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Bergamotte

Trendthema Bergamotte: Ölige Zurückhaltung

Yuzu, Buddhas Hand, Pomelo – alles ein alter Hut! Es ist Zeit, sich endlich mehr mit der Bergamotte zu beschäftigen. Doch die kleine grüne Zitrusfrucht, nach der alle Menschen unbewusst gieren, macht es uns nicht leicht, uns ihr zu nähern.

Ich muss gestehen, dass es bei mir keine große Überzeugungsarbeit gebraucht hat: Vor ungefähr 16 Jahren trank ich meine erste Tasse Earl Grey. Seitdem begleitet mich die Bergamotte täglich, es sind seither nur einige wenige Vormittage vergangen, die nicht mit einem Earl Grey eröffnet wurden. Es mag Tage geben, an denen man so etwas wie ein Frühstück nicht braucht. Aber ohne Earl Grey – also ohne Bergamotte – kann ich nicht.

Nun ist es nicht so, dass Earl Grey in Deutschland so etwas wie ein Massenphänomen ist. Tee im Allgemeinen ist ja nicht wirklich ein deutsches Ding. Zumindest solange man nicht bereit ist, vorab gesüßte Brühen aus minderwertigen Trockenbeeren oder Jugendherbergspfefferminzaufgüsse als „Tee“ zu bezeichnen. Und wenn man sich in eine deutsche Fußgängerzone stellen und 100 Menschen fragen würde, was Bergamotte sei, dann würden wahrscheinlich 90 von ihnen vermuten, man spräche über ein Insekt, das in alpinen Gegenden lebt und Löcher in Kleidungsstücke frisst.

Der unbekannte Crowdpleaser

Das eigentlich Interessante an diesem Umstand ist, dass praktisch jeder Mensch schon mit Bergamotte in Berührung gekommen ist. Denn die Öle dieser Zitrusfrucht, die fast ausschließlich in Kalabrien kultiviert wird, stecken in so gut wie jedem Parfüm. Das Parfumeur-Handwerk ohne Bergamotte? In etwa so wenig denkbar wie der Bar-Beruf ohne Eis.

Doch – so scheint es – die Bergamotte schickt sich an, ganz langsam und zaghaft mehr Beachtung zu finden. Sie ist zwar noch davon entfernt, der Masse vertraut zu sein. Aber irgendwo muss man ja anfangen. Und die Bar ist von allen kulinarischen Disziplinen diejenige, die der Bergamotte am besten entgegenkommen kann.

Es tut sich was: Die Bergamotte ist da!

Denn siehe da, plötzlich ist es gar nicht mehr so schlecht bestellt um die Verfügbarkeit trinkbarer Bergamotte-Produkte: Doc’s Essenz aus dem Hause Dwersteg etwa ist einigen Bartendern schon länger ein Begriff. Vor ein paar Monaten legte der Berliner Ritz-Carlton-Barmanager Arnd Heißen mit seinen Botanical-Fusion-Essenzen nach, von denen sich die Bergamotte-Qualität am besten verkauft. Dazu gibt es mit The Earl Spirit und einer Sorte der niederländischen Pekoe-Range auch zwei junge Produkte, die sich dezidiert dem Earl Grey widmen. Sogar eine Bionade in der Geschmacksrichtung ist mittlerweile erhältlich, auch wenn Bionade – spätestens seit Einführung der 0,5-Liter-PET-Flasche – eher als so etwas wie die River Cola der Mittelschicht gilt. Gescheitert ist allerdings das österreichische Likörprojekt Gamot, dessen Website trotz noch existenter, aber verwaister Facebookpage nicht mehr abrufbar ist. An die Stelle des nie wirklich beachteten Gamot sind nun andere, diesmal grandiose Spirituosen getreten: Etwa die Bergamotte aus Kalabrien von Faude Feine Brände oder die Cuvée von Bergamotte und Bourbon-Vanille aus der Edelobstbrennerei schlechthin, der Stählemühle von Monkey 47-Miterfinder Christoph Keller in Eigeltingen nahe dem Bodensee. Beide Brenner fertigen aus Bergamotten hochkomplexe trockene „Geiste“, also Mazerate, obwohl laut Florian Faude auch ein Einmaischen und Brennen der ganzen Frucht, also ein „Brand“ bzw. „Wasser“ möglich wäre.

Gewaltige Beachtung in der internationalen Barszene bringt der Bergamotte seit einigen Monaten zudem der Italicus Rosolio di Bergamotto vom früheren Martini-Markenbotschafter Giuseppe Gallo, der im Sommer bei den „Tales of the Cocktail“ gar als beste neue Spirituose des Jahres und auch bei den MIXOLOGY BAR AWARDS 2018 als „Beste New Spirit/Bar-Product“ prämiert wurde – obwohl viele Tester dem Aroma des Rosolio auch einen gewissen Hauch von Toilettenreiniger attestieren.

Komplexität ohne Gleichen

„Die Bergamotte ist eindeutig die komplexeste Zitrusfrucht überhaupt“, findet Torben Bornhöft, „vielleicht abgesehen von Yuzu. Aber die wiederum ist so dermaßen teuer, dass man damit als Bar quasi nicht arbeiten oder kalkulieren kann.“ Bornhöft weiß, wovon er spricht, er beschäftigt sich seit langem mit der Frucht. Auch nach dem Ende seiner Bar-Zeit, die er u. a. mehrere Jahre im Le Lion verbrachte, ist der hauptberufliche Lehrer noch immer als Blogger und Mitgründer von trinklaune.de aktiv und forscht in der heimischen Küche unermüdlich weiter an der Fortentwicklung von Cocktails. „Wenn Saison ist, muss ich einfach schauen, ob welche auf den Märkten angeboten werden, der Preis ist auch völlig okay. Aber man hat nicht immer Erfolg“, erklärt er die komplizierte Lage, was Frischware angeht. Denn dass die Frucht fast ausschließlich in einem schmalen Streifen Italiens angebaut wird, bedeutet: Wenn dort keine Saison ist – einmal im Jahr! –, gibt es auf dem Weltmarkt praktisch keine Bergamotten. Und wir sprechen von einem Markt, der sowieso fast zur Gänze von Parfumproduzenten abgegrast wird. Was übrig bleibt, geht an Teefirmen. Nur ein geschätzter Zehntpromille-Anteil (verlässliche Statistiken lassen sich nicht finden) geht in den Obsthandel.

Wenn Bornhöft an frische Exemplare gelangt, hat sich für ihn die Verarbeitung in einem Cordial als beste Möglichkeit erwiesen, die Öle zu nutzen. „In einem klassischen Cordial lässt sich die Aromatik am sinnvollsten konzentrieren und isolieren. Dann erschlägt sie auch keine anderen Aromen. Tatsächlich hat ein Bergamotten-Cordial im Gegensatz zur typischen Limettenvariante eine ganz andere Komplexität und auch mehr ‚Frucht‘“, meint er. Zudem ist er ein Freund des vielfach ungenutzten Saftes, der „bei vielen klassischen Drinks wie White Lady oder Aviation ein viel feineres Balancieren von Säure und Süße zulässt, ohne dass der zitronige Biss, die tartiness, fehlt.“

Ansonsten wird es aber schon schwierig, meint der hanseatische Hexenküchler, die so betörend duftenden Schalen zu verarbeiten: „Ich habe auch mit Sous-Vide-Infusionen von Spirituosen experimentiert, und das kann auch klappen. Aber man muss extrem vorsichtig dosieren. Es geht ziemlich schnell, dann hat man keinen aromatisierten Gin, sondern es schmeckt wie öliger Bergamotten-Vodka.“ Generell scheint klassischer Gin mit seinem prägnanten frisch-würzigen Aroma von Wacholder geradezu wie gemacht zu sein für die Paarung mit der ätherisch-duftigen Bergamotte.

Zurückhaltung, Glücksgefühle und der Zauber der Dosierung

„Aber ein Tropfen Öl zu viel kann schon alles zerstören!“, weiß auch Florian Faude. Zu seinem Bergamottengeist ist er – Stichwort: Verfügbarkeit – zwar nicht wie die Jungfrau zum Kinde, aber wohl durch Glück gekommen: Sein sizilianischer Blutorangen-Lieferant verwies in auf eine Verwandte in Kalabrien, die Demeter-zertifizierte Bergamotten anbaut. Aus diesen Früchten, die er wie fast alle seine Rohstoffe direkt vom Erzeuger bezieht, fertigt er in zweifacher Destillation seinen Geist. „Der ist allerdings nach dem Feinbrand so gesättigt mit Öl, dass er nach Herabsetzen auf Trinkstärke gar nicht alles davon halten kann“, erklärt der Brenner vom Kaiserstuhl. „Ich muss den fertigen Geist per Abscheidetrichter von einem Teil der Öle befreien, sonst ist er vollkommen überladen.“ Wer einmal die Gelegenheit hatte, auf ein Stück Bergamottenschale zu beißen, der kennt die Folge: Der Mundraum ist derart überzogen von den dichten Ölen, dass man mitunter mehrere Tage lang kaum Geschmäcker wahrnehmen kann. Anders als bei vielen Geisten und eigentlich allen klassischen Obstbränden geht es im Falle der Bergamotte somit zwar darum, eine Essenz, einen Extrakt der Frucht zu erhalten, aber keinesfalls darum, den allerletzten Fetzen Geschmack ins Destillat zu überführen. Zurückhaltung ist ein Zauberwort bei der Arbeit mit Bergamotte. Es trifft das alte Diktum von Paracelsus zu: Die Dosis macht das Gift.

Dem stimmt auch Arnd Heißen zu, der sich seit vielen Jahren mit den Erkenntnissen und Theorien der Aromatherapie befasst und das daraus resultierende Wissen in seine Arbeit als Bartender und Produktentwickler einfließen lässt: „Bergamotte lässt sich leicht überdosieren, was sich dann sensorisch, aber auch emotional niederschlägt! Daher würde ich in vielen Fällen eher die Arbeit mit verarbeiteten Produkten empfehlen. Frische Früchte sind nicht nur schlecht und in schwankender Qualität verfügbar, sie sind auch extrem kompliziert zu dosieren.“ In den beiden Bars des Ritz-Carlton, also dem Curtain Club und der experimentellen Fragrances Bar, arbeiten Heißen und sein Team daher sowohl mit seiner eigenen Botanical-Fusion (die gemeinsam mit der Berliner Parfümeurin Valeriya Fridman entwickelt wurde) und mit Kellers Bergamotte-Vanille-Geist. Doch einen Moment mal: Zu viel Bergamotte schmeckt nicht einfach komisch, sie sorgt auch für ein schlechtes Befinden? „Die Aromatherapie lehrt uns: Der Duft der Bergamotte wirkt auf den Menschen entspannend und sorgt für ein leichtes Glücksgefühl. Sie ist übrigens die einzige Zitrusfrucht, die das tut“, erläutert Heißen. „Zu viel davon jedoch bedeutet, dass sich diese Emotionen zu stark ausprägen, dann ist der Effekt plötzlich negativ.“ Aus diesem Grund ist Bergamotte zwar in vielen von Heißens Drink-Kreationen ein wichtiger Akzent, aber stets nur in kleinen Dosierungen, nicht als klassische „Basis“ im Sinne etwa von David Emburys dreiteiliger Cocktailformel.

 

Zitrusdavid & Vanillegoliath

Nichtsdestotrotz ist es Heißen wichtig zu betonen, dass „Bergamotte zusammen mit Vanille eines der beiden zentralsten Aromen überhaupt ist, nicht nur aus Sicht der Aromatherapie. Die Menschen suchen geradezu danach – denn sie beide wirken so ausgleichend und beruhigend wie nichts anderes.“ Und das ist auch sensorisch kein Wunder. Kann man sich doch kaum etwas Belebenderes oder Angenehmeres vorstellen als den zitralen, knackigen und mitunter leicht an Melisse und Eukalyptus erinnernden Duft der Bergamotte. „Das Kuriose dabei ist“, merkt Heißen an, „dass jeder Vanille nicht nur kennt, sondern auch benennen kann. Bei der Bergamotte ist fast das Gegenteil der Fall. Ich spreche mit unseren Gästen in der Bar unheimlich viel darüber. Es ist erstaunlich, dass ein so integrales Aroma nur von den wenigsten wirklich konkret benannt werden kann.“ Und er kann sogar die Toilettenreiniger-Vorwürfe in Richtung des Italicus Rosolio abschwächen: „Das ist kein Fehler des Likörs, sondern liegt darin begründet, dass auch die Hersteller von Hygieneprodukten wie Toilettensteinen Bergamottenöl verarbeiten. Es geht also eher darum, dass man eine Assoziation hat, nicht darum, dass der Likör schlecht ist.“

Man sieht also schlussendlich beides: einerseits, warum es nur nachvollziehbar ist, dass Bergamotte nach und nach mehr Beachtung als Genussmittel findet. Andererseits auch, weshalb sie angesichts ihrer Verfügbarkeit und Tücken niemals in den Reigen jener allseits präsenten Zutaten und Begriffe aufsteigen wird. Dass Bergamotte ein kleiner Trend ist, scheint nicht abzustreiten zu sein. Sie wird aber niemals mit solch einer Wucht in den Massenmarkt einschlagen, wie es in den letzten Jahren z. B. Ingwer oder Holunderblüte getan haben. Weil sie es nicht kann – sowohl, was ihre Kapazitäten auf dem Massenmarkt angeht, als auch durch ihr Wesen. Sie mag wohl die Verborgenheit ganz gern, so, wie sie auch zur Zurückhaltung gemahnt. Aber das macht eigentlich nichts, ich treffe sie ja dennoch jeden Morgen. In meiner Tasse Tee.

 

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der MIXOLOGY-Sonderausgabe 2017.

 

 

Credits

Foto: Foto via Shutterstock.

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