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Vier Tage hinter dem Londoner Curfew, Teil Fünf: Die sozialdarwinistische Kampfbahn London

Unser Autor Martin Stein fliegt seit Jahren regelmäßig in die Cocktail-Metropole London. Nun ist er erstmals seit Februar wieder vor Ort. An dieser Stelle berichtet er täglich und taufrisch von Eindrücken und Begegnungen rund um die Barszene im Angesicht eines drohenden Lockdowns.

Teil Fünf: Die sozialdarwinistische Kampfbahn London

Sonntag 18. Oktober. „Gehört ihr zum selben Haushalt?“ hat das Potential, in dieselbe Kategorie großer Fragen von überschaubarer Antwort-Signifikanz aufgenommen zu werden, zu der auch „Hast du deine Zähne geputzt?“, „Gehen wir nächste Woche joggen?“ oder auch „Wirst du deine Frau/Mann für mich verlassen?“ gehören.

London ist gerade auf Stufe zwei der Corona-Restriktionen hochgefahren worden, was letztlich die Symbolstufe einer Symbolpolitik ist: keine Gruppen über sechs Personen, na gut, kein Treffen mit Menschen außerhalb des eigenen Haushalts, da wird’s schon praxisfern, denn diese Regel wird, wie an anderer Stelle schon erwähnt, in einem Land ohne Meldepflicht sehr schwer zu überprüfen sein wird.

Die Ähnlichkeiten zu Deutschland drängen sich auf: die Gastronomen sind für die Einhaltung von Regeln verantwortlich, die sie weder kontrollieren können noch dürfen. Die allgemeine Sperrstunde um 22:00 Uhr galt schon vor Tier 2. Soweit irgendwie halbwegs sinnvoll, wird früher aufgesperrt. So richtig sinnvoll ist das selten.

Die großen Hotels habe nun alle wieder eröffnet, und die Bar des Connaught zum Beispiel wird auch prompt ab 15:00 Uhr gut besucht. Hauptsächlich von Hotelgästen natürlich, denn wer sonst kann es sich, von einem windigen Getränkejournalisten mal abgesehen, schon leisten, den frühen Nachmittag mit einem Martini einzuläuten. Finanziell und konstitutionell nicht leicht.

Es zeigt sich aber auch hier, dass das Bedürfnis der Menschen nach Normalität groß ist, wobei … was bedeutet schon Normalität an einem Ort, bei dem die Seitenstraße aussieht wie ein Außenlager von Rolls Royce. Wie die Normalos ihr Bedürfnis nach Nähe und Gesellschaft ausleben, wie sie den Druck abbauen in einer sozialdarwinistischen Kampfbahn wie London, na, das bleibt den Normalos überlassen.

Auch in Großbritannien gibt es Studien zu den Ansteckungsszenarien, und genau wie bei uns sind die Ergebnisse klar: Die Gastronomie ist nur für einen verschwindend geringen Anteil der Infektionen verantwortlich; dennoch wird die Gastronomie weiter in ihrer Freiheit (und Überlebensfähigkeit) beschnitten. Es ist zum Verzweifeln. Ein bisschen wie in dem Witz, wo der Besoffene seinen verlorenen Schlüssel unter der Laterne sucht. Verloren hat er ihn zwar ganz woanders, aber da ist ja kein Licht.

Man verhaftet eben die üblichen Verdächtigen. Das funktioniert bislang so gut, dass man gespannt sein darf, woran die Barbetreiber zukünftig noch Schuld sein werden. Am Brexit? Klimawandel? Unreine Haut? Michael Wendler?

Ich bin ganz froh, als mein Rückflug planmäßig angezeigt wird. London ist grade noch kein Risikogebiet; die rote Zone nähert sich von Norden her immer weiter, gerade wurden auch die Midlands mit eingeschlossen. Die Tage, Erlebnisse und Gespräche waren intensiv und müssen verdaut werden. Für die Begleitgetränke gilt entsprechendes. Die Professionalität und das Durchhaltevermögen der Protagonisten nötigen mir nach wie vor enormen Respekt ab, aber es ist auch nicht zu übersehen, dass die vergangenen sowie der düstere Ausblick auf die kommenden Monate bereits zunehmend ihren Zoll fordern. Viele werden schlicht nicht mehr lange weitermachen können, auch weil sich die Regierung (wie bei uns) nach wie vor sträubt, eine gesetzliche Regelung zur Pachtsituation während der Phasen eines ganzen oder teilweisen Lockdowns zu schaffen. Aber damit könnte man ja schließlich die Reichsten treffen, und das will ja keiner.

Heathrow Airport ist natürlich auch deutlich ruhiger als üblich; die Nobelboutiquen warten auf Kunden, einige Läden haben ganz geschlossen, der Whisky-Shop hat Drei-für-Zwei-Angebote. Flug BA956 startet etwas entfernt bei den B-Gates, und den Weg dahin gehe ich zum Großteil alleine. Sehr seltsam, in dieser Umgebung seine eigenen Schritte zu hören.

Im Flieger sitzen dann so etwa 30 Leute. Zumindest das Social Distancing macht hier keine Schwierigkeiten. Und Platz haben in der Holzklasse ist ja auch mal schön. Ansonsten versuchen eben auch die Fluggesellschaften den Betrieb im Rahmen von Regeln aufrechtzuerhalten, deren Schlüssigkeit sich vielleicht nicht von sich aus aufdrängt.

Aber gut, so sind die Zeiten. Risikominimierung ist das Ziel. „If you are wearing a face mask, please remove it before putting on the oxygen mask“. Na, dann kann ja nix mehr passieren.

Teil Vier: #CancelTheCurfew & zu Besuch bei Monica Berg

Freitag/Samstag, 16./17. Oktober. Die deutschen Kritiker der Corona-Maßnahmen hängen sich ja gerne an den zahlreichen Widersprüchlichkeiten der Ge- und Verbote auf. Na bitte, willkommen in England. Wenn da zum Beispiel ein Schüler erkrankt, dann sucht der Lehrer die Klassenkameraden raus, die um diesen drumrum sitzen und schickt die auch in Quarantäne.

Für die Eltern gilt die Quarantäne aber nicht. Vielleicht sieht klassisch-britische Erziehung ja grundsätzlich eine Menge Social Distancing vor, so dass die Eltern ihren Kindern nicht besonders nahe kommen; Boris Johnson etwa könnte recht kontaktfrei aufgewachsen sein, wenn man sich das recht überlegt.

Distanz und Hygiene werden genau so wie bei uns groß geschrieben, aber vielfach scheitert man an den laxen Regularien der Vergangenheit. London ist so teuer, dass jeder Betrieb bestrebt ist, die Anzahl jener Quadratmeter in seinem Laden, die keinen Umsatz generieren, möglichst gering zu halten. Küchen sind klein, Lagerräume winzig bis nicht vorhanden, und auch an den sanitären Einrichtungen wird regelmäßig gespart. Wenn aber dann ein Café mit 200 Sitzplätzen über zwei Unisex-Toiletten verfügt (was erlaubt ist), dann ist es auch schon egal, ob die Gäste auf dem Weg zum Klo eine Maske tragen.

Seit Freitag Mitternacht ist auch in London Stufe Zwei der Restriktionen in Kraft getreten, was hauptsächlich bedeutet, dass sich Haushalte nicht mehr untereinander treffen dürfen, ob privat oder öffentlich. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben. Andererseits haben die Gastronomen dabei das gleiche Problem wie in Deutschland: Sie sollen es durchsetzen, können und dürfen das bei ihren Gästen aber natürlich nicht überprüfen. Die drohenden Strafen hingegen sind massiv; die Gastro bietet sich auch hier wieder als der klassische Sündenbock an. Selbst die Polizei täte sich aber mit der Kontrolle schwer, in einem Land ohne Meldesystem.

Auf den bloßen Augenschein kann man sich natürlich auch nicht verlassen: Eine 12er-Gruppe mit sieben vertretenen Ethnien kann hier ohne weiteres einem Haushalt angehören; das ist nicht ungewöhnlich in einer Stadt, in der „WG“ oftmals bedeutet, dass man sich zu viert ein Zimmer teilt.

Aber Hauptsache, um zehn ist Feierabend. Ein Land, das jahrzehntelange Übung darin hat, restriktive Sperrstunden zu umgehen, nimmt das achselzuckend hin. Beat the curfew, start earlier. Es wird halt noch mehr vorgeglüht und noch schneller gesoffen, und danach säuft man zuhause weiter. Das kontrolliert dann wirklich keiner mehr; London hat ohnehin eine der niedrigsten Corona-Bußgeldquoten des Landes. Und das sicher nicht, weil alle hier so brav sind.

Die Frustration der Gastronomen ist, wie bei uns, enorm, nur scheint die Regierung hier schon noch ein gutes Stück erratischer zu agieren als in Deutschland. #CanceltheCurfew ist der Hashtag, der im Tayēr + Elementary im Fenster hängt, dem Laden von Monica Berg und Alex Kratena, den sie im Sommer 2019 eröffnet haben und wenige Monate darauf während des ersten Lockdowns wieder zusperren mussten. Nun arbeitet man wieder, im Rahmen dessen, was möglich und erlaubt ist, und das ist wenig genug. In der näheren Umgebung sind nach wie vor 30.000 Büro-Arbeitsplätze ins Home Office ausgegliedert, und das sind lauter potentielle Gäste, die nun eben nicht mehr zwischendurch auf einen Kaffee oder abends auf einen Drink vorbeikommen.

„Vielleicht gefällt das ja auch vielen Angestellten noch, dass sie morgens nicht ins Büro müssen. Aber irgendwann werden die Firmen merken, dass es dann ja auch keinen großen Unterschied mehr macht, ob ihre Leute in einem Vorort von London oder in Indien vor dem Bildschirm sitzen.“ Monica Berg hat sich mit ihrer klugen, weitblickenden und differenzierten Art immer wieder sehr deutlich und hörenswert zur Lage geäußert. Dennoch kann sie auf meine Gratulation zur Nummer eins auf der Liste der „industry’s most influential figures“ nur, und das ist auch hinter ihrer Maske gut sichtbar, müde lächeln. Klar freut sie sich über die Anerkennung, sagt sie. Aber einflussreich? „Gerade zur Zeit – wenn ich irgendetwas nicht bin, dann einflussreich.“ Man kämpft gegen Windmühlen, und alle wissen, dass es auf absehbare Zeit nur schlechter werden wird. (Ein ausführlicher Beitrag zum Treffen mit Monica Berg findet sich hier, Anm. d. Red.)

Ein paar Meter weiter die Straße runter mixt Marian Beke im The Gibson seine opulenten Drinks und kann ebenfalls nur wenig Optimismus entwickeln. Besonders stört ihn der Feigenblattcharakter der bisherigen Regelungen. Man lässt die Bars in einem Rahmen arbeiten, der nicht profitabel sein kann, aber ein bisschen den Anschein von Liberalität vermittelt. Diese emotionale und betriebswirtschaftliche Hängepartie nervt Beke: „Sperrt uns zu, oder lasst uns arbeiten. Das zwischendrin bringt keinem was.“

So krebsen alle irgendwie ein wenig weiter vor sich hin. Staatliche Regelungen der Pachtsituation? Ach woher. Da könnte es ja auch mal die Reichen treffen. Das Englische hat übrigens einen recht vielsagenden Ausdruck dafür, wenn jemand aus einem Job entlassen wird: he is „made redundant“ – er wird überflüssig gemacht. Könnte hier ein ganzes Gewerbe beschreiben.

Teil Drei: The Last Dance

Donnerstag, 15. Oktober. Der eigentliche Auslöser meiner Reise nach London findet am Donnerstag im 12th Knot statt, der Rooftop Bar im Sea Containers Hotel, das auch das Lyaness beherbergt. „The Last Dance“ nennt sich das Event bezeichnenderweise, das im Rahmen der Londoner Cocktail Week ins Leben gerufen wurde und die Größen der jüngeren Geschichte der American Bar des Savoy präsentiert – Declan McGurk, ehemaliger Director of Bars; Maxim Schulte, der (wohl im Wortsinn) letzte Head Bartender, sowie dessen Vorgänger Erik Lorincz. Sogar der Stammpianist Jon Nickoll ist da und unterhält die Gäste, die jetzt, mittags, zum großen Teil aus der Barszene stammen.

Eine Menge Ehemalige des Savoy sind hier, auch solche, die während des ersten Lockdowns entlassen und nicht wieder eingestellt wurden; überhaupt hat die American Bar ja momentan deutlich mehr ehemaliges als tatsächliches Personal. Umso mehr fällt in diesem Zusammenhang auf, dass das Ganze nicht im Savoy stattfindet, sondern schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Themse. Das Savoy Hotel hat erst im September schrittweise wieder aufgesperrt, wobei momentan nur die Beaufort Bar zeitweise geöffnet ist; die American Bar ist nach wie vor geschlossen. Man fragt sich, ob man da seinen alten Galionsfiguren nicht mit ein bisschen Mühe das alte Feld für ihr Abschiedsspiel hätte freiräumen können. Oder müssen.

Die neuen Realitäten der Barwelt zeigen sich auch bei „The Last Dance“ deutlich: Sperrstunde ist ja (momentan zumindest noch) um zehn Uhr Abends, außerdem gilt auch hier das Distanzgebot; da muss man den Andrang verteilen. Also gibt es hier bereits zweistündige Time Slots, die sich von mittags 12:00 Uhr bis eben 22:00 Uhr abends erstrecken.

Und ordentlich Geld kosten; bis zu 300 britische Pfund pro Person. Drinks inbegriffen. Der 12-Uhr-Slot scheint besonders für Kollegen interessant zu sein, die entweder später selbst noch arbeiten müssen oder schon aus Tradition eher ungern dann trinken, wenn das alle anderen auch tun. So ein bisschen wie der Sonntag, das klassische Bartender-Wochenende. Es hat was Familiäres.

Und etwas Bizarres. Die Stimmung ist gut; viele kennen sich, man unterhält sich hier und da und dort, und natürlich hat das Ganze auch einen sehr edlen, um nicht zu sagen elitären Touch, mit Blick über London und die Themse. Die Kugelleuchten unter der Decke spiegeln sich auf der Tischplatte und wirken tatsächlich wie lauter kleine Coronaviren, aber vielleicht wird man auch langsam paranoid.

Bei aller Perfektion des Ablaufs bleibt natürlich offensichtlich, dass es momentan keine Normalität gibt; das ist auch ohne die Masken des Personals nicht zu leugnen. Mir kommt die Grillparty aus dem Film „Apocalypse Now“ in den Sinn: the more they tried to make it just like home, the more they made everybody miss it.

Gerade durch das Motto der Veranstaltung und das nautische Ambiente der Sea Containers hat der Augenblick auch etwas von der Band, die auf der Titanic bis zum Ende spielt. Viele hier im Saal gehören zu den Spitzen ihrer Profession, sturmerprobte Gestalten, und das freundliche Gesicht ist ihnen mittlerweile ins Knochenmark übergegangen. Dennoch spürt man, dass niemand hier weiß, wie es weitergeht. Und ob. Auch dieses Event wird wohl schon nächste Woche nicht mehr durchzuführen sein.

Declan McGurk hält eine kurze Ansprache, bedankt sich hier, beglückwünscht da, und stellt einmal mehr heraus, welche Ausdauer und Widerstandskraft in diesem Gewerbe alltäglich ist. Ja, da hat er Recht. Es ist zumindest ein schöner Gedanke, dass viele in diesem Beruf eine allgemeine Lebenstüchtigkeit besitzen, so dass man sich um sie keine allzu großen Sorgen machen braucht.

Jon Nickoll spielt das Lied von der American Bar; der Applaus ist groß. Die zwei Stunden sind wie im Flug vergangen; man ist froh, dass man dabei ein durfte und weiß, dass es so etwas so schnell nicht wieder geben wird. Because the likes of us shall never be seen again, wie Flann O’Brien so schön sagte. Später werde ich mich noch mit Monica Berg im Tayēr & Elementary treffen.

Die Drinks waren perfekt.

Teil 2: Leeres London, Dreistufenplan & Schach mit Rémy Savage

Mittwoch, 14. Oktober 2020. Die Einreise ist letztlich problemloser denn je. Zum ersten Mal seit überhaupt funktioniert beim Passbildroboter die Gesichtserkennung. Bestimmt, weil ich zugenommen habe. Trotzdem schön, dass das reibungslos geklappt hat und ich immerhin schon mal rein darf ins Land. Andererseits bin ich als guter Deutscher schon etwas enttäuscht, dass meine superwichtigen Fragebögen, die ich so dringend im Vorhinein ausfüllen musste, letztlich keine Sau sehen wollte. Fast bin ich versucht, mal kurz in der Abfertigungshalle ostentativ ganz laut zu husten.

Ansonsten tritt das Virus erst mal durch seine angenehmen Entschleunigungs-Nebenwirkungen in Erscheinung. Keine Schlangen, nirgends, Der Verkehr ist so, dass man nur noch selten das Gefühl hat, jeden Moment sterben zu können. Selbst die Tube ist menschenleer.

Die Kehrseite zeigt sich, gerade in den touristischen Ballungsräumen etwa um Soho herum, an den zunehmenden Leerständen. Hier waren die Mieten am höchsten, und die Kundschaft bleibt aus. Da musste man zuerst die Segel streichen. Ansonsten geht halt alles irgendwie weiter. Muss ja. Nach dem aktuellen Dreistufenplan liegt London noch auf der niedrigsten Stufe mit den wenigsten Einschränkungen. Noch. Ab Freitag soll Stufe zwei gelten.

Die Sperrstunde liegt momentan wieder bei 22:00 Uhr, und nach monatelangem Lockdown ächzen die Gastronomen darunter ordentlich. Die Gäste selbst nun weniger; im Motherland of Sperrstunde treten beim Londoner sofort tief inhärente Bewältigungsmechanismen aus jener Zeit in Kraft, als die Pubs eh um 23:00 Uhr schlossen, was im Grunde bedeutet, dass das Volk sein einzigartiges Talent zur Pressbetankung wieder aufblühen lässt. Man fängt jetzt halt früher mit dem Trinken an, trinkt schneller und bestellt kurz vor Schluss noch drei Runden. Die während des Lockdowns ausgebildete Trinkerlogistik kommt in den Cocktailbars voll zum Tragen: Pünktlich zum Feierabend deckt man sich mit Bottled Cocktails ein, und wie offensichtlich überall auf dem Planeten verlagert die Regierung das Problem damit einfach aus dem öffentlichen Raum ins Private. Dabei zeigt doch das Virus vor allem eins: Nur, weil man etwas nicht sieht, ist es noch lange nicht weg.

Der Paniklevel der Einheimischen ist schwer einzuschätzen. Eigentlich trägt jeder in London Maske. Halt nicht zwangsläufig im Gesicht. Natürlich auch klassisch nasenfrei, aber eher doch dann gleich unter dem Kinn oder hinter dem Ohr. Im Grunde tragen die englischen Maskenmuffel ihren Covid-Präser so wie Pete Doherty seine Krawatte: betont schlampig, mit Statement-Charakter.

Abends treffe ich mich mit Rémy Savage, und zwar bei ihm zu Hause im East End, weil sein neues Barprojekt noch zu sehr Baustelle ist. Oder vielleicht auch noch zu geheim. “Ich bin kein Geschäftsmann, Geld bedeutet mir nicht viel. Meine Partner schwitzen da schon etwas mehr. Aber ich habe da eine Möglichkeit gesehen, etwas Besonderes zu verwirklichen. Und daran arbeiten wir. Was dann passiert, wird man sehen”, sagt er über sein neues Projekt. (Ein ausführliches Feature über den Besuch bei Rémy Savage folgt in Kürze auf Mixology Online, Anm. d. Red.)

Auf jeden Fall ist es ein Genuss, sich vom Meister ein paar Drinks in der Küche mixen zu lassen. Hat ja auch alles da. Nick & Nora aus dem Eisfach, eigene Tiefkühltruhe fürs Eis, Spirituosen sowieso. Und es hüpft mein Herz: Was für ein wundervoller Mensch muss das sein, der da Chartreuse in gelb und grün als VEP vorrätig hat! Aber da spart er nicht am falschen Ende, das muss man sagen. Ich kenne ja auch schon ein paar Leute mit einem Thermomix in der Küche; mit einem Rotovap im Wohnzimmer wie Rémy Savage es hat aber doch eher weniger. Wenn Homedrinking das Menetekel der Zukunft ist, dann wohl nicht unter derartigen Gegebenheiten.

Also lasse ich mir das einfach mal gefallen und verliere pflichtgemäß auch noch beim Schach. Evans-Gambit mit Weiß; eigentlich ist Rémy Savage zu jung, um zu wissen, dass diese Eröffnung nicht besonders erfolgversprechend ist. Er hat’s trotzdem rausgefunden.

Teil Eins: Abflug, Ankunft, Arithmetik

Mittwoch, 14. Oktober 2020, Flughafen München. Das Virus entblößt seine heimtückische Fratze in Form von drei angetrockneten Weißwürsten in einer Pappschachtel mit einem eher symbolischen Holzbesteck. Ein bitterer Anblick. Vergänglichkeit in der Pelle. Weißwürste, über die Gryphius ein Gedicht schreiben könnte.

Und so wird mein traditionelles Abflugs- bzw. Abschiedsessen, bevor es hinweg zu fremden Kulturen mit eigenartiger Kulinarik geht, schon düster von den Zwängen der Zeit verschattet. -Wie der ganze Flughafen München übrigens. Nix los. Wenn die Wege ein wenig kürzer wären, könnt’s auch Memmingen sein. Hier sind so wenige Menschen, dass man München Franz Josef Strauß auch gut und gerne der Bayern-SPD umwidmen könnte. Ein Hauch von I am Legend. Ob ich hier wohl mal vom Flügel eines A380 meinen Golf-Abschlag üben könnte?

Und das ist ja nur der Vorgeschmack. Es geht nach London, in die Cocktailmetropole schlechthin. Noch jedenfalls. Noch ist sie es, aber das Imperium wankt bedenklich. Natürlich; horrende Pachten, ausbleibende Touristen und drohende Lockdowns sind in einem System, das von seiner ganzen Ausrichtung her nur auf Vollast geschmeidig funktionieren kann, höchstens kurz auszuhalten. Momentan gilt eine allgemeine Sperrstunde bis 22:00 Uhr, und genau wie bei uns harren die Barbetreiber täglich in gespannter Unruhe der neuen Nachrichten, im Wissen, dass diese meist nichts Gutes verheißen.

Ich wäre bestimmt ein sehr guter Kriegsberichterstatter geworden, wenn ich nicht so gerne im eigenen Bett schlafen würde, immer auf der rechten Seite nach links gedreht, mit drei kunstvoll gestapelten Kissen und einer quadratischen Decke zum Hineinknoten. Leider haben Krisengebiete meistens etwas recht Unbequemes an sich; zumindest da hat London noch einiges zu bieten, auch wenn mich die britische Lakenstopferei nach wie vor enerviert. Aber was nimmt man nicht alles so auf sich als Journalist an vorderster Front.

Am Donnerstag werden Declan McGurk, Erik Lorincz und Maxim Schulte in einem recht singulären Event aufmixen. Eine Menge Ehemaliger der American Bar sind das; so ehemalig gar, dass das Event nicht im Savoy stattfindet, sondern in den Sea Containers, der Heimstatt des prachtvollen Lyaness.

Wenn es denn überhaupt stattfindet. Weiß ja keiner.

Ein Erlebnis wird der Trip nach London auf jeden Fall, soviel ist klar. Lassen sie mich überhaupt rein in die Stadt? Einige Treffen mit anderen Größen der Szene stehen an. Wie geht es denen? Was werden sie zu sagen haben? Das Event in den Sea Containers trägt den bezeichnenden Titel „The Last Dance“. Das ist schon mehr als bloß ein Hauch Untergangsromantik und erinnert an eines der Schilder, mit denen die Szene ihre Rolle in diesen Zeiten umschrieb: „Wir sind die Band, die auf der Titanic bis zum Ende spielt.“

Bei aller Empathie wird hier so manchem gerade auch nicht unbedingt das Schicksal seiner Londoner Kollegen am nächsten gehen. Wenn die eigene Pfarre brennt, muss man nicht dringend wissen, ob im Vatikan der Putz bröckelt.

Ich fahre seit vielen Jahren regelmäßig nach London und tauche im Wortsinn ein in die unglaubliche Vielfalt und Qualität der dortigen Barlandschaft. Und ich mag einfach die Stadt, obwohl sie im Grunde schon immer ein sehr eigenartiges Konstrukt war, dessen Funktionsprinzip dem Außenstehenden nicht immer schlüssig schien. Dem Innenstehenden wohl auch nicht. Im Februar war ich zum letzten Mal hier.

Was wird übrig sein von der Stadt, die ich kannte?

Credits

Foto: Martin Stein

Comments (2)

  • Moritz

    Wohin ist denn Teil 1 verschwunden?

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    • Mixology

      Hallo Moritz,
      wir haben uns dazu entschieden, in diesem speziellen Fall einer Art Tagebuch die einzelnen Texte in einem langen Beitrag untereinander zu publizieren. So können wir auch immer schnell reagieren. Du findest Teil 1 also unter Teil 2. Und Teil 2 unter Teil 3, usw.
      Liebe Grüße,
      Die Redaktion

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