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Aus der Krise lernen: Trinkgeld, Segen oder Fluch?

Für manche Gäste ist Trinkgeld eine bedrängende, für andere eine gönnerhafte Geste. Für den Gastronomen allerdings ist es (fast) immer existenziell. Gerade in der Corona-Krise aber zeigt sich, dass dieses undefinierte Prinzip des Trinkgelds eine Schwachstelle ist. Und sogar dem Image der Branche schaden kann. Wäre es daher Zeit, sich davon frei zu machen? Und geht das überhaupt?

Ich erinnere mich noch gut an die Familienurlaube in der Bretagne, als man sich beim ersten Besuch im Café versuchte, sich an den letzten Urlaub zu erinnern: „Wie ist das denn hier nochmal mit dem Trinkgeld“, hat dann ein Teil der Eltern gefragt, und der andere hat das nicht gegoogelt, weil es zu diesem Zeitpunkt noch nicht ging. „Also, ich fand’s lecker“, hatte dann ein Teil der Kinder expertisesicher über die Apfelsaftschorle befunden, wobei der andere mokierte, „aber sie hatten keine Pizza.“ Am Ende wurde dann in einer kruden Rechnung aus Anstand und Münzsituation auf irgendeine Summe aufgerundet und der zweifelnde Seitenblick bestätigt mit: „Jaaa, das reicht. Übermäßig freundlich war der jetzt auch nicht.“

Diese Methode ist zumindest meine Trinkgeld-Sozialisierung, und ich vermute, damit bin ich nicht alleine. Es ist nicht verwunderlich, da die Faktoren nicht nur unüberschaubar, sondern auch willkürlich sind. Und obendrein wechseln sie auch noch. Eine Umfrage unter dem Tresenvolk ergibt etwa folgende Liste der Trinkgeldfaktoren, Aufzählung bei absteigender Relevanz: Münzstand, derzeitiges Einkommen, Freundlichkeit des Personals, Qualität des Drinks, Attraktivität des Personals, die entsprechende Barbegleitung und natürlich die Laune, beziehungsweise der Trunkenheitszustand.

Kurz gedachtes Kurzarbeitergeld

In Ermangelung einer offiziellen Alternative könnte man mit dieser Liste zumindest provisorisch hantieren; wer hat allerdings im Bezahlmoment die Contenance für eine solche Kalkulation? Dann wiederum – muss man wirklich so konzentriert in sich hineinhören, um herauszufinden, wie es geht und ob’s geschmeckt und gefallen hat? Vielleicht nicht.

Jenseits der vermeintlichen Problematik für den Gast gibt es da nämlich noch die Gastronomen ­– denen das Trinkgeld ein paar andere Probleme bereitet als das Gut eines geschmeidigen Gewissens. Denen geht es nämlich um nichts Geringeres als um die Existenz. Derzeit zwar bekanntlich mehr denn je, dennoch: immer schon.

Was aber sagt es über die Anerkennung einer Branche aus, die auf Extrapenunsen des wohlwollenden Gasts sozusagen angewiesen sein muss? Susanne Baró Fernández aus der Berliner Bar Timber Doodle findet, dass sich gerade in der Krise erweist, dass dies nicht der Weg sein darf: „Wer mit dem freiwilligen Trinkgeld der Gäste um sein Personal wirbt, versucht lediglich, seine schwache Gehaltsstruktur zu umspielen“, so die Inhaberin der Bar. Und weiter: „Dabei kann und darf der Gast nicht für ein mangelndes betriebswirtschaftliches Verständnis des Wirtes zur Verantwortung gezogen werden. Der fortwährende Preiskampf mit anderen Gastronomen auf dem Rücken der Gehälter von Mitarbeitern ist einer der traurigen Höhepunkte unserer Cocktail-Ära. Das muss sich dringend ändern. Wenn ein Geschäft nur dann lukrativ ist, weil wir den Mitarbeitern zu wenig Lohn zahlen, ist das ganze Geschäftsmodell nicht funktional.“

Dass das Trinkgeld ganz konkret kein Teil vom Lohn ist, sieht sie allein an der Tatsache, dass es in der Berechnung des Kurzarbeitergeldes keine Rolle gespielt hat – voilà. Gerade in puncto Kurzarbeitgeld merkt auch die Chefin der Kreuzberger Küche Bar, Nina Zilvar, dass das System an seine Grenzen stößt: „Die Gastro-Angestellten bekommen zwar einen Teil ihres Gehaltes, aber die Trinkgelder fallen weg. Einige können mit dem Kurzarbeitergeld gerade mal ihre Miete zahlen. Dann hat man aber noch nichts im Kühlschrank. Also bleibt nur der Gang zum Jobcenter, um mit Hartz IV aufzustocken.“ Wir fassen zusammen: Trinkgeld wird also irgendwie mitgedacht, niemals aber mitgerechnet.

Trinkgeld abschaffen: Die Rechnung ohne den Wirt gemacht

Dabei ist Deutschland prinzipiell kein knausriges Land, so scheint es beruhigend. Im Kontrast zu ihren französischen und schweizerischen Nachbarn geben die Deutschen sogar relativ viel Trinkgeld, etwa im Freiburger One Trick Pony, so Mit-Betreiber Andreas Schöler: „Ich würde vielmehr die Grenze bei den verschiedenen Generationen ziehen. Wenn ich mit meinem Vater essen gehe und er die Rechnung zahlt, lege ich immer noch Trinkgeld dazu, wenn der Service ordentlich war. Er ist eher so der ‘197€ mach 200€ Trinkgeldgeber’, ohne dass dahinter eine böse Absicht steckt.“ Und weil viele von uns einen Herr Schöler in der Familie haben, wissen wir, dass solche Gesten selten von Boshaftigkeit oder Ignoranz geprägt sind, sondern von einer Mischung aus Gedankenlosigkeit und generationsbedingtem Geldbeisammenhalten.

Auch Nina Zilvar fällt auf, dass es keineswegs ein deutsches Problem sei, da ihre Gäste aus anderen Ländern oftmals wesentlich weniger tippen als Deutsche. Bei ihr macht es eher den Unterschied, ob der Gast bar oder mit Karte bezahlt: „Bei Kartenzahlung fällt das Trinkgeld leider oftmals unter den Tisch.“

In den Augen von Susanne Baró Fernández belegen die Deutschen einen guten Schnitt, „wobei amerikanische oder kanadische Gäste natürlich sehr weit vorne liegen.“ Ihr fällt vor allem auf, dass sie 19 (bzw. derzeit 16) Prozent Mehrwertsteuer oftmals mit dem automatisch addierten Tipp, wie man ihn in beispielsweise England und den USA kennt, verwechseln. Das ergibt Phänomene und eine daraus resultierende Frage: Die Deutschen sind grundsätzlich bereit, Trinkgeld zu geben, sind aber ob des technischen Vorgangs verwirrt, erstens. Zweitens sind Menschen, die in Ländern leben, in denen mehr Trinkgeld gegeben wird, auch in anderen Ländern spendabler. Wäre da nicht eine allgemeine und möglicherweise gar verbindliche Regelung hilfreich für alle Beteiligten?

Trinkgeld-Regelungen in den USA

Vorab aber, um Missverständnissen vorzubeugen – Tipp bleibt Tipp und Tipp ist freiwillig. Wirklich inkludiert ist Trinkgeld in der Rechnung lediglich in den Benelux-Staaten. In den USA, die diesbezüglich oft missverständlich diskutiert werden, bestehen jedoch zwei Auffälligkeiten: Es sind weder Steuer noch Tipp in der Rechnung inkludiert, wobei die Steuer immerhin ausgewiesen wird. Diese kommt also auf die gelistete Rechnung drauf und, je nach Bundesstaat und Restaurant, steht auch eine Tipp-Empfehlung dabei. Der eine oder andere deutsche Bartender wird daher gar schon höfliche Gäste aus den USA gehabt haben, die nach dem Überreichen eines (meist großzügigen) Trinkgelds vielleicht tatsächlich fragen: „Is that alright?“ Das ist insofern praktisch, als dass die Betreiber wissen, wie niedrig die Löhne ihrer Mitarbeiter sind und hier so kalkulieren können, dass ein Mensch überleben kann.

Fun Fact: Ausgerechnet während Trumps Legislaturperiode hat 2018 der „Consolidated Appropriations Act 2018“ stattgefunden, mit dem das Trinkgeld dahingehend umverteilt wird, dass nicht bloß die zuständige Bedienung, sondern auch Mitarbeiter im Hintergrund, wie der Koch oder die Reinigungskraft, Anteil am Trinkgeld bekommen – sofern allesamt Mindestlohn erhalten. Dass ein Inhaber die Trinkgelder seiner Mitarbeiter einzieht, bleibt verboten. Für diese Administration klingt das irritierend … gerecht.

Mit Merci und Empathie

„Meiner Meinung nach ist das völlig der falsche Weg! Warum über gesellschaftlichen Druck arbeiten und das Problem der Unterbezahlung verschiedener Berufsgruppen auf den Gast abwälzen? So kann man mit einem kleinen Trinkgeld guten Service extra honorieren. In der Service-Industrie sollte immer gut gearbeitet werden, egal ob Trinkgeld gegeben wird oder nicht,“ findet Andreas Schöler. Dieses Credo scheint auch in Kreuzberg aufzugehen: „Ist der Service gut, stimmt auch das Trinkgeld. Ausnahmen sind da häufig geschlossene Gesellschaften oder Veranstaltungen. Da muss man sich überlegen, eine ‚Servicepauschale‘ einzubauen, weil doch bei der Überweisung der Rechnung selten an Trinkgelder gedacht wird. Ich mache das bislang nicht, habe aber schon mit meinem Team darüber gesprochen, ob es ein gangbarer Weg wäre. Wir sind noch unentschlossen“, so Nina Zilvar.

Auch dieser Punkt scheint ein allgemeineres Manko des gastronomischen Betriebes zu sein, zumindest schallt es so aus Friedrichshain: „Gerade bei Firmengästen oder Veranstaltungen hat man häufig das Problem eines Gesamtzahlers, der am Schluss aber kein Trinkgeld auf die Karte buchen kann, will oder darf oder einen grünen Schein für eine geschlossene Veranstaltung dalässt, zu der aber fünf Bartender eingeteilt waren,“ so Susanne Barò Fernández.

Trinkgeld kann nicht erzwungen werden

Und ganz unter uns – wer Firmenparties schmeißt, muss in Wahrheit meist nicht am Trinkgeld sparen. Summa summarum sind sich alle drei der befragten Barbetreiber einhellig darüber, dass Trinkgeld nicht erzwungen werden kann, weder über gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Druck, noch über Regeln. Und wer öfter einmal mit Menschen aus der Gastronomiebranche andere gastronomische Betriebe besucht, der weiß: Es scheint, als wären Gastronomen die einzigen Menschen, die verstanden haben, wie Trinkgeld funktioniert. Oder funktionieren könnte.

Zu guter Letzt, liebe Experten-Runde: Eine Botschaft an die Trinkgeld gebende Welt, auf dass sie sie beherzige? „Man gibt oder gibt nix – das Ganze aber gegenüber der Servicekraft in irgendeiner Form zu kommentieren, kann man sich sparen. Gebe nie Rotgeld!” – zumindest nicht im Freiburger One Trick Pony, bitte.

Susanne Baró Fernández plädiert auf die Wertschätzungsregel: Sie macht den Job nicht wegen des Trinkgeldes, freut sich aber, wenn ihre Arbeit anerkannt wird: „Wer das nicht glaubt, sollte mal anstatt 3 Euro eine Schachtel Merci in die Bar des Vertrauens bringen, wenn diese wieder öffnen: die Gesichter werden strahlen.” Aropos strahlen – wir schließen mit einem echten Lichtblick seitens Nina Zilvar: „Ich glaube empathische Menschen merken, was wann angebracht ist!”

Credits

Foto: Editienne

Comments (1)

  • Malte

    Wenn wir ehrlich sind, in kaum einer Branche wird so viel unterschlagen und geklaut wie in der Gastronomie.
    Wo kein Chef der überwacht , da kein Bon, Feierabend GinTonic?- na klar, auch 3 ? , kein Problem.
    Die Freundin als Gast, zahlt natürlich nicht. Gastronomie lohnt sich nur wenn der Besitzer immer da ist, oder mit kompletter Video/ Warenüberwachung…
    So viel zum Thema Trinkgeld!

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