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Trinkkultur Ahoi! Eine Analyse

4.000 Passagiere, 7 Tage, 20 Bars. Ob schwimmende Mega-City oder intime Segler-Romantik. Der Kreuzfahrtsektor boomt. Mehr und mehr Urlaubswillige entscheiden sich für diese Form des Reisens. Nach unzähligen Abstechern in noch so weit entfernte Metropolen der Welt widmet sich MIXOLOGY heute einem häufig ruchlos herabqualifiziertem Thema: volle Kraft voraus für die Trinkkultur auf Kreuzfahrtschiffen.

Vor dem Autor liegt die „Norwegian Getaway“. Mit 330 Metern ist sie zweifellos zu lang, um in voller Pracht abgelichtet werden zu können. Ein Megaschiff, ein Superdampfer. Gebaut 2014 in der Meyer-Werft bei Papenburg, ist die Getaway ganzjährig für die Reederei unterwegs und startet für wöchentliche Trips vom Heimathafen Miami aus in die Karibik. Bis zu 4.000 Passagiere befinden sich dann an Bord und eines ist sicher: So viele passen in keine Bar der Welt.

Jetzt auch noch Schiffe?

Genau daher ist die Thematik auch gerade so spannend und bietet den Nährboden für eine Vielzahl an Fragen. Wie wird gelagert? Wie geht man auf die unterschiedlichen Geschmäcker internationaler Gäste bestmöglich ein? Welche Konzepte und Themenwelten liegen den unterschiedlichen Bars zugrunde? Und nicht zuletzt die vielleicht aus Sicht so manchen Connaisseurs nicht ganz unerhebliche Frage des „Wie“: Wie schmeckt das Endprodukt?

Eines vorab. Wer auf so großen Kreuzfahrtschiffen Speakeasy-angehauchte Atmosphäre ersucht und am liebsten privat seinen japanischen Bartender des Vertrauens beim Schnitzen einer Eiskugel beäugt, ist mit Sicherheit am falschen Ort. Dennoch, und gerade weil dies nicht der Fall sein kann auf einem Schiff, ist die Arbeit hier besonders interessant und ermöglicht der Barkultur eine ganz neue Daseinsberichtigung.

The Bigger, the Better!

Man lacht an Bord über feste Öffnungszeiten der Küstenbars. Es gibt sie nicht wirklich. Auch stelle man sich als Bartender vor, man hätte den ganzen Tag mit einer überdurchschnittlich gut gelaunten, in Urlaubsstimmung verfallenen Schar an Gästen zu tun, die im Minutentakt – wenn nicht sekündlich – den nächsten Drink einfordern. Mit Sicherheit fördert dieser „hausgemachte Stress“ aber die Arbeitsweise eines jeden Bartenders. Er erhöht die Professionalität und schult den Mixologen in einzelnen Abläufen, verlangt gleichermaßen nach schnellem und auch sauberem Arbeiten. Nicht zuletzt aufgrund dieser Hohen Schule stellt Bar-Manager José Contreras selbstbewusst fest, dass ein jeder Bartender auf dem Schiff für die gleiche Position auf dem Festland schlichtweg überqualifiziert sei. Er müsse dann – der Erfahrung wegen — schon als Barmanager tätig sein.

Neidlos muss der Autor anerkennen, dass die Arbeit auf einem Ozeanriesen für die meisten Festlandkollegen seines Standes eine echte Herausforderung darstellen würde. Bis zu 500 Cocktails pro Stunde verteilt auf 20 Bars. Im Schnitt – so rechnet man hier – trinkt jeder Passagier 4-5 Cocktails am Tag. Macht bei 4.000 Reisenden rund 20.000 Drinks, 140.000 pro Woche. „Wenn es ruhig ist“, fügt Contreras schmunzelt hinzu und erklärt, man würde die Bierration während des Spring-Breaks zum Beispiel verdoppeln. 250 Kästen Corona pro Woche, 7 weitere Biersorten und ca. 300 Flaschen weißer Rum lagern auf Deck 2. Dort wo kein Passagier Zutritt hat.

Ein bisschen Pauschalurlaub auf hoher See?

Zugegeben: Das alles lässt definitiv die eine oder andere Assoziation zum Ballermann-Gehabe zu und erweckt bei einem Großteil der Leserschaft mit Sicherheit Erinnerungen an den Pauschalurlaub anno 1996. Doch wie so häufig gilt auch hier: Das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Kellner, Bartender, Barchef und F&B-Manager sehen sich mit einer Herkulesaufgabe konfrontiert, die ein hohes Maß an Disziplin, Erfahrung und Professionalität verlangt.

Zudem ist die Norwegian-Reederei wahrlich nicht dafür bekannt, im Fahrwasser ihrer Konkurrenten mit zu schwimmen. Nicht selten entwickelte die Firma Konzepte und Trends, die ihre Mitbewerber zum Stillschweigen verdammten und vielen anderen ein anerkennendes „Wow!“ entlockten.

Punsch oder Pisco?

Was Getränke- und Spirituosenwahl, aber auch die Gestaltung, das Setup und die thematische Konzeption der Bars angeht, so scheint Norwegian auch hier seiner kolportierten Revoluzzer-Rolle gerecht zu werden. Ob es sich um einen Besuch der ersten Eisbar auf See bei -20°C oder um die mit bis zu 40 verschiedenen Mojito-Variationen aufwartende Sugar-Cane-Bar handelt, die das Herz eines jeden Gastes erobert. Nicht viel einfacher wird es für den Gast bei der Markenwahl. Ausschließlich hochklassige Spirituosen kommen hier zur Auswahl. So finden sich nicht nur Premium-, sondern gar sogenannte Ultra-Premium-Marken im Speedrack. Die Vielfalt ist gigantisch.

Ähnlich gewaltig scheint der personelle Aufwand, der hier betrieben wird. 42 Bartender, 61 Kellner, 10 speziell für die Garnituren eingestellte Barleute. Sie alle sind für das leibliche Wohl eines jeden Passagiers verantwortlich. Auch werden die Cocktails auf die unterschiedlichen Routen abgestimmt und immer wieder modifiziert. So ist es keine Seltenheit, dass der Negroni – mit Sicherheit kein Drink für den Pauschaltouri – auf Mittelmeer-Routen als Cocktail of the Day beworben wird.

Was die Entwicklung der Labsale angeht, befindet sich die Rederei in einer engen Partnerschaft mit der Diageo WorldClass und empfängt regelmäßig amerikanische Meister-Mixologen an Bord der Schiffe. Zusammen werden dann in speziellen Tasting-Runden einzelne Cocktails auf die Karte gewählt.

In Vino Veritas

Aber ein abschließendes Urteil muss her. Können Cocktails auf dem Schiff mit denen guter Bars an Land mithalten? Nicht wirklich. Aber das müssen sie auch nicht. Denn — anders als in der Mixologiewerkstatt der Metropole — trinkt der durchschnittliche Gast hier nicht mit sensorischen Feingefühl und purem Barverständnis. Er geht hier nicht in eine Bar mit dem Anspruch, das Cocktailrad neu erfinden zu lassen, sondern um seine Urlaubseindrücke mit einem guten Drink zu untermalen. Es geht ihm nicht um Novitäten der Bartechnik und auch nicht unbedingt um Craft Beer. Er ist auch genausowenig (oder jedenfalls seltener, als man denkt) ein anspruchsloser Prolet. Vielmehr ein unkomplizierter, ja unprätentiöser Zeitgenosse, der sowohl die entspannte Atmosphäre an Bord als auch die Bemühungen des Personals zu schätzen weiß.

Barkultur auf einem Schiff kann man nicht vergleichen mit den Vorgängen auf dem Festland. Das sollte man auch gar nicht. Viel zu groß sind die Unterschiede und jeweiligen Arbeitsbedingungen. Sous Vide, Cold Drip und Co. bieten sich bei dem Passagieraufkommen schlichtweg nicht an und wären mit Sicherheit auch unter finanziellem Gesichtspunkt höchst unwirtschaftlich.

Wobei man den Einzelfall des obigen Beispiels beachten muss. Der Fall von Norwegian gibt ein positives Bild ab, indem man sich mehr und mehr der Trinkkultur der Barmetropolen unserer Zeit nähert. So sind unterschiedliche Barkonzepte darauf ausgelegt, eine große Bandbreite der verschiedenen Geschmäcker abzudecken und Innovationen wie das Bar Lab., das speziell auf erhabene Genussmomente der Barkultur zugeschnitten ist und sein Debüt auf einem weiteren Schiff der Linie haben wird, unterstreichen diese Beobachtung nur. Letztlich zeichnet das Schiff doch etwas aus, was an Land viel zu häufig sträflich missachtet wird.

Ob Manhattan, Negroni, Pina Colada oder Coconut Mojito. Das Schiff ist vor allem eines: Allrounder.

Credits

Foto: Schiff via Shutterstock

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