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Warum es bereits im 14. Jahrhundert einen Manhattan Cocktail hätte geben können

Warum es bereits im 14. Jahrhundert einen Manhattan Cocktail hätte geben können

Der Manhattan Cocktail ist eine amerikanische Erfindung und gilt als einer der prägendsten Cocktails der Barkultur. Daran soll auch dieser Text nicht rütteln. Denn er behauptet nicht, dass ein Manhattan um das Jahr 1310 getrunken wurde. Aber dass es möglich gewesen wäre. Unser Cocktail-Historiker Armin Zimmermann mit einem theoretischen Gedankenspiel.

Der Manhattan Cocktail entstand um das Jahr 1882, als jemand in den USA auf die Idee kam, einen Cocktail nicht nur mit einem Whisky, sondern zusätzlich auch mit Wermut, also einem fortifizierten Wein, herzustellen. Diese Idee setzte eine ungeahnte Kreativität bei den Bartendern jener Zeit frei und es entstanden schnell viele neuartige Cocktails und Mischgetränke.

Manhattan

Zutaten

6 cl Rye Whisky
2 cl roter Wermut
2 Dashes Aromatic Bitters

Ab ins Mittelalter

Der Manhattan Cocktail ist somit eine amerikanische Erfindung. Oder etwa doch nicht? Es gibt nämlich noch andere, die prinzipiell auf solch eine Idee gekommen sind. Ich bin auf mittelalterliche Texte gestoßen, die den Schluß zulassen, dass man bereits um 1310 so etwas wie einen Manhattan Cocktail gekannt haben könnte. Die Grundlagen dafür waren nämlich bekannt.

Was ist ein Manhattan Cocktail überhaupt? In seiner einfachsten Form ist eine Mischung aus Whisky, Wermut und Cocktail Bitters. Betrachten wir also einmal diese drei Zutaten in einem historischen Kontext.

Aus Heilkräutern alkoholische Extrakte für medizinische Zwecke

Es ist so, dass Getreide erst um das Jahr 1500 destilliert wurde, folglich kann es vor 1500 schwerlich einen Whisky gegeben haben. Gleichwohl kannte man Branntwein, und wir dürfen ihn als einen gleichwertigen Ersatz betrachten. Auch Martini und Manhattan unterscheiden sich, folgen jedoch derselben Idee. Und darauf kommt es auch hier an.

Gehen wir also zurück ins Jahr 1310. In diesem Jahr wird es wohl gewesen sein, als Arnald de Villanova sein Buch „Liber de Vini“, „Das Buch der Weine“, veröffentlichte. Geboren wurde er um 1235 in Valencia, studierte um 1260 an der Universität von Montpellier, war nicht nur katalanischer Arzt und Pharmazeut, sondern auch Hochschullehrer, Diplomat und Leibarzt von Königen und Päpsten. Ihm kommt eine gewichtige Rolle in Europa zu, denn er war es, der Weingeist, also Ethanol, in die abendländische Medizin einführte. Er nannte diesen „aqua vini“ oder „aqua vitae“. Aus Heilkräutern gewann er alkoholische Extrakte für medizinische Zwecke.

Bevor ich auf sein Buch eingehe, möchte ich noch auf Wilhelm von Hirnkofen zu sprechen kommen, der in der Mitte des 15. Jahrhunderts geboren wurde und in Ulm aufwuchs. Man nante ihn auch „Renwart“. Im Jahr 1478 veröffentlichte er ein Buch, das bis 1500 zwölfmal nachgedruckt wurde und bis ins 16. Jahrhundert herein zahlreiche weitere Neuauflagen erlebte. Das Buch war ein Bestseller und trägt den Titel »Von bewahrung und beraitung der wein«. Es ist teilweise eine deutsche Übersetzung des Buches »Liber de Vini«, denn auch andere Autoren lieferten Grundlagen für dieses Werk. Von Arnald de Villanova stammt der sechste Abschnitt, der sich mit medizinischen Weinen befaßt. Auf diesen Abschnitt der Ausgabe von 1478 beziehe ich mich im Folgenden.

Für etwas Manhattanartiges benötigen wir Wermut, Branntwein und Cocktailbitter, die man miteinander vermischt.

Wie sieht es also mit einem Wermut aus? Man kannte Wermut-Wein schon lange, und Arnald de Villanova schreibt dazu: „Wermutwein. … Er wird hergestellt, indem man grünen oder trockenen Wermut in Wein einlegt. Es gibt aber noch eine andere und noch bessere Methode, nämlich frischen oder trockenen Wermut zu nehmen, ihn in ein Säckchen oder ein anderes Gefäß zu geben und den Wein heiß oder kalt so oft wie nötig durchzuseihen, bis der Wein seinen Geschmack und seine Kraft aufnimmt. Zucker und Honig werden in angemessener Menge zugegeben. Dies ist die bessere Methode, da die Kraft auf diese Weise besser extrahiert wird.“

Die eine Zutat für einen Manhattan gab es also: Wermut-Wein. Man mag nun einwenden, dass für einen „richtigen“ Wermut noch weitere Gewürze im Wein fehlen. Dem möchte ich erwidern: Man gab auch Gewürze in einen Wein, denn es heißt: „Gewürzter Wein wird hergestellt, indem man die Gewürze in ein Säckchen gibt und es in ein Fass mit Wein oder Most hängt. So wird der Geschmack und die Wirkung je nach den Gewürzen kalt oder warm, dies oder das sein.“

Warum also nicht Wermut und Gewürze gemeinsam in einem Wein mazerieren, ganz nach eigenem Geschmack? Damit wären wir dann einem „richtigen“ Wermut noch näher gekommen.

Der Branntwein

Doch was ist nun mit der Fortifizierung? Darüber gibt diese Textstelle indirekt Auskunft: „Ein Wein, dem du, wenn du willst, jeden Geschmack geben kannst, den du willst. Er ist eines Hofes würdig und eignet sich besonders für Herren, die zeigen wollen, was für eine Vielfalt an herrlichen Weinen sie haben. Er ist auch ein nützliches Heilmittel für verschiedene Beschwerden, je nachdem, welche Gewürze man verwendet. Kurz gesagt geht es um Folgendes. Ihr sollt Kräuter oder Gewürze, je nachdem, was ihr wollt, einen Tag und eine Nacht lang in Branntwein aufbewahren, damit die Kraft dieser Dinge in den Branntwein übergeht. Er wird den Geschmack und das Aroma dieser Gewürze oder Kräuter annehmen. Gebt ein wenig von diesem Branntwein in den Wein, den ihr zu trinken beabsichtigt, und der Wein wird den Geschmack und das Aroma der Substanz annehmen.“

Nun ist es hier so, dass in der Tat kein Wein fortifiziert wird – gleichwohl soll Arnald de Villanova auch diese Methode der Haltbarmachung erfunden haben. Doch macht es einen Unterschied, ob man in einen Wein Branntwein gibt und mit Gewürzen und Wermut versieht, oder ob man den anderen Weg einschlägt, indem man Gewürze und Wermut erst in Branntwein mazeriert und diese Mischung dann in Wein gibt? Das Ergebnis ist vergleichbar.

Die Frage der Bitters

Wie ist es nun mit einem Cocktail Bitters? Auch diesen gab es prinzipiell schon, denn kann man das vorherige Zitat nicht auch dahingehend verstehen, dass er die Herstellung eines solchen Bitters beschreibt? Man mazeriert Kräuter und Gewürze in Branntwein und gibt dann ein wenig davon in sein Getränk – so macht man es auch mit einem Cocktail Bitters.

Wir sehen, dass die DNA eines modernen Wermuts und eines modernen Cocktail Bitters schon im Jahr 1310 bekannt war. Um nun etwas Manhattanartiges zuzubereiten, muss man beides nur noch mit Branntwein mischen. Da der Text davon berichtet, dass man Wermut, Gewürze, Kräuter und Branntwein alle miteinander mischt, ist es kein großer Schritt, dem Wein etwas mehr Branntwein hinzuzufügen.

Es fehlt nun noch die Verdünnung, die man heute durch das Rühren auf Eis hinzufügt. Auch solch eine Verdünnung kennt Arnald von Villanova. Er berichtet nämlich: „Gewässerter Wein ist sehr gesundheitsfördernd. … Das Wasser muss jedoch aus einer guten, frischen Quelle stammen, und der Wein muss gemischt werden, bevor er zu Tisch gebracht wird. Es kommt vor, dass viele Herren und Prälaten das Wasser in den Wein gießen lassen, wenn sie trinken wollen. Dies führt zu Unruhe, Blähungen und Magenverstimmungen.“

Moderne Wissenschaft bestätigt diese Erkenntnis mit anderen Worten: Wein desinfiziert Wasser besser als reiner Alkohol. Wichtig ist es jedoch, beides einige Stunden vor dem Trinken zu vermischen. So empfahl man es auch im Jahr 1892, als in Hamburg die Choleraepidemie wütete.

Wie gesagt: es bleibt ein Gedankenspiel

Wer mag, kann vielleicht noch die Öle einer Orangenzeste über den „Manhattan des Jahres 1310“ geben. Ob man solch eine Zubereitung in jenem Jahr schon kannte, weiß ich zwar nicht; allerdings habe ich auf MIXOLOGY schon darüber geschrieben, dass ein Buch aus dem Jahr 1577 davon berichtet, wie man Zesten über Wein ausdrückte und die Öle abflämmte. Ein wenig Flair Bartending musste schon damals sein: „Wenn man das Öl der Schale bei einer offenen Flamme ausdrückt, so entzündet es sich leicht und gibt seine Kraft an den Wein am leichtesten wegen seiner dünnen Substanz; in ein Glas auch von weit weg gespritzt.“

Ich sage nicht, dass man im 14. Jahrhundert einen Manhattan zubereitet hat. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass die DNA desselben, das Wirkprinzip, die benötigten Zutaten alle vorhanden waren. Es wäre also möglich gewesen, damals solch ein Mischgetränk zuzubereiten.

Mir jedenfalls gefällt der Gedanke, dass der englische Franziskanerpater William von Baskerville, als er eine Benediktinerabtei im Ligurischen Appenin besucht und dort Ende November 1327 eine Mordserie aufklärt, so wie es sein Novize und Adlatus Adson von Melk im berühmten Bestseller „Der Name der Rose“ berichtet, bei einem mittelalterlichen Manhattan vor einem Kaminfeuer sitzend seine Schlüsse zieht und dem Mörder auf der Spur ist.

Credits

Foto: master1305 - stock.adobe.com

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