans Limit des noch Erträglichen zu gehen? Jedes Jahr erkranken in Deutschland über 200.000 Menschen an Hautkrebs – der häufigsten aller Krebsarten. Solange wir die Sonne selbst nicht abkleben können, wären zumindest großflächige Warnhinweise auf den Verpackungen angebracht, statt sie im Kleingedruckten mit der Lupe suchen zu müssen. Es ist 2022 und man kann unmöglich von selbst Wissen, dass man sich beim Sonnenbaden Risiken aussetzt. Man weiß ja auch nicht ohne Hinweis, dass täglich zwei oder drei Flaschen Wein irgendwann dramatische Folgen haben können.

Kein Bier ist auch keine Lösung

Unter dem Suchbegriff Alkohol lassen sich im Netz schnell unzählige Artikel finden, die sich mit den Gefahren des Alkoholkonsums beschäftigen. In den letzten Jahren mit zunehmender Frequenz. Man könnte sie zusammenfassen unter der Schlagzeile: „So gefährlich ist das tägliche Feierabendbier.“ Meist werden dann Studien referiert, die einen positiven gesundheitlichen Aspekt, dank „gesunder Antioxidantien“ behaupten und solchen, die das Gegenteil belegen. Selten wird darauf hingewiesen, dass Probanden, die nie in ihrem Leben einen Tropfen Alkohol getrunken haben, kaum bis keine Vorteile davontragen, hinsichtlich einer Suffizienz des Herz-Kreislauf-Systems oder neurologischer Erkrankungen wie Schlaganfälle. Da diese sich nämlich oft in einer sozialen Isolation befinden, sich weniger bewegen, weisen sie einen höheren Body-Mass-Index auf oder leiden unter Bluthochdruck. Die Unwägbarkeiten sind mithin groß.

Gehäuft gelangen im Jahr 2022 Forderungen an die Öffentlichkeit, den Zugang zu Alkohol zu erschweren, insbesondere für Jugendliche. Im März forderte die Grünen-Bundestagsabgeordnete Linda Heitmann, nach dem Vorbild Schwedens „hochprozentigen“ Alkohol nur noch in staatlich lizensierten Shops erwerben zu können. Das wäre dann alles über 3.5 % Vol. Die Berliner Grünen haben sich dem Vorstoß angeschlossen. Tanke, Supermarkt oder Späti wären davon betroffen. Wie diese Rasenmähermethode funktioniert, die aus dem sinnvollen Ansatz Jugendliche zu schützen, gleich eine ganze mündige Gesellschaft kujoniert, dem sei ein nächtlicher Wochenendbesuch in Skandinavien und zur besonderen Erbauung auf Island ans Herz gelegt.

Man fragt sich, ob man nie dazulernt und das gleiche Milieu, das sich für eine Liberalisierung des Cannabis-Konsums ausspricht, fällt hier in die gescheiterten Muster der großformatigen Restriktion zurück. An die smarten digitalen Möglichkeiten der kontrollierten Abgabe (ohne spezielle Staatsdealer aufzusuchen) scheint niemand einen Gedanken zu verschwenden.

Der Schock

Der globale Rausch ist ein Dokumentarfilm von Grimme-Preisträger Andreas Pichler. Der Film war bisher auf beinahe allen Kanälen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sehen. Immer wieder wird er dann morgens im Radio reißerisch angekündigt. Wobei die meist weiblichen Moderatorinnen schaudernd davon berichten, wie sie ihre kleine Tochter vor den Gefahren des Alkohols warnen und wie wichtig dieser Film sei. Wichtig scheint auch immer häufiger zu sein, die eigenen Kinder als anekdotische Evidenz für das ins eigene Weltbild eingebrannte gefährliche Leben und den größtmöglichen Schutz vor den Unbilden der Zeit herbeizuzitieren. Kürzlich erst wieder bei radio1 („Radio für Erwachsene“ ist der Claim): „Ich habe den Film mit meiner Tochter gesehen und war schockiert.“ Die Väter dieser Kinder hat man sicherlich bei einem Lesekreis von Ulrich Becks Risikogesellschaft kennengelernt und in der erotisch aufgeladenen Stimmung nach dem Genuss einer Matetee-Pfeife in die Weltwonnen hinein gezeugt. 2022.

Pichler nun fährt groß auf. Die Alkoholindustrie – immerhin nicht „Mafia“ – mache jährlich 1,2 Billionen Umsatz weltweit. Sie ist dabei intransparent, keiner wolle mit ihm sprechen, in Bierzelten auf dem Oktoberfest dürfe er nicht drehen. Alkohol zerstöre Gesellschaften, fördere in Afrika Prostitution, verkaufe ein reaktionäres Frauenbild, produziere Krankheiten, Elend und Tod. Es kommen zu Wort ein Verbandsfunktionär für Suchtfragen, dessen paternalistische Empörung in der Mimik so pfäffisch wirkt, als hätte vergorener Messwein seine Gesichtszüge geformt, wenn er über Alkohol spricht. Weiterhin ein ehemaliger Bartender, der sich als Dealer bezeichnet, trockene Alkoholiker und weitere Sturzbetroffene. Jemand aus der Weinwirtschaft versucht sich behutsam und achtsam zu geben, ein Vertreter der Bierwirtschaft (Carlsberg) ist bemüht, seinen Stand zu verteidigen.

Nichts zur Kulturgeschichte des Alkohols, überhaupt seinen kulturellen Implikationen in Film, Musik, Kunst, Literatur. Kaum etwas zum Faktor Genuss. Überall Gefahr, Niedergang, dunkle Mächte, böse Konzerne, Manipulation, Lobbyismus, Marketing. In der Tat schockierend.

Gras, das neue Gold

Gejubelt wird hingegen bei anderen psychogenen Drogen, die sich trefflich gegen Alkohol in den Kulturkampf werfen lassen, dessen Heraufziehen immer deutlicher wird. Drogen, die offenbar ebenfalls ein Rauschproblem, aber kein Imageproblem haben. Im Begeisterungsrausch werden Artikel verfasst über die Chancen der Cannabis-Legalisierung, die noch 2022 (!) erfolgen soll. Ich begrüße das ausdrücklich als überfällige Liberalisierung und wirksame Maßnahme gegen die Kriminalität zum einen und die Kriminalisierung von Konsumenten zum anderen. Die Befürworter träumen aber schon von den immensen Steuereinnahmen, Arbeitsplätzen und freuen sich auf ihre zukünftigen Aktien im Rausch der Zurichtung und Merkantilisierung einer Droge fürs eigene gute Gewissen. Wer einen dicken Wagen fahren wollte, aber den Nazi-Mercedes abgelehnt hat, ist auf den Olof-Palme-Friedens-Volvo ausgewichen. Wer Aktien von Diageo für Teufelszeug und rechts hielt, kann nun auf seine Depots mit den Papieren von „Cansoul Finance“ eindecken. Das Unternehmen aus Hamburg bietet den ersten europäischen Aktienfonds für Hanf an. Oder man spielt global und investiert in den kanadischen Riesen „Greenrise“, der kürzlich mit „CannaCare“, von „Otto“-Versand-Erbe Frank Otto fusioniert hat. Gras ist das neue Gold, green, soft, smart. Die Marketingfusionsmaschine insinuiert den logischen Zusammenschluss aus medizinischen Cannabis-Nutzanwendungen und gesellschaftlich anerkanntem, „progressivem“ Rausch-Empowerment.

Man überschlägt sich in Artikeln über Erlebnisse mit Vaporisatoren, mit denen man Cannabis-Blüten konsumiert habe. Dröhnung ohne Joint, also ohne die verpönte Assoziation zur Hasszigarette der Prolls. Ähnlich wie bei den E-Zigaretten wird eine Flüssigkeit verdampft und das Gehirn zeitgemäß-klinisch sauber für die Umwelt verharzt. Das und viele andere Techniken, Qualitäten und Geschmäcker kann man sich von einem ebenfalls in panegyrischer Gedenkprosa herbeigeschriebenen Cannabis-Sommelier erklären und bewerten lassen. Hingerissen werden Bücher rezensiert, die sich mit Meskalin, Mohn und Kaffee als Drogen befassen. Auch der Autor ist fasziniert. Was hierbei leider auffällt: Dass die in Bezug auf Alkohol oft fehlenden kulturellen und kulturgeschichtlichen Bezüge stark betont werden (zu recht), der maßvolle Genuss eine Würdigung erfährt und potentielle Gefahren nur marginal thematisiert werden.

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Grenzerfahrung und geistiges Abenteuer

Noch eine kurze Bemerkung zu dem Begriff der „Gefahr“, der in den weiteren Folgen dieser Serie noch ausführlicher Beleuchtet wird. Das Enfant terrible der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, das Böse in Gestalt brillanter Stilistik, Ernst Jünger, hat im bereits fortgeschrittenen Alter seinen Großessay Annäherungen. Drogen und Rauschherausgebracht. Bei seinen bürgerlichen und konservativen Anhängern löste er damit Entsetzen aus, aber es war nicht 2022, sondern 1970 und die Hippies waren entzückt. Der Reaktionär auf Psychonautenfahrt. Alles war drin: Bier, Wein, Laudanum, Kokain, Cannabis, Meskalin.

Auch seine legendären Selbstversuche mit LSD-Erfinder Albert Hofmann finden sich dort. Jünger moralisiert nicht, wertet nicht. Er nähert sich der Tatsache an, dass die Menschheit offensichtlich nicht mit einem normalen, alltäglichen Bewusstsein zufriedenzustellen ist. Grenzerfahrungen seien ihr immanent, sei es in der Wissenschaft oder auf der Ebene des Bewusstseins. Hierfür müssen aber dennoch Grenzen gefunden werden, die jedoch stets mit ihren Spielräumen, ihrer liberalen Ausgestaltung komplementär sein müssen. Ansonsten droht der Gouvernantenstaat. Und eines weiß jeder, der sich entschließt Grenzen zu überschreiten, aber seine Limits nicht kennt, es lauert der Untergang. Jünger wusste es ebenfalls (zitieren wir ausnahmsweise einmal Wikipedia): „Für Jünger sind Exkursionen in diese Terra Incognita mit Gefahr verbunden, dies macht er schon am Eingang (von „Annäherungen“ M.O.) deutlich, indem er den ersten Abschnitt des Werkes ‚Schädel und Riffe‘ betitelt, womit er die Nähe des Todes kennzeichnet, der als letzte Annäherung auch das geistige Abenteuer durchwebt.“

Die nüchterne Hölle

Der Prolog befindet sich auf der Zielgeraden. Beenden wir ihn wieder mit Jacquinot, aber nicht mit Robert, dem Radrennfahrer, sondern mit Robert Jacquinot de Besange. Er war Missionar in Shanghai, Professor für englische Literatur und ein bedeutender Protagonist des Schutzes der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten, die in der Genfer Konvention ihren Niederschlag fand. Als Jesuit fand er immer wieder aus der Frömmigkeit heraus und er stellte den Dienst an Gott auf die Füße, mitten hinein in die Niederungen der menschlichen Unzulänglichkeit. Schließlich haben die Jesuiten so bedeutende Trinker, Raucher, Revolutionäre in der Politik und Sprache wie Fidel Castro oder James Joyce hervorgebracht.

In den nächsten Etappen wird es folglich darum gehen, warum zunehmend ein säkularer Pietismus eine bigotte Frömmigkeit gegenüber einer heiligen Heiterkeit die Oberhand gewinnt. Warum Gesundheitsmodellierer immer stärker in der Gesellschaft den Ton angeben und sich den Hedonismus zum Feind erkoren haben. Vor allem wird es um die Frage gehen, warum diese Adventisten der Tugend aus der kulturellen Tradition ehemals subversiver Szenen kommen und sich konservativer, dirigistischer, autoritärer Rhetorik und Methoden zum Schutz des Menschen vor sich selbst und seiner inneren Begierden bedienen. Alle Argumente werden zu Wort kommen, Gefahren benannt und Sinnvolles zur Regulierung einer immer komplexeren Welt gewürdigt. Die Streiflichter dieses Prologs lassen wir über die gesamte Fläche der zu verhandelnden Materie gleiten und versuchen Fug von Unfug zu trennen.

Auch Peter Richter mit seinem grandiosen Text Über das Trinken wird luzides und beschwingtes beitragen: „Eine Gesellschaft von lauter Berauschten kann anstrengend sein. Aber eine Gesellschaft, in der alle immer beherrscht hinter verschränkten Armen auf die Späße der anderen warten, um sie dann abfällig kommentieren zu können, eine Gesellschaft von Leuten, die sich in die Hose machen vor Furcht, sie könnten sich auch einmal gehen lassen, eine Gesellschaft von verstockten Angsthasen, Eckenstehern, Zuguckern und Tutmirleidichmußnochfahrensmännern – also eine solche Gesellschaft nur mit Nüchternen und zur Nüchternheit Entschlossenen: Das wäre die Hölle auf Erden.“

Credits

Foto: design_kuch – stock.adobe.com; Bearbeitung Editienne

Comments (1)

  • Wolfgang

    Ich empfehle dazu das Buch “Alkohol” von Wolfgang P. Schwelle. Hier wird die Rolle von alkoholischen Getränken, von der Steinzeit bis ins 21. Jahrhundert informativ, unterhaltsam und sachkundig dargestellt.

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