Der World Chess Club Berlin wagt die wundersame Symbiose aus Schach und Barkultur
Schach. Das Spiel der Könige. Nicht unbedingt das geeignete Pairing für die lebhafte Barkultur. Der World Chess Club ist anderer Meinung und hat in Berlin die erste Bar eröffnet, die beide Welten vereint. Das Cocktailprogramm leitet AJ White, der nach seiner Zeit im Two Schmucks in Barcelona nun in Berlin agiert.
Beim Thema Schach stellen sich schnell die ersten Assoziationen ein: schwarz-weiß kariertes Brett, 32 hölzerne Figuren und zwei höchst konzentrierte Konkurrenten. Bärtige Gesichter, kantige Köpfe, tonsurförmige Halbglatzen. Getränke? Höchstens ein Wasser, selbstverständlich still. Man will schließlich nicht in der Konzentration gestört werden.
Dass dieser nüchtern-männliche Stereotyp der Vergangenheit angehört, dazu hat unter anderem die Netflix-Produktion „The Queen’s Gambit“ beigetragen. In ihrer Rolle als genial-versoffenes Schachtalent Elizabeth „Beth“ Harmon zeigte die Schauspielerin Anya Taylor-Joy, dass Schach und Alkohol durchaus zusammen gedacht werden können. Zumindest auf der Leinwand. Dass dies auch im echten Leben geht, will der World Chess Club jetzt in Berlin beweisen. In den Hallen eines ehemaligen Vapiano in den Kaiserhöfen entstand zu Beginn dieses Jahres ein wahrer Chess-Hub, inklusive Fan-Shop, TV-Studio, Café, Küche und eben Bar.
Barcelona, Köln, Berlin
Für letztere zeichnet sich AJ White verantwortlich. Er ist seit Beginn des Projekts der Barchef innerhalb dieses multifunktionalen Raumes und hat sich zum Ziel gesetzt, nicht nur die üblichen Klassiker auf die Karte zu bringen, sondern auch mixologisch Akzente zu setzen. „Mir war von Anfang an klar, dass ich hier eine Bar kreieren will, die den guten Läden der Stadt in nichts nachsteht“, bringt White seine Ambitionen auf den Punkt.
Aber Moment: AJ White, klingelt bei dem Namen nicht etwas? Ja. White ist in der Szene kein Unbekannter, immerhin führte mit seinem Partner Moe Aljaff lange Jahre das Two Schmucks in Barcelona. Dieses ist mittlerweile unter offenbar nicht freiwilligen Umständen verkauft, Aljaff mittlerweile in den USA tätig. White war schon zuvor nach Deutschland gekommen. „Nach der Gründung des Two Schmucks im Frühjahr 2017 ging es steil bergauf. Aber der Preis war eine Menge Arbeit, Tage ohne Schlaf, ständige Problemlösung, unzählige Stromausfälle oder Probleme mit Lieferanten oder Medien und die Produktion Fotos und Video. Es kam langsam zu einem unvermeidlichen Burn-out“, blickt AJ White mit ehrlichen Worten zurück. „Allerdings wurde mir das erst beim ersten Lockdown so richtig bewusst. Zu diesem Zeitpunkt wurde mir klar, dass ich eine Veränderung brauchte, wie es bei vielen in dieser Zeit der Fall war. Ich habe mich mit Moe zusammengesetzt und gesagt, dass ich nach Deutschland ziehen werde. Ich war zuvor nur zweimal in Berlin gewesen, fand aber, dass die Stadt eine gute Mischung aus Lebendigkeit und Professionalität bot.“ Zunächst aber ging es für ihn noch nach Köln, um Abstand vom Nachtleben und den Bars zu haben, er gründete einen Online-Radiosender und eine kleine Modemarke. „Dann hat es mich langsam wieder in die Bars gezogen. Logisch, wenn man drin ist, ist man drin“, sagt er. „Der Umzug nach Berlin vor nunmehr anderthalb Jahren erfolgte in der Hoffnung, wieder eine eigene Bar zu eröffnen, mit einem reiferen Blickwinkel, neuer Kreativität und einem neuen Energieschub.“
World Chess Club
Drink sind den Legenden des Spiels gewidmet
Diesen Energieschub spürt man vorerst auf der Karte des World Chess Club. Es finden sich hier ausschließlich Eigenkreationen des Barchefs, die meisten der Drinks sind – wie könnte es in diesen Hallen anders sein – den Legenden des Spiels gewidmet. Da wäre etwa „The Lasker Slice“, eine Ode an den deutschen Schachweltmeister Emanuel Lasker. Oder wie es White nennt: „Eine flüssige Form der Schwarzwälder Kirschtorte.“ Der Drink auf Bourbon-Basis kommt dem Vorbild erstaunlich nahe, nicht zuletzt dank der intensiven Amarenakirsche und einem Bruchstück vorzüglicher Schokolade als Garnitur. Gleich dem Original ist dieser Drink dann auch vor allem etwas für Dessert-Liebhaber.
Gänzlich anders, man könnte sagen um Lichtjahre trockener, kommt der „Steinitz Martini“ daher. Dem in Prag geborenen Wilhelm Steinitz wird diese Martini-Adaption gewidmet, in der ein Pflaumenbrand an die böhmische Herkunft seines Namensvaters erinnert. Abgerundet wird die kernige Mischung aus Gin und Pflaume von zweierlei Wermut und ein paar Tropfen Rucola-Zitronen-Öl, die dunkel auf der glasklaren Oberfläche des Drinks schwimmen. Ästhetisch sind die Drinks en vogue, minimalistische Garnituren und geklärte Zutaten inklusive. Aber ist das alles mit dem hier so hochgehaltenen Denksport vereinbar?
Mehr als man denkt, sagt White. Tatsächlich sei der Widerspruch von geistig fordernder Aktivität und geistig entspannendem Konsum nur bedingt Realität. „Wir beobachten immer wieder, dass es vielen Gästen nach ein bis zwei Drinks leichter fällt, sich auf eine Partie einzulassen. Viele Neueinsteiger haben Angst, sich zu blamieren, wenn sie selbst spielen. Da hilft der Alkohol oft ein wenig lockerer zu werden und über die eigene Comfort Zone hinauszugehen.“
Ein hybrider Ort der Begegnung
Genau auf diese schachfördernde Wirkung berauschender Getränke haben es die Macher des World Chess Club abgesehen. Sie wollen Schach aus der eingestaubten und elitär wahrgenommenen Nische holen und wieder zu einer Art Massensport machen. Geboren wurde die Idee im Jahr 2016, als die 2012 gegründete Online-Plattform World Chess einen Schachevent in New York veranstaltete, der sich zu einer deutlich hipperen und jüngeren Veranstaltung gestaltete als im Vorfeld angenommen. Ein Besuch der Hollywood-Legende Woody Harrelson inklusive.
Seitdem gab es die Idee dieses hybriden Ortes der Begegnung, wie er nun in den Kaiserhöfen realisiert wurde. Und mit einem der größten Anbieter des Online-Schachs als Investor im Hintergrund wird bei dem Projekt eben nicht gekleckert, sondern geklotzt. Das zeigt sich sowohl im modernen Design aus hellem Eichenholz und cremefarbenen Kachelwänden auf zwei Stockwerken als auch in einem eigenen Live-Streaming Studio, das ebenfalls im World Chess Club Platz findet. Letzteres ist Ort der Liveübertragung der „Armageddon Championship“, einer selbsternannten „Formel 1 des Schachs“.
„An manchen Tagen haben wir dann Barbetrieb, während im Studio ein Spiel übertragen wird. Dann rennen hier dauernd Leute mit Walkie-Talkies umher und alles bekommt ein wenig Hollywood-Flair“, reminisziert ein begeisterter White. Und wenn man sie schon im Haus hat, dann kann man die Schachlegenden ja auch gleich nochmal hinter den Tresen stellen. Das zumindest dachte sich White, der die beiden Großmeister Eric Hanson und Aman Hambleton kurzerhand hinter die Bar verfrachtete, um mit ihnen zusammen Drinks zu mixen. Sehr zur Freude der Gäste.
Die Bar des World Chess Club soll Aufmerksamkeit erzeugen
Dieses Konzept vom durchgestylten neuen Typ Schach soll, wenn es denn ankommt, zu einem Flaggschiff für den ganzen Globus werden. Dementsprechend ambitioniert ist auch Whites Anspruch an die Rolle der Bar. „Ich will, dass wir uns in Qualität und Auswahl hinter keiner Bar verstecken müssen. Langfristig will ich mit dem, was hier hinter dem Tresen geschieht, sowohl nationale als auch internationale Aufmerksamkeit gewinnen!“ Für dieses Ziel wird gerade eine Crew zusammengestellt. Wenn diese steht, soll es erstmal auf Reisen gehen. White sieht Gastschichten als essenziell an, um sich als Bartender weiterzuentwickeln: „Wir können alle ständig voneinander lernen. Und dazu will ich meine Leute anleiten. Mir haben vor allem die Gastschichten viel beigebracht, in denen ich nicht meine eigenen, vorproportionierten Zutaten dabeihatte, sondern mich an die Gegebenheiten anpassen musste. Diesen Spirit will ich weitergeben.“
Gleichzeitig lässt der Raum des World Chess Club mit angeschlossener Küche natürlich auch viel Platz für hauseigene Experimente. Aktuell arbeitet das Team um White vor allem mit Sous Vide-Verfahren, Fat Washing und Klarifikation. Langfristig ließe sich auch hier weiterdenken. Aber wie White es sagt: „Auch mit einer Herdplatte und einem Mixer kann man verdammt viel erreichen!“
Doch bis es zum internationalen Siegeszug geht, gilt es zuerst einmal das heimische Publikum zu überzeugen. Das scheint jedoch gut zu gelingen, lässt man den Blick über die Tische schweifen. In der Mitte des Raumes sitzen viele junge Menschen, alle in ihre Spiele vertieft, inklusive professioneller Schläge auf die Stoppuhren am Brettrand. Daneben hat es sich ein paar ergraute Herren gemütlich gemacht. Auch sie hatten eine Partie gespielt, jetzt sitzen sie nebeneinander und plauschen, ein Bier in der Hand. Dazwischen ein junger Mann mit Kaffee. Er schlendert zwischen den Tischen umher, beobachtet die Partien, nickt manchen Zügen beipflichtend zu. „Das Schöne am Schach ist, dass es die Menschen vereint“, so White. „Im Prinzip macht es das, was wir sowieso in Bars gerne sehen wollen. Es schafft Verbindungen. Fast jeden Tag sehe ich hier Menschen, die sich über eine Partie Schach kennenlernen. Solche spontanen Begegnungen gab es in den regulären Bars meiner Karriere deutlich seltener.“
Um das zu stärken, bietet der World Chess Club eine ganze Menge Events. Jeden Dienstag Einführungskurse für Anfänger, Schach-Quiz und jeden Freitag legt ein DJ auf. Es zeigt sich, dass Schach durchaus das Potenzial für ein wenig Rock ‘n’ Roll hat.
Und da haben wir von den jüngsten Skandalen mit morsendem Sexspielzeug noch kein Wort gesprochen …
Credits
Foto: World Chess Club Berlin