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Die zeitlose Raffinesse des Widow’s Kiss

Die zwei wohl bekanntesten französischen Liköre Bénédictine und Chartreuse verleihen dem Widow’s Kiss sein Gerüst. Als Zünglein an der Waage fungiert die Wahl der Basisspirituose. Ein Drink mit einem Touch Vergangenheit, dabei aber voller Klasse und zeitloser Eleganz.

Die Rafinesse des Widow’s Kiss beginnt schon bei seinem Namen: Er lässt einen Klassiker vermuten, könnte aber ebenso gut eine knackige Erfindung der Neuzeit sein. Gleiches gilt für seine Rezeptur: Die französischen Liköre Bénédictine und Chartreuse sind Zutaten, die schon in Cocktailbüchern aufgeführt wurden, bevor sich das 19. Jahrhundert dem Ende zugeneigt hatte. Gleichzeitig könnten sie in diesem Cocktail bereits als Symbol ihrer wiederentdeckten Wertschätzung während der modernen Bar-Renaissance glänzen.

Lösen wir also auf: Der Widow’s Kiss ist ein Kind der Klassik. Für einige Zeit dachte man, der Cocktail sei zuerst um 1900 von Harry Johnson in einer der späteren Auflagen seines „Harry Johnson’s New and Improved Bartenders’ Manual“ erwähnt worden. Mittlerweile weiß man, dass George J. Kappeler die Rezeptur aus Apple Brandy, Bénédictine, Chartreuse jaune und Angostura Bitters bereits in seinem 1895 erschienen Buch „Modern American Drinks“ niederschrieb.

Widow's Kiss

Zutaten

4,5 cl Calvados
2 cl Chartreuse Jaune
2 cl Bénédictine
2 Dashes Angostura Bitters

Die Witwe und der Bénédictine

Chronologisch betrachtet macht das auch Sinn, denn Bénédictine wurde um das Jahr 1888 erstmals in die USA exportiert. Dort soll er auch als „Witwenlikör“ bekannt gewesen sein, also als Trostspender in einer schwierigen Zeit. Richtig verifizieren lässt sich das nicht, aber es scheint zumindest passend, dass ein Cocktail aus dem Buch „Jack’s Manual“ (1910) von J. A. Grohusko, bestehend aus Bénédictine, Eigelb, Milch und Sahne, den Namen Widow’s Dream trägt.

Die Witwentrauer und der Bénédictine also, eine tröstliche Symbiose. In selbigem Buch von Grohusko findet sich der Widow’s Kiss übrigens in der Rezeptur aus Rye Whiskey, Zucker, Eigelb und Sodawasser jedoch als völlig anderer Drink als bei Kappeler. Dem Cocktail hätte also auch ein Schicksal als Eggnogg blühen können, hätte ihn nicht Harry Craddock in seiner berühmten Barbibel „Savoy Cocktail Book“ aus dem Jahre 1930 in der ursprünglichen Rezeptur von Kappeler verewigt.

Aus Apple Brandy wird allmählich Calvados

Dabei gibt es bei Craddock zwei leichte Abweichungen bzw. Modifikationen. Während Kappeler in seiner Originalversion wenig überraschend vom US-amerikanischen „Apple Brandy“ als Basisspirituose spricht, listet Craddock bereits zusätzlich die französische Alternative Calvados auf. Des Weiteren legt sich die Savoy-Variante nicht auf die gelbe Chartreuse fest, wie es Kappeler getan hatte, sondern erwähnt lediglich Chartreuse. Es darf in diesem Sinne also auch die grüne Version sein.

Widow’s Kiss als Modulsystem

Somit liefert der Widow’s Kiss drei Bausteine, mit denen sich auch heute noch herrlich experimentieren lässt – und die dem Drink seine zeitlose Rafinesse verleihen. Als Konstante fungiert dabei der Bénédictine mit seiner robusten, würzigen Süße. Ihm zur Seite stellen lässt sich entweder die mildere Chartreuse jaune oder die kräftigere, würzigere Chartreuse verte.

Ausschlaggebend für diesen Likördialog ist wiederum die Wahl der Basisspirituose. Der lange Zeit vom Markt verschwundene Applejack steht heute durch Marken wie Laird’s wieder zur Verfügung. (Im 1934 erschienenen Laird’s Applejack – How to serve Recipes ist der Widow’s Kiss übrigens nicht enthalten.) Auch frische, fruchtige Apfelbrände können ausprobiert werden.

Oder aber man geht mit Craddock mit der Wahl von Calvados. Dessen fassgelagerte Qualität schmiegt sich im Vergleich zu häufig wuchtigeren Applejacks samtener an die Liköre – und passt als französisches Produkt natürlich auch in seiner erzählerischen Stringenz hervorragend zu den beiden Klosterlikören.

 

Widow’s Kiss ist zeitlose Eleganz

Eine Besonderheit zeichnet den Widow’s Kiss ebenfalls auf: Obwohl nur Spirituosen und keine Säfte zum Einsatz kommen, wird der Drink in allen Varianten ausnahmslos nicht gerüht, sondern geschüttelt.

Auch hier ist jede:r angehalten, unterschiedliche Resultate in der Herstellungstechnik zu vergleichen. In beiden Fällen bleibt dieser Kuss jedoch etwas Besonderes. Ein Drink mit einem Touch Vergangenheit, dabei aber voller Klasse und zeitloser Eleganz.

Credits

Foto: Sarah Swantje Fischer

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