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Velvet Bar Berlin Neukölln | Mixology - Magazin für Barkultur

Velvet: Wenn die Zutat im Zentrum steht

Berlin-Neukölln löst viele Reflexe aus, nicht aber zwingend die Assoziation mit einer Bar wie der Velvet Bar. Gestartet im Frühling 2017 als eine Art Experiment, ist die Bar unter der Leitung von Filip Kaszubski und Ruben Neideck mittlerweile eine Institution – für Progression, für Handwerk und für den Umgang mit heimischen, natürlichen Zutaten. Ein Portrait.

„Wer ist der Gast, was will er hier?“ Das klingt nicht nach einem samtweichen Empfang in einer Bar, eher nach dem Kampfhundbeißreflexcharme oder der global uncool-coolen Hipsterattitüde Neuköllns. Neukölln, dieser von Armut, Kriminalität, Parallelwelten und Gentrifizierung verwundete, aber auch von romantisch-schönen Architektur-Statements verwunschene Berliner Bezirk mit seinen Dreimalgroßstadteinwohnern, hat es immerhin schon in den 1970er Jahren auf die legendäre Berlin-Platte „Heroes“ von David Bowie geschafft. Ist Kulisse für Kriminalliteratur und Filme – knallhart sein Image.

Neukölln hat viele Probleme und von vielem zu wenig. Sicherlich fehlt nach den Entwicklungen der letzten Jahre jedoch eines nicht: eine gute Bar. So mag man vermuten. Mit den demnächst selbst wieder verdrängten Verdrängern, den Opfern ihres eigenen Hypes, den Künstlern, Studenten, Bohemiens, sind auch viele neue Bars zu den rar gesäten – aber hoch beachtlichen – älter eingesessenen Schüttelstuben hinzugekommen.

Velvet Bar Berlin Neukölln | Mixology - Magazin für Barkultur
Ruben Neideck
Velvet Bar Berlin Neukölln | Mixology - Magazin für Barkultur
Filip Kaszubski

Molle und Korn im Labor

In einem Milieu also, das zwischen Hoffnung und Trotz schwankt, hat sich auf – zunächst beinahe lautlosen Pfoten – ein Projekt in die Rauheit der Nacht geschlichen, das eine Idee in sich trug und trägt, die auf einem schmalen Grat wandelt. Die Velvet Bar nahm im Frühling unter neuer Ägide einen zweiten Anlauf und suchte den Schulterschluss mit Kiez, Küche, Korn und Karotte. „From Farm to shaker“ lautete das Credo.

Filip Kaszubski und Ruben Neideck sind die Köpfe der Velvet Bar, zur Gründungstrias gehörte seinerzeit auch ein gewisser Damien Guichard, der mittlerweile nach einem Zwischenprojekt die Bar im gar nicht weit entfernten Truffle Pig leitet. Einer der drei Inhaber, Robert Havemann, ist der Berliner Szene bekannt als Betreiber von „Rosa Lisbert“ und „Lucha Libre“ in der Arminius Markthalle in Moabit. Einem Ort also, der es ebenfalls auf die Symbiose aus Tradition und Moderne abgesehen hat.

Kaszubski und Neideck kannten sich bereits aus gemeinsamen Zeiten in der Berliner Bar Marqués, teilen die Hingabe zu veredelten Aromen und verleihen ihrer Phantasie gerne Flügel unter Zuhilfenahme technischer Gerätschaften aus Chemie und Küche. Es wird vaporiert, rotiert, zentrifugiert, mit Ultraschall vakuumiert, Flüssigstickstoff wabert, Säfte werden extrahiert im Sloe Juicer und im Sous Vide-Verfahren die Macht der Geduld gefeiert. Das Ganze geschieht hinter einem rot beleuchteten Bullauge in einem separierten Raum der Bar, ein professioneller Chemiker gibt seine Expertise.

Wo befinden wir uns? Richtig, im Kerngebiet von Molle und Korn – Neukölln. Damit das Ganze nicht zu nerdig rüberkommt, betonten beide damals schon: „Wir haben alles da, was eine klassische Bar anbietet, vom leichten Bier über Craft Beer bis zu Longdrinks und allen relevanten Cocktails der Bargeschichte. Aber wir wollen den Gästen auch andere Wege aufzeigen. Die Leute hier sind genauso neugierig wie anderswo. Wir stellen die Techniken überhaupt nicht in den Vordergrund.“ Eher begreifen sie die Aromaversuchsanstalt als Mittel zur gewünschten Kommunikation. „Unser Main Driver sind die Ingredienzien, dann kommt die Spirituose hinzu. Wir betrachten das als unseren Empfehlungsschatz“, erklärt Neideck. Und auch, wenn zunächst vielleicht gar nicht so sehr als zentraler Ansatzpunkt dargestellt werden sollte – genau dieser Zugang zu heimischen Zutaten und deren Verarbeitung, der ungeheure Aufwand, das Velvet-eigene Verständnis einer saisonal quasi durchgehend wechselnden Cocktailkarte, aber auch das viele Lernen, das alles hat dazu geführt, dass das Velvet im Herbst letzten Jahres als “Bar des Jahres Deutschland” prämiert worden ist. Nach gerade mal rund eineinhalb Jahren seiner Existenz.

Velvet Bar Berlin Neukölln | Mixology - Magazin für Barkultur
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Studentenblume
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Heidelbeere
Velvet Bar Berlin Neukölln | Mixology - Magazin für Barkultur
Blutjohannisbeere

Velvet

Ganghoferstraße 1
12043 Berlin

Mi - So 20 - 02 Uhr

Der Bauer und die Neugierde

Bereits von der Straße aus lässt sich erahnen, dass hier Besonderes auf einen wartet. Das Rückbuffet der Velvet Bar ist zur Fensterfront hin gebaut und von außen sichtbar, die Bartender sind bei der Arbeit zu beobachten. Das Design zeigt sich ausgesprochen minimalistisch mit dunklem Holz, Farbtönen in anthrazit, einer goldgelben Decke und an Mikrochips erinnernde Adern, an denen Lampen wie in einem Labor hängen.

Die eigentliche Waffe aber ist die Zusammenarbeit mit Bauern aus Berlin und der näheren Umgebung, das war von Anfang an so, wurde aber im Lauf der Zeit immer wichtiger. „Wie die Küchen wollen wir Beziehungen zu ihnen aufbauen und von ihrem Wissen profitieren“, sagte Kaszubski damals. Saisonal, lokal. Alles kommt vom Feld, aus Gärten oder ist einfach Wildwuchs und wird je nach Reifegrad bearbeitet. Drinks mit Waldmeister aus dem Prinzessinnengarten, Fermentierte Walnuss mit Sake, Rye und Bénédictine. Im Haus weiterverarbeitete Kornelkirschblüte wird mit Absinth, Pisco, Falernum und Gin urbar gemacht, während im frühen Sommer der Saft unreifer Brombeeren als aparter Ersatz für Zitronensaft dient. Und zur Not stapft Barchef Neideck eben auch mal nachts im Schutz der Dunkelheit durch bestimmte Beete, wenn es dort die Zutat der Begierde in der besten Qualität gibt.

Die Vision der Velvet Bar besteht darin, alles, was die Natur liegen lässt, auf seine Mixability zu überprüfen und ins Glas zu bringen. Bodenständig und erdig wie die Produkte sehen sich auch die Macher. Sendungsbewusstsein ist ihnen fremd, man spürt eher die eigene Lust darauf, die Resultate der Neugierde mit den Gästen zu teilen. Sinnfällig wird das, als Kaszubski auf die Frage nach einer Brauereibindung oder Industriepartner entgeistert antwortet: „Wenn, dann hätten wir einen Sauerampferpouring-Vertrag geschlossen.“ Bemerkenswert ist dabei vor allem der „Lab Day”, wie das inzwischen vierköpfige Team immer wieder betont: Das Velvet hat nur von Mittwoch bis Sonntag geöffnet. Am Dienstag jedoch wird das aktuell Gesammelte, Geerntete, Kultivierte gemeinsam ebenjener Überprüfung und Verarbeitung unterzogen: Was kann man damit eigentlich machen? Auf diese Weise sind mittlerweile mehrere Dutzend Cocktailkarten entstanden. In zweieinhalb Jahren, wohlgemerkt.

Damit sich auch Liebhaber klassischer Neuköllner Kneipenkultur nicht grämen müssen, findet seit jeher eine Zutat ganz besondere Hingabe: Korn. Aber auch der natürlich in allen seinen Facetten, nicht nur mit Spelunkenmuff. Altes und Neues eben in Neukölln.

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Die Velvet Bar macht das Komplizierte

Aber wie ist das nun mit dem Gast? Die Pflege dieser Spezies wird ja gerne mantrahaft von der Mischerzunft wie eine Monstranz vor sich hergetragen. Allein, im Alltag erlebt man oft das Gegenteil, im schlimmsten Fall degeneriert die „Gastgeberschaft“ zur Worthülse.

Wer wirklich wissen will, wer der Gast ist und was er will, der muss in der Lage sein, sich eines Werkzeuges des Geistes zu bedienen – der Psychologie. Die Velvet-Macher wissen um diese Kunst, brechen aber auch das auf die Machbarkeit einer Bar herunter: „Letztendlich ist alles nur ein Drink und der ist unser Werkzeug.“

Credits

Foto: ©Sarah Swantje Fischer

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