Trinken im Kaukasus: Zwischen Fermentation, Destillation und der Wiege aller Trauben
Armenien und Georgien sind das Herz des Kaukasus. Eine Region, die über so viel Historie und Kultur – auch kulinarische Kultur – verfügt, dass man besser nur in Jahrtausenden rechnet. Interessanterweise hat sich vieles davon nicht nur bis heute bewahrt, es wird sogar genau jetzt endlich langsam auch vom Rest der Welt entdeckt, der diesen Landstrich jahrzehntelang nur aus den Abendnachrichten kannte.
Der Kaukasus ist ein verworrenes Pflaster. In der ewigen UNO-Unübersichtlichkeitsliste steht die Region wohl punktgleich mit Afghanistan auf Platz Eins. Markerschütternde Ereignisse wie ein Genozid, mehrere offizielle sowie verdeckte Kriege, drei großräumige Neuordnungen durch Weltmächte, Neuerfindung von Staaten, fünf abtrünnige Regionen, Verteilung eines Staates auf drei voneinander abgetrennte Gebiete… Die Liste lässt sich beliebig weiterführen. Streut man in diese nur deutschlandgroße Fläche Unruheherde wie Berg-Karabach und Tschetschenien, ist das Bild komplett. Und ein ruhiger Drink an einer sonnigen Straßenecke scheint unmöglich! Doch genug der Schwarzmalerei. Denn vor Ort – im Flow des Tagesgeschäftes – erwarten uns Hochkulturen, die schon seit Jahrtausenden Hochgenüsse auf Hochebenen und zwischen spitzen Bergen inzwischen Spitzendrinks servieren.
Wie in den meisten Ländern sind die großen Städte Zentren der Kulinarik und des Cocktailhandwerks. Die Ländereien in Stadtnähe sind hingegen, sofern das Terroir es erlaubt, Domäne von Bier, Wein und Destillaten. So sammeln sich alle interessanten Bars Georgiens in Tiflis, alle Bars Armeniens in Jerewan. Da die umliegenden Territorien entweder zu dünn besiedelt oder muslimisch sind, bleiben die beiden Hauptstädte der zwei ersten christlichen Nationen die einzigen Cocktailhochburgen im Umkreis von 1.000 Kilometern.
Von den vielen verschiedenen Arten des Kaukasus
Es gibt nicht den einen Kaukasus, sondern man unterteilt in Nord und Süd, in Großen und Kleinen Kaukasus. Es bleibt also verwirrend. Für diesen Text soll daher eine unübliche Dreiteilung gelten: Das in Russland beginnende höchste Hochgebirge im Norden der Region, grüne Tiefebenen zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer, sowie die versteppte, an den Iran grenzende Hochebene im Süden.
Das nördliche Hochgebirge bietet Spezialitäten der Fermentation und Destillation. Die grünen Tiefebenen bieten üppige Nährböden für Wein und Getreide. Und die savannenartige Hochebene im Süden ist aufgrund massiver, untergründiger Entwässerung und kontinuierlicher Höhensonne ein Garten Eden für Steinfrüchte und Trauben.
Trinken in Georgien, wo das Bier tatsächlich dem Wein unterlag…
Wein wurde in dieser Region erfunden, und was für welcher: Die ältesten kultivierten Funde datieren ca. 10.000 Jahre zurück. Heute kann daher nur schwer gesagt werden, ob dies nun eine georgische oder armenische Errungenschaft war. Die älteste wissenschaftlich belegte Weinproduktionsstätte befindet jedoch sich in einer Höhle in Areni, Armenien.
Was sich daraus für die Region schließen lässt, ist eine tief verwurzelte Weinkultur, die das Bier nie so recht hat Fuß fassen lassen wie in Westeuropa. Lediglich in den nördlichsten, höchsten Tälern wurde regelmäßig Bier gebraut und war ein sicherlich wichtiger Teil der dürftigen Ernährung der Hochgebirgs-Bevölkerung. Wohingegen Wein seit Äonen ein alltägliches Getränk ist, wurde Bier eher zu einem Getränk für religiöse Zeremonien – und setzte sich auch nie so recht zu Tisch durch. Bis heute gibt es kaum ein Dutzend Bierproduzenten. Die Biere sind meist sehr leichte Lager, aromatisch blieben sie lange uninteressant, steigerten sich erst in den letzten Jahren qualitativ. Sicherlich auch im Zuge verschiedener Lizenzvereinbarungen, beispielsweise mit König Pilsner. Lediglich »Argo« lässt seit den 1990ern das Herz des Bierliebhabers etwas höher schlagen. Benannt ist es nach der sich lange vor Christus in Georgien zugetragenen Argonautenlegende: Jason und die Argonauten stahlen das Goldene Vlies zu einer Zeit, als Troja noch blühte und Odysseus noch nicht einmal geboren war.
Allerdings geht auch an Georgien und Armenien die Kreativbier-Welle nicht vorüber. Und so eröffneten in den letzten fünf Jahren diverse Brewpubs, vor allem in Armenien. Hier führt die marketingtechnisch perfekt aufgezogene Brauerei »Dargett« das Feld an. Sowohl mit ihrem modernen, gläsernen Pub im absoluten Zentrum Jerewans, als auch mit den inzwischen breiter im Einzelhandel angebotenen Flaschenabfüllungen. So wird also das sonst nicht sonderlich gepriesene Bier für die junge Generation interessanter.
Die Fülle der alkoholfreien Labsale!
Hierzulande ist weitgehend unbekannt, dass Kefir seinen Ursprung im Nördlichen Kaukasus hat. Niedrigalkoholisch und leicht prickelnd, wurde er im nördlichen Hochgebirge sowohl als laktose- und keimarmes Getränk zum Essen, aber auch als Lösung für Darmbeschwerden geschätzt. Der besonders in Georgien Burachi genannte »Kwas« spielt aktuell keine so große Rolle wie z.B. in der Ukraine. Die wenigen käuflichen Abfüllungen sind meist unheimlich süß. Sollte man hingegen Selbstgebrauten aus kleinen Tankwagen auf Märkten oder an Bahnhöfen finden, ist die Chance eines erfrischenden und herben Genusses recht hoch!
Und auch der in der Türkei tief verwurzelte Ayran hat wohl seine Wurzeln zwischen diesen beiden Meeren. Joghurt (oft schon saurer) wurde mit Wasser gestreckt und mit Salz haltbar gemacht. In Adscharien und Ostanatolien heißt er Ayran, in Armenien Tan, der Iran kennt ihn als Dugh. Besonders nach der zunehmenden Islamisierung der hier lebenden Turkvölker gewann der aus Kuh- oder Schafmilch hergestellte Ayran die Oberhand über den aus Stutenmilch fermentierten Kumys. Dass letzterer in obst- oder gemüsearmen Regionen aufgrund seines ungewöhnlich hohen Vitamin- und Mineralstoffgehalts einen wichtigen Beitrag zur Ernährung leisten kann, war dem religiösen Wandel vor tausend Jahren hingegen leider unbekannt.
Auch nicht zu unterschätzen ist die Pionierarbeit der Kaukasusregion auf dem Feld der alkoholfreien Erfrischung. Im genannten Bereich der grünen Täler zwischen beiden Meeren finden sich mehrere Quellen exquisiter Mineralwässer. Der Ort Bordschomi beispielsweise hat GUS-weit einen exzellenten Ruf als Heilbad und ist eine weltberühmte Quelle natürlichen, leicht kohlensäurehaltigen Heilwassers. Diese Heilwässer haben meist einen extrem hohen Mineraliengehalt und schmecken teils stark nach Eisen. Sie sind perfekt gegen den Mineralverlust durch Schwitzen in Gluthitze – oder durch übermäßigen Alkoholgenuss am Vorabend. Die schiere Menge an Quellen lässt sich an den an vielen Straßenecken sprudelnden Trinkbrunnen ablesen. In Tiflis ist dieses Bild selten geworden. Die Kleinstädte der Wälder Georgiens und besonders Jerewan teilen diesen Überfluss hingegen weiterhin gerne mit den Bürgern – zum Leidwesen der internationalen Wasserkonzerne.
Der Tee war kurz weg. Doch er kommt wieder
Ebenso sind im georgischen Gebiet lokale Limonaden beliebt. 1887 wurde von einem georgischen Arzt die nun überaus populäre Estragonlimonade erfunden, als er Sirup mit Sprudelwasser vermengte. Heutzutage ist die Aromenpalette breiter und auf jeder Karte lässt sich die für uns untrinkbar süße Limo auch mit Birne oder Berberitze finden. Eine sehr unglückliche Entwicklung nahm der in Schwarzmeernähe angebaute Tee: Nachdem der grusinische Tschai allen russisch sprechenden Völkern des 20. Jahrhunderts bekannt war, brach dessen Popularität und damit Absatz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs dramatisch ein. Nicht konkurrenzfähige Preise und Qualitäten sorgten für flächendeckenden Verfall der Plantagen. Jedoch setzte vor etwa zehn Jahren ein Umdenken ein. Es gibt nun eine Hochschule für den Teeanbau, es wird moderner und schlanker produziert und zaghaft wächst der Teekonsum. Klassischerweise wird er statt per Zucker mit extra dafür angerichteten, grobstückigen Marmeladen gesüßt. Um unsere alkoholfreie Reise von Nord nach Süd abzuschließen, hier noch eine Empfehlung: Echter Tee der Camellia Sinensis wird sowohl grün als auch schwarz angeboten, jedoch nur in Georgien angebaut, jeglicher armenische Tee ist eine reine Kräutermischung und kann es mit Aromatik und Geschmack jederzeit mit den mitteleuropäischen Kräuter- oder »griechischen« Bergtees aufnehmen. Von alten Mütterchen auf den Märkten der armenischen Hochebene erhält man sie teilweise rucksackweise für wenige Euro. Und bekommt dafür eine unglaubliche Geschmacksexplosion, die sich für Infusionen in der Bar geradezu aufdrängt!
Die Wiege aller Trauben
Wie bereits angeschnitten, liegt auch die Wiege des Weinbaus im Großraum Kaukasus. Georgien, Aserbaidschan und Armenien brüsten sich mit 500 autochthonen Trauben und einem knappen Dutzend distinktiver Anbauregionen. Obwohl Aserbaidschan seit dem Zerfall der Sowjetunion als Weinbauland implodierte, lohnt alleine über das Thema Wein ein ganzer Artikel! Hier nur ein kurzer Überblick:
In den nördlichen Schwemmtälern der in die Wolken ragenden Fünftausender bauen georgische Weinbauern die populären Sorten Rkatsiteli, Saperavi, Tsolikhouri an. Dies sind nur drei der 38 zugelassenen, autochthonen Sorten, das größtenteils auf rote Sorten abfährt – doch Orange Wines werden immer wichtiger. So kann man mittlerweile bei einer fast zahnlosen Babuschka in einer auf unglaublichen 2.500 m Höhe liegenden Talsohle einen Fanta-gelben Wein erstehen, der sicher nicht nur aufgrund der Wanderungs-Strapazen und der frisch gebratenenen Wurst großartig mundete. Verständigen konnten wir uns leider nicht, in der Hochgebirgssonne lachend anstoßen hingegen gut.
Armenier sind ebenfalls eher dem »Roten« zugetan, die beliebtesten Sorten heißen Voskehat, Areni oder Kangun, es werden aber auch Pinot Noir, Cabernet Sauvignon oder Muskateller angebaut. Die Rotweine Armeniens sammeln international gelegentlich Preise ein, die Georgischen inzwischen flächendeckend. Besonders interessant ist dabei, dass der Modebegriff »Naturwein« hier gänzlich unbekannt ist – weil fast alle Weine natürlich vergoren werden. »Erzwungene Fermentation« nennt man hier die Ausnahme, die ausschließlich von auf internationale Märkte schielenden Industriekeltereien angewandt wird. Auch üblich sind mit Wein oder Bränden gefüllte Tonkrüge, die vergraben werden. Die Geburt eines Kindes ist ein beliebter Anlass für diesen Brauch. Und gerne werden jene Amphoren zu dessen Volljährigkeit oder Hochzeit geöffnet, je nachdem, was früher ansteht. Zahlreiche solcher Produktionsstätten sind zu besichtigen, oft in den malerisch gelegenen Klöstern.
Perser, Römer, Janitscharen – aber gefährlich wurden nur die Sowjets
Nachdem die hiesige Getränkekultur Flächenbrände durch Xerxes oder Cäsaren sowie durch religiöse Umstürze überstand, schnitt schließlich im 20. Jahrhundert der sowjetische Ordnungswille tief in die Anbaukultur. Georgien wurde als Produzent für Wein, Armenien für Schaum- und Branntwein deklariert. Bis in die 1980er vervielfachte sich die Weinproduktion in Georgien und Aserbaidschan. Doch wurden im Zuge Gorbatschows Kampagne gegen den Alkoholismus neben Moldawien und der Ukraine vor allem in jenen beiden SSRs die Weinberge flächendeckend eingestampft.
In Armenien hingegen wurde 1931 nachgewiesen, dass Sherry nicht nur in Spanien hergestellt werden kann, sondern auch in kaukasischen Tonamphoren beheimatet ist. Reorganisiert wurde (abgesehen von Süßwein) der Weinanbau hier allerdings großflächig mit klarer Ausrichtung auf Branntwein. Ein Viertel der gesamten Brandyproduktion für die damals 250 Millionen Einwohner zählende Sowjetunion wurde vom nur Brandenburg-großen Armenien produziert.
Bei unserer Reise hatten wir außerdem das Glück, in den Hauptkeller der dafür gebauten Schaumweinfabrik Zutritt zu erhalten. In dem ihnen eigenen Pragmatismus und Größenwahn höhlten die Sowjets einfach einen ganzen Berg aus und legten einen Weinkeller an, der an Dimensionen von Moria aus dem Herr der Ringe erinnert. Hier liegen die per méthode tradionelle hergestellten Edelabfüllungen teils sieben Jahre auf der Hefe. Der Großteil dieser Lagerkapazität wurde hingegen mit den niedrigen Qualitäten der auf monatlich Millionen Flaschen ausgelegten Fabrik gefüllt.
Die Frucht nach vorne
Komplett ungealtert finden wir zahlreiche Fruchtbrände im ganzen Kaukasus. In Georgien heißt er Tschatscha und wird meist aus Trester, seltener aus Früchten gebrannt. Brennen für den Heimbedarf ist legal, und so findet man natürlich in jedem Dorf unbeschriftete Flaschen auf klapprigen Tischen am Straßenrand zum Kauf feilgeboten. In Armenien ist die Bandbreite der genutzten Früchte auch um Kornelkirschen, Berberitzen, Maulbeeren oder Aprikosen erweitert. Hier finden sich wirklich sehr anständige Qualitäten für niedrigste Preise.
Als für eine Cocktailschulung mit Oliver Ebert auf dem »Yerevan Food Fest« kein Kirschwasser aufzutreiben war, wurde am Folgetag kurzerhand ein solider Selbstgebrannter von der Tante des Kochs überreicht. Ein klassischer »Straits Sling« war kein Problem damit! Und mit Nennung dieses Festivals lässt sich auch schon ein Kreis um Inhalt und Ambition der hiesigen Szene schließen. So fasst es Anna Mazmanyan, Gründerin zweier Kulinarik-Festivals in und um Jerewan, zusammen: «Wir wünschen uns, dass mehr Menschen Armenien kennen lernen. Und unser GastronomicCamp Armenia spielt dabei eine große Rolle. Um die so reiche Kultur an Speisen und Getränken bekannt zu machen!«
Gelagerte Weinbrände sind wiederum ausschließlich in Armenien zu finden und werden in lokaler Eiche aus Südarmenien oder Berg-Karabach gelagert. Sie erhalten ein wunderbar würziges Aroma, das am ehesten mit der Deutschen Spessarteiche vergleichbar ist. Eine kleine Anzahl an Brennereien bevölkert den Markt, werden aber von »Ararat« und »Noe« national und international dominiert. Auf jedem Menü finden sich lokale Abfüllungen in Hülle und Fülle. Besonders die reichhaltige Jazzszene Jerewans genießt die älteren Tropfen ausgiebig. Hakob Hakobyan ist Sohn eines Armenischen Brandyherstellers. Er arbeitete jahrelang in der Cognacindustrie und bezieht klar Stellung: »Armenischer Brandy mag nicht der Weltbeste sein. Aber wir können in der Weltspitze mithalten. Besonders unter Berücksichtigung von Preis und Qualität sind unsere Produkte definitiv unterbewertet.«
So zerrinnen uns die Zeilen zwischen den Fingern! Die spannend strukturierte Trinkspruchkultur oder das Amt des Zeremonienmeisters auf Gelagen finden keinen Platz mehr. Doch noch ein letzter Gaumenkitzel: Zwischen dem an den Elbrus geketteten Prometheus und der auf dem Ararat gestrandeten Arche Noah lässt sich entlang alten Karawansereien der vergessenen Seidenstraße ein reich gedeckter Tisch finden. Reich gedeckt mit Käse, Wurst, Wässern, Bränden, Weinen und Fermenten; mit Kräutern und als Weltkulturerbe gekröntem Brot! Und am wichtigsten: Es ist eine Region voll der Freundschaft für alle, die das Leben lieben!
Dieser Artikel erschien im Origial in der Print-Ausgabe 2-2020 vom MIXOLOGY, dem Magazin für Barkultur. Wissenswertes zur jeweiligen aktuellen Ausgabe findet sich hier, Information zu einem Abonnement hier.
Credits
Foto: Inga Israel