Der Lockdown und seine Folgen: Die tickende Zeitbombe im Backboard
Spirituosen verändern mit der Zeit ihr Aroma. So weit, so bekannt. Aber der nun schon im Grunde ein Jahr lang andauernde Lockdown kann sich extrem negativ auf die Kostbarkeiten im Backboard auswirken. Maria Gorbatschova mit einem umfassenden Dossier zu einem Thema, das noch an Brisanz gewinnen könnte. Und Bars noch viel Geld kosten könnte.
Wer regelmäßig Spirituosen verkostet, kennt die Metamorphose, die eine Spirituose während eines Tastings durchläuft. Öffnet man ein Produkt und vergleicht nach einer Stunde das Aroma mit den ersten Verkostungsnotizen, stellt man häufig einige Veränderungen fest.
Vergleichen kann man diesen Vorgang mit einem frisch aufgesprühten Parfüm, das nach dem Verfliegen der Kopfnote mit der Zeit weitere Schichten von Herz- und Basisnote freilegt. Nimmt man die geöffnete Spirituose ein paar Wochen später aus dem Regal, hat sich meist noch eine weitere Wandlung vollzogen. Die Aromen haben eine neue Balance gefunden, man wird vielleicht von einem Aroma überrascht, das vorher nicht wahrnehmbar war, oder vermisst eine Note, die man ganz deutlich in Erinnerung hat. Vermutlich kennt aber jeder Bartender das Gefühl, eine Flasche aus dem Regal zu holen und zu denken: „Das hatte ich irgendwie anders in Erinnerung!“
Metamorphose der geöffneten Spirituosen
Nach dem Ende dieses nicht enden wollenden, zweiten Lockdowns dürfte dieser Gedanke durch einige Köpfe ziehen. Der Lockdown begünstigt nämlich eine Metamorphose der geöffneten Spirituosen, die sich zwar auch während des normalen Betriebs vollzieht, aber jetzt allein durch die Länge des Stillstands zu deutlichen und gravierenderen Veränderungen führen kann. Zeit ist ein entscheidender Faktor, und leider kommt er den meisten Produkten nicht zu Gute.
Kurzfristig kann Luft Spirituosen sogar gut tun. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass ein XO Cognac nach ein paar Wochen in einer geöffneten Flasche (richtige Lagerung vorausgesetzt) aromatischer und komplexer schmeckt als direkt nach dem Öffnen. Dieser Prozess verkehrt sich jedoch leider irgendwann in sein Gegenteil. Die Arten der negativen Veränderungen sind vielfältig. Hinweise sind erfahrungsgemäß eine kaum vorhandene Nase, eine veränderte Textur, Fehlnoten oder Muffigkeit, Farbveränderungen, eine unangenehme Bitterkeit oder Schärfe, zunehmende Adstringenz, scheinbar verminderter Alkoholgehalt und ein flaches, monotones Aroma. Diese Veränderungen können einzeln, aber auch gebündelt auftreten.
„Nach den ersten Proben aus den Flaschen ungläubige Blicke durch die Runde: ein wässriger Octomore mit dezentem Rauch? Nagellackentferner-Reposado-Tequila? Eine Flasche nach der anderen wird aussortiert.“
Kleiner Schock beim Verkosten
So richtig bewusst wird einem das mögliche Ausmaß allerdings erst, wenn man in seiner Bar die offenen Flaschen durchgeht. So ist es uns in der Green Door Bar ergangen; Februar 2021, ein Ende des zweiten Lockdowns ist noch nicht in Sicht. Hinter der Bar stehen Flaschen, die eigentlich längst abverkauft sein müssten. Einige sind nun seit über zwei Jahren geöffnet, schließlich konnte auch zwischen Lockdown 1 und 2 nur ein kleiner Teil der Plätze mit kürzeren Öffnungszeiten belegt werden und somit nur ein Bruchteil des sonstigen Umsatzes erwirtschaftet werden.
Nach den ersten Proben aus den Flaschen ungläubige Blicke durch die Runde: ein wässriger Octomore mit dezentem Rauch? Nagellackentferner-Reposado-Tequila? Eine Flasche nach der anderen wird aussortiert. Am Ende geben wir nach der Hälfte auf; bevor Bars öffnen dürfen, müssen wir alles ohnehin noch einmal checken. Verblüfft stehen wir vor diesen tickenden Zeitbomben im Backboard – und wir sind vermutlich nicht die einzige Bar, der es so ergeht.
Woran liegen diese Veränderungen? Dazu gibt es wenig öffentlich zugängliches, handfestes wissenschaftliches Material – dafür viele Meinungen. Vereinzelt findet diese Forschung aber durchaus statt, dort wo Strukturen und Mittel vorhanden sind, um sie zu finanzieren. Hersteller haben im Sinne der Qualitätssicherung ein Interesse daran, zu erfahren, was mit ihren Waren nach dem Verlassen der Destille passiert – und wie sie Prozesse und Produkte verbessern können. Einen seltenen Blick hinter die Kulissen jahrelanger, kontinuierlicher Forschung präsentierte Bacardi 2015 bei den Tales of the Cocktail in New Orleans. Der Vortrag mit dem Titel „Genie in a Bottle – How Spirits Age“ wurde damals zum beliebtesten der Messe gewählt, das zeigt die Relevanz der damals von Ian McLaren (Director of Advocacy), Kari Bishop (Senior Scientist) und Oscar Garza (Senior Research Scientist) präsentierten Inhalte. Als Kernaussage könnte man zusammenfassen, dass Spirituosen viel weniger statisch sind als allgemein angenommen.
Altern in Flaschen: viele Faktoren wirken ein
Grundsätzlich lassen sich ein paar äußere Einflussfaktoren ausmachen, die in Wechselwirkung zueinander stehen: Oxidation, Licht und Temperatur multipliziert mit Zeit. Bei den Produkten selbst gibt es ebenfalls einige Variablen, die über die Lagerfähigkeit bestimmen. Es ist die Zusammensetzung der Flüssigkeit, Material und Beschaffenheit der Flasche, der Verschluss und der headspace, also der vom Füllstand abhängige, in der Flasche enthaltene Gasraum. Dazu kommt eine mögliche Kontamination, beispielsweise durch reaktionsfähige Materialien im Verschluss oder durch unsauberes Arbeiten. Das sind viele Szenarien, bei denen etwas schiefgehen kann.
Grundsätzlich halten sich Spirituosen wesentlich länger als Getränke wie Wein oder Bier. Einmal geöffnet, reduziert sich allerdings ihre „geschmackliche Haltbarkeit“. Sie können zwar nicht verderben, aber sich aromatisch so weit verändern, dass sie schlichtweg nicht mehr schmecken. Ein halb ausgetrunkener Whisky, der in der Hausbar bei kühlen Temperaturen dunkel gelagert wurde, mag nach einem Jahr noch in Ordnung sein. Die gleiche Flasche könnte im selben Zeitraum hinter dem Bartresen wesentlich mehr an Aroma eingebüßt haben.
Eine Ursache dafür ist Licht. Das Bacardi-Forschungsteam konnte nachweisen, dass nach zwei Wochen Lichteinwirkung selbst dunkle Spirituosen einen beachtlichen Anteil ihrer Farbe verloren hatten. Mit Zusatzstoffen gefärbte Spirituosen sind davon stärker betroffen als die, die ihre Farbe allein durch Fasslagerung erlangen. Dunkelgrüne oder braune Flaschen schützen besser vor Licht als Weißglas, auch großflächige Etikettierungen sind von Vorteil. Potentiell ist nicht nur direktes und indirektes Sonnenlicht schädlich, auch künstliche Beleuchtung der Bar- und Lagerräume kann den Produkten schaden. Dabei zählt neben der Helligkeit und Frequenz des Lichts auch der Abstand der Flaschen zur Lichtquelle. Sehr ungünstig sind direkt im Fenster stehende Flaschen und von hinten oder unten beleuchtete Bar-Regale, denn diese können zusätzlich auch noch Wärme abgeben.
Das Problem mit erhöhten Temperaturen ist, dass sie ungewollte Reaktionen katalysieren. Moleküle werden durch Wärme beschleunigt und Molekülbindungen gelockert. Langkettige Moleküle zerbrechen in kurzkettige Stücke, neue Aromastoffe können sich bilden. Nicht alle schmecken gut oder sind erwünscht. Besonders anfällig für Veränderungen sind (aufgrund ihres niedrigen PH-Werts) fassgelagerte Spirituosen oder auch Bottled Cocktails. Sehr unbeständig sind ebenfalls Spirituosen, bei denen nach der Destillation Aromen hinzugefügt wurden.
Auch Produkte mit hohem Zuckergehalt sind betroffen. Hier kann durch die Hitze die Maillard-Reaktion in Gang gesetzt werden, die zum Beispiel beim Braten von Lebensmitteln für Röstaromen sorgt. Dabei reagieren Aminosäuren mit Zucker. In der Champagner-Herstellung entstehen nach der zweiten Dosage so die sortentypischen Brioche-Noten. Die bei der Maillard-Reaktion entstehenden Aromen sind zuerst einmal nicht unangenehm, sie verändern das Spektrum des Produktes aber hin zu gekochten und karamellisierten Aromen. Über sehr lange Zeitspannen kann bei Spirituosen und Likören in Slow Motion das passieren, was in einer heißen Pfanne mit Zucker passieren würde: Zuerst entsteht Karamell, aber irgendwann schmeckt es verbrannt.
Hitze fördert auch einen weiteren Vorgang, der für eine Reduktion der Aromen sorgt: Verdampfung. Dabei lösen sich volatile Stoffe aus der Flüssigkeit und gehen in den Gaszustand über. In Spirituosen haben volatile Stoffe eine wichtige Funktion: Wir können sie riechen. Besonders schnell verflüchtigen sich Terpene wie Pinene und Limonene, die für grüne, grasige und Zitrusaromen sorgen. Im übrigen ist auch Alkohol volatil, was Spirituosen mit einem hohen Alkoholgehalt anfällig für Verdampfung macht.
Mit jedem Öffnen gelangt neue Luft in die Flasche
Sowohl Licht als auch Hitze katalysieren Oxidationsreaktionen, also Reaktionen der Flüssigkeit mit dem Sauerstoff aus der Luft. Wie schnell die Oxidation vor sich geht, hängt unter anderem davon ab, wie viel Luft sich in der Flasche befindet und wie groß die Fläche ist, auf der Spirituose und Gasraum aufeinandertreffen. Diese Fläche ist im Hals der Flasche z.B. kleiner als an ihrer breitesten Stelle. Mit jedem Öffnen gelangt neue Luft in die Flasche, bei jedem Ausschenken wird die entnommene Flüssigkeit durch Luft ersetzt. Heraklit bringt es bereits vor ca. 2500 Jahren sinngemaß gut auf den Punkt: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Nach jeder noch so kleinen Veränderung sucht das System geschlossene Flasche ein neues Equilibrium, zwangsläufig verändert sich so Stück für Stück die Zusammensetzung der Flüssigkeit. Umso geringer der Füllstand in der Flasche, umso mehr Luft ist enthalten, mit der die Spirituose reagieren kann. Selbst wenn die Flasche fast voll ist, können unerwünschte Veränderungen stattfinden, nur eben langsamer.
Was sich wann und wie stark verändert, ist von Gattung zu Gattung, von Spirituose zu Spirituose unterschiedlich. Ein Gin z.B. kann Zitrusnoten verlieren und entwickelt vielleicht eine Kampfer-Note. Ein Whisky verliert seine Textur, weil Fettsäuren zersetzt werden, und riecht plötzlich ranzig oder nach Nagellackentferner. Bei Rum sinkt der Ethanol-Gehalt und er entwickelt Essignoten. Erschwerend kommt hinzu, wenn sich der Korken mit der Zeit zusammenzieht und so locker sitzt, dass Luft unkontrolliert in die Flasche eindringen kann und Alkohol sowie andere volatile Stoffe entweichen. Von einer Aufbewahrung mit aufgesetzten Speedpourern ist ebenfalls dringend abzuraten.
Einen Plan für die Backbar
Bedenkt man diese Faktoren, stellt man fest, dass Bars die denkbar ungünstigsten Orte sind, um geöffnete Spirituosen aufzubewahren; beleuchtete, warme Regale mit Flaschen, direktes oder indirektes Sonnenlicht, hohe Temperaturschwankungen, verrauchte Luft, häufiges Ausschenken in kleinen Dosen, Aufbewahrung mit aufgesetztem Ausgießer, zu viele lang geöffnete Produkte. Was tun?
„Jeder Gastronom braucht einen Plan für seine Backbar“, so Ian McLaren. Das beginnt bei der Planung einer Karte, die mit möglichst wenig geöffneten Produkten auskommt. Die Zahl der Produkte sollte sich nach Anzahl der Sitzplätze und der Nachfrage richten. Gerade bevor man eine teure Flasche aufmacht, sollte man wissen, wie man diese auch rechtzeitig abverkauft. Grundsätzlich sollte man die Entscheidung, etwas zu öffnen, ganz bewusst treffen. Bei Produkten, die nicht im Pouring sind, kann es sich lohnen, den Zeitpunkt der Öffnung zu vermerken und in regelmäßigen Abständen zu verkosten. Schlimmer, als eine Flasche auszusortieren, wäre es, einem Gast etwas — womöglich gar Hochpreisiges – zu verkaufen, das nicht schmeckt wie es sollte. Hat man deutliche Veränderungen zum Ausgangsprodukt festgestellt, ist vom Verkauf der puren Spirituose unbedingt abzuraten.
Kontamination kann aromatisch noch schlimmere Folgen haben
Um dem vorzubeugen, gibt es einige bekannte Konzepte. Vom Abpumpen der Flaschen mit einer Weinpumpe würde Fynn Röhricht, studierter Chemiker, ehemaliger Bartender und Scotch-Kenner aus Kiel, abraten. „So trägt man eher aktiv zum Aromaverlust durch Verdampfung bei.“ Sinnvoller sei ein Austauschen der Luft durch ein reaktionsträges Gas wie Argon, wie beim Coravin-System. Von Auffüllen der Flaschen mit Glaskugeln rät wiederum Kari Bishop ab: „Statt Oxidation riskiert man damit Kontamination, was aromatisch noch schlimmere Folgen haben könnte.“ Das Abfüllen in kleinere Flaschen könnte hilfreich sein, allerdings oxidiert die Flüssigkeit auch während des Umfüllens, da man sie quasi dekantiert. „In vielen Ländern ist außerdem das Abfüllen in Fremdflaschen gesetzlich verboten“, wie Ian McLaren anmerkt. Falls man sich dazu entscheidet, ist Mironglas zu empfehlen, dass durch breite Filterung von UV-Strahlung vor aromatischen Veränderungen schützt. Für längere Lagerung ist ein Abdichten mit Parafilm zu empfehlen.
In der Bar sollten neben hohen Temperaturen auch Temperaturschwankungen möglichst vermieden werden. Ansonsten atmen die Flaschen, indem sich der Inhalt bei Wärme ausdehnt (Stichwort Verdampfung) und bei Kälte zusammenzieht (Luft gelangt in die Flasche). Tagsüber ist es sinnvoll, die Backbar vor Licht zu schützen, auch das Beleuchtungskonzept in Bar und Lager sollte man überdenken. Denn auch das, was im Lager mit geschlossenen Flaschen passiert, ist nicht unrelevant.
Eigentlich ist die Thematik gut bekannt. Schmeckt ein Wein, der 1980 abgefüllt wurde, heute noch so, wie er 1980 geschmeckt hat? Er tut es nicht. Auch ein scheinbar dicht verschlossener Korken lässt – zusätzlich zur Luft, die sich ohnehin in jeder Flasche befindet – einen gewissen Grad an Luftzirkulation zu. Der Wein oxidiert. Gut zu erkennen ist das mit dem bloßen Auge anhand der Farbveränderungen, die er mit der Zeit durchläuft. Purpur wird zu Rostbraun, Zitronengelb zu Bernstein. Tannine polymerisieren mit Hilfe des Sauerstoffs. Das Aroma verändert sich. Bei besonders lagerfähigen Weinen führt das zu einer Wertsteigerung.
„Wir wissen auch, dass Spirituosen ebenfalls von Oxidation beeinflusst werden können. Und doch werden uns bei Spirituosen geschlossene Flaschen als magische Zeitkapseln verkauft, die den Geschmack jahrzehnte- oder sogar jahrhundertelang konservieren.“
Ein originaler Mai Tai? Leider nicht
Wie ist das bei Spirituosen? Schließlich verwendet man hier im Großen und Ganzen dasselbe Glas, dieselben Flaschengrößen und sogar dieselben Verschlüsse. Wir wissen mit absoluter Sicherheit, dass Wein unter diesen Bedingungen in geschlossenen Flaschen oxidiert. Wir wissen auch, dass Spirituosen ebenfalls von Oxidation beeinflusst werden können. Und doch werden uns bei Spirituosen geschlossene Flaschen als magische Zeitkapseln verkauft, die den Geschmack jahrzehnte- oder sogar jahrhundertelang konservieren. Zumindest wird das, häufig in einem unbedachten Nebensatz, in zahlreichen Büchern und Artikeln behauptet. In der Theorie kann man sich also eine seit Jahrzehnten nicht mehr hergestellte Flasche 17-jährigen Wray & Nephew Rum kaufen und damit einen original Mai Tai so zubereiten, wie ihn Trader Vic 1944 ersonn.
Das ist eine schöne Vorstellung, nur leider keine realistische. Denn genau wie ein Wein verändert sich eine Spirituose mit der Lagerung. Vielleicht sind die Veränderungen dezenter und langsamer, sicherlich finden andere chemische Prozesse statt, und doch finden sie statt. Und das nicht erst nach ein paar hundert Jahren, sondern unter ungünstigen Umständen, sobald die Flasche die Destille verlässt. Vibration, Temperaturschwankungen, Licht, Oxidation: Bei falscher Handhabung können diese Vorgänge in vergleichsweise kurzer Zeit auch geschlossene Spirituosen negativ beeinflussen.
Nehmen wir einmal an, eine Flasche wird über Jahre bei konstant niedriger Temperatur und Dunkelheit aufbewahrt. Passiert mit dem Inhalt dann nichts? „Wir haben selbst dann Veränderungen festgestellt, wenn die Flaschen bei perfekten Bedingungen gelagert wurde“, so Oscar Garza. „Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich nach einigen Jahren der Lagerung gar nichts verändert, ist verschwindend gering.“ Dabei können die Veränderungen auch dezent sein, komplett statisch bleibt die Flüssigkeit trotzdem nicht. Über lange Zeiträume konnte der Forscher sogar feststellen, dass Spirituosen mit einem niedrigen PH-Wert nicht nur mit Sauerstoff und Verschluss-Materialien reagierten, sondern sogar mit der Flasche selbst. Dabei gilt: umso niedriger der PH-Wert (so z.B. nach langer Lagerung im Holz), umso reaktionsfreudiger die Flüssigkeit. Nach über zehn Jahren hatte die Flüssigkeit Natrium aus dem Glas extrahiert, der PH-Wert lag nun im alkalischen Bereich.
Nach dem Kaninchenbau der Recherche also Ernüchterung. Nun geht es nicht nur um geöffnete Flaschen, auch der Bar-Keller, das Lager des Händlers und die hauseigene Sammlung werden zu möglichen Tatorten. Abgesehen davon stellen sich neue Fragen. Was ist der 100 Jahre alten Flasche Rum alles widerfahren, bevor man sie bei einer Auktion erstanden hat? Wie häufig hat man schon Spirituosen probiert und gar bewertet, deren Aromen durch falsche Handhabung verfälscht waren? Worauf sollte man bei geschlossenen Flaschen achten?
Die Kronkorken-Falle
Leider werden gerade bei hochwertigen Spirituosen häufig die ungünstigsten Verschlüsse eingesetzt: Naturkork. Schuld daran ist auch die Nachfrage der Konsumenten, die diese Form des Verschlusses hochwertiger als einen Drehverschluss oder Kunststoffkorken wahrnehmen und dementsprechend Kaufentscheidungen treffen. Wie Weine können Spirituosen übrigens korken. Ein Naturkorken lässt außerdem wesentlich mehr Luftzirkulation zu als z.B. ein Drehverschluss und beschleunigt so die Oxidation. Wichtig ist es außerdem, Spirituosen aufrecht zu lagern, da der hohe Alkoholgehalt ansonsten den Korken zersetzen kann.
Wie bei Weinen sind auch bei Spirituosen Farbveränderungen durch Oxidationsreaktionen möglich. Über lange Zeiträume kann sich die Farbe dramatisch wandeln, z.B. von strohfarben zu amber. Deutliche Farbveränderungen sind ein guter Hinweis darauf, dass Prozesse wie Oxidation stattgefunden haben oder die Spirituose über einen längeren Zeitraum Licht ausgesetzt war. Falls einem die Farbe merkwürdig vorkommt, sollte man also vom Kauf absehen.
Eine möglichst kühle Aufbewahrung wird empfohlen, um Reaktionen wie Oxidation zu verlangsamen, sogar bei Kühlschranktemperaturen. Vor dem dabei möglicherweise entstehenden chill haze, einer von Kälte verursachten Trübung, muss man sich nicht fürchten. Das Problem ist vor allem ein kosmetisches. Dr. Bill Lumsden, langjähriger Head of Distilling, Whisky Creation und Whisky Stocks bei Glenmorangie und Ardbeg, erzählt: „Ich veranstaltete mal ein Tasting im Januar in Boston. Als ich die Flaschen aus dem Auto holte, stellte ich fest, dass so gut wie jede eine Trübung aufwies. Der chill haze verschwand, nachdem ich die Flaschen schüttelte. Eine negative Beeinflussung des Aromas konnte ich nicht feststellen.“
Auf der sicheren Seite ist man also wohl eher bei zu kalten als zu warmen Temperaturen. Geschlossene Flaschen profitieren übrigens ebenfalls vom Versiegeln mit Parafilm, falls eine längere Lagerung geplant ist. Selbstverständlich ist auch hier zu empfehlen, auf Dunkelheit zu setzen. Am besten im Originalkarton und im (Kühl-)Schrank. In Lagerräumen von Bars sollte nicht ständig das Licht brennen. Falls das nicht zu vermeiden ist, können geschlossene Schränke zum Lagern verwendet oder bestehende Regale mit Vorhängen abgehängt werden.
Doch auch positive Veränderungen sind bei der Lagerung in Flaschen möglich. Bill Lumsden glaubte früher nicht unbedingt an größere Veränderungen nach dem Abfüllen, bis er eines besseren belehrt wurde. „Vor einigen Jahren kreierte ich Glenmorangie Companta, die fünfte Abfüllung der Private Edition. Nach vier Jahren verkostete ich eine Flasche und war überrascht, wie gut er sich entwickelt hatte. Es schien, als wäre der Whisky in dieser Zeit runder geworden.“
Die beste Lagermethode: austrinken
In Mexiko wird das Wissen um Reifung im Glas schon länger eingesetzt, wie Juan Cordova, Hersteller von Espiritu Lauro und Santa Pedrera Mezcal, erzählt. „In Oaxaca gibt es die Tradition, dass man die Geburt eines Mädchens mit Mezcal feiert. Dieser Mezcal wird in einen Glasbehälter gefüllt, abgedichtet und unter der Erde vergraben, um ihn ohne Lichteinfluss bei konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit zu lagern. Wenn man ihn zum 15. Geburtstag des Mädchens wieder ausgräbt, hat er sich deutlich verändert. Er hat eine seidige Textur, durch Veresterung entwickelt sich ein reiches und komplexes Aroma. Der Mezcal wirkt geschmeidiger, weniger kantig.“
Vielleicht ist das ein besserer Blickwinkel auf Lagerung in Flaschen. Sie sind weniger magische Zeitmaschinen, sondern eher Behälter, in denen und mit denen der Inhalt arbeitet. Ihre Geschichte, die Zeit und unser Umgang mit ihnen formt sie. Man sollte sie mit Achtung und Sorgfalt behandeln, vor allem, wenn man eine lange Lagerung plant oder Spirituosen sogar als Wertanlage sammelt.
In einer Sache sind sich letztlich alle Experten einig: Das beste Rezept gegen unerwünschte Veränderungen ist es am Ende, Spirituosen auszutrinken. Und sich damit nicht zu lange Zeit zu lassen.
Credits
Foto: Editienne