Wos is, G’spritzta? Der Austro-Report aus dem Inneren des Glases
Vielleicht geht in Zeiten digitaler Hektik ja eine Zusammenfassung der österreichischen Trinksitten in einem Satz als Leserservice durch: Im Grunde ist es ihnen egal, woran man sich berauscht. Wer hingegen lieber den soziologischen Diskurs, gespickt mit Zitaten zum systemtheoretischen austriakischen Leber-Versagen, schätzt: Auch so ließe sich die Trinkfreude der südlichen Nachbarn Deutschlands erklären. Denn jede Generation hatte ihre pop-kulturelle Ikone, die sich für mehr Alkohol stark machte. Etwa der liebe Augustin, der betrunken in die Grube der Pest-Leichen fällt. Doch auch der ebenfalls schwer trunkene Schuster Knieriem in Johann Nestroys Der böse Geist Lumpazivagabundus (1833) mag als Gewährsmann dienen: »Die Welt steht auf kan‘ Fall mehr lang«, ist sein Credo zwischen zwei Schlucken, weil ja eh bald »der Komet kummt«.
127 Jahre später sorgte dann Helmut Qualtinger für eine wahre Ode auf die Promiskuität im Glasl, in Form eines Kabarett-Programms, das bezeichnenderweise Krügel vorm G’sicht hieß:
A Krügerl, a Glaserl, a Stamperl, a Tröpferl
Da werd’n uns’re Äugerln gleich feucht
Da warmt si’ des Herzerl,
Da draht si‘ mei Köpferl,
Die Fußerln wer’n luftig und leicht
Dann muaß i der Musi’ an Hunderter reib’n,
I bin in mein’ Himmel – und dann geh’ i speib’n
Dass der Text mit dem abstinenten Gerhard Bronner verfasst wurde, ist bei diesem Komprimat eines durchzechten Abends nur die kulturhistorische Pointe. Und auch mitten im Drogen-Song, der Falco schon vor seinem Ausstieg bei der Hallucination Company bekannt macht (weltbekannt kam dann später), dauert es nur drei Zeilen, ehe es heißt:
Und seine Leber ist hin
Und auch wenn die Venen offen liegen und es nach Formalin riecht, braucht man sich aber nicht sorgen, so der Schluss in »Ganz Wien«:
Des alles macht eahm kan Kummer
Weil er ist in Wien.
Doch die 1980er und ihr »Kronzeugenprinz« – wie Christian Ide Hintze am Grab Falco nannte – sind längst tot. Und »Ganz Wien« ist nicht halb Österreich. Wie steht es also heute um die Getränkevorlieben? Tja, Kontinuitäten sind in einem Land mit großer Vergangenheit nie aus der Mode. Die Nostalgie des Nippens macht da keine Ausnahme. Denn der originäre Beitrag Österreichs zur Trinkkultur besteht eindeutig im Weißen Spritzer.
Lediglich jenseits des Brenner-Passes mag man diese Historie anders erzählen. Beim einstmals welschen Erbfeind wird offiziell die Meinung vertreten, dass die k.u.k. Soldaten die kräftigen Weine des Südens eben nicht vertrugen und deshalb mit Wasser streckten. Waren halt Luschen, gli Austriaci. So lässt sich noch nach den traumatischen Isonzo-Schlachten die Mär vom schwachen, aber halt lange siegreichen Habsburger-Staat verbreiten. Dass im ebenfalls bis zum Frieden von Saint Germain österreichisch-ungarischen Kroatien die Weinschorle den bis heute verständlichen Namen gemišt trägt, spricht allerdings noch deutlicher für ein Erbteil aus Austria-Hungaria.
Die Ösi-Idee von »Low ABV«
Wie dem auch sei: Kein Mixgetränk geht öfter über die Tresen der Alpenrepublik. »Ich komm mir vor wie ein Heurigenwirt«, stellte Oliver Horvath von der Wiener Kleinod-Gruppe nach wenigen Betriebstagen seiner stylischen Gin-Rooftop-Bar mitten im Ersten Bezirk Wiens fest. Nicht einmal an dieser mondänen Zentrumsadresse wollte man zum Afterwork elaborierte Twists auf den »G&T«. Dass am anderen Ende des Fine Drinkings massenhaft Hard-Seltzer-Dosen in den Bahnhofsläden stehen, die mit minus-50%-Klebern um Erbarmen flehen, erklärt sich übrigens ebenfalls aus der tief verwurzelten Spritzer-Kultur: Low ABV braucht man hier keinem erklären, denn der leichte Sommerspritzer wird je nach Gegend als »Überschwemmung« oder »Teichwasser« bestellt. Und natürlich lebt in der Hochburg der Aromasorten (Wein-Österreichisch: »schmeckate«) auch der Muskateller-Spritzer. Millionen Steiermark-Besucher können nicht irren!
Denn das Ende der Fahnenstange ist damit noch nicht erreicht. Immer wieder erntet Philipp M. Ernst ungläubige Blicke, wenn er vom Lavendel- oder Maracuja-Spritzer erzählt. »Mit der ganzen Range von Sirupen wird da gemischt«, so der gebürtige Steirer, der mit seiner Frau Andrea Hörzer Gründer der Wiener Josef Bar wurde. Selbst ein Kokos-Spritzer (!) sei da keine Seltenheit. Ideale Rebsorte dafür? Nebensache. Oder fragen Sie Monin!
Man bringe den Spritzwein!
Des Ösis Liebe zum Aufspritzen geht sogar über den Wein hinaus, wenn man sich im Westen umhört. Der saure Radler der »Mohren«-Brauerei in Dornbirn (die zuletzt wegen ihres Namens und des Etiketts in den Fokus der Presse geraten war) wird mitnichten mit Zitruslimo gemischt, sondern mit Soda – und verkauft sich wie geschnitten Brot im Ländle. Lediglich die Variante mit Rotwein ist (mittlerweile) tabu. Während das in den 1980er Jahren durchaus noch als seriöse Bestellung durchging, ist das Verdikt im Beisl heute klar: »Wer Rote Spritzer trinkt, frisst a‘ klane Kinder«.
Überhaupt ist Österreichs Liebe zum G’spritzten ein Quell für Zitate. Vor allem die Aufforderung »Man bringe den Spritzwein!«, hat in den letzten Jahren die Hersteller von T-Shirts und Kühlschrankmagneten beschäftigt. Denn von höchster Stelle, dem Wiener Landeshauptmann (in seiner Rolle einem deutschen Ministerpräsidenten vergleichbar) Michael Häupl, erging dieser Ritterschlag fürs Getränk. Bis heute lässt der einstige Spitzenpolitiker das Getränk bei Lesungen und anderen Auftritten hochleben. Denn ein wenig spiegelt sich eine andere Volksweisheit in jedem kalt angelaufenen Spritzerglas: »A bisserl wos geht immer«.
Bier oder Wein? Ist beides fein!
A bisserl Zahlenmaterial also auch. Denn der direkte Vergleich zeigt, dass das kleine Österreich beim Wein deutlich beherzter zugreift als Deutschland. 26 zu 20 steht es in diesem Cordoba der Reben, wobei das Resultat in Litern gemessen wird. Land der einsamen Süffler ist aber Österreich keines: Mehr als die Hälfte des konsumierten Weins wird in der Gastronomie oder bei Veranstaltungen verkauft. Dabei ist der Patriotismus unübersehbar; 2021 lag der Marktanteil des österreichischen Weins »beim Wirten« bei 90%. 2003, so wissen die offiziellen Annalen zu berichten, teilte sich der Rest der Welt immerhin noch 16%. Dazu kommt aber auch ein starkes West-Ost-Gefälle der vinophilen Weltoffenheit. Man muss dazu nicht zur Nachkriegszeit zurückgehen, in denen die Franzosen als Besatzungsmacht die Bundesländer Vorarlberg und Tirol verwalteten. Auch die Nähe zu Südtirol bringt eine Italianitá in die Weinkarten Westösterreichs, die durch langjährige Verbindung der Tiroler Weinhändler mit Winzer-Granden wie Frescobaldi noch befördert wird.
Doch gebürstelt wird nicht nur beim Wein. Das Bier hat nur in der Tschechischen Republik einen noch höheren Stellenwert (Pro-Kopf-Verbrauch: 135 Liter/Jahr) als in Österreich. Deutschland hat man als Biertrinker-Nation Nr. 2 ohnehin schon vor Jahren abgelöst, mittlerweile gehört man zum sehr exklusiven Club der Länder mit 100 Liter konsumiertem Bier. Die Bilanz des Brauerei-Verbands allerdings rettete die Kategorie alkoholfreies Bier – es sind genau jene drei Liter Jahresverbrauch, die auf den vollen 100er fehlten.
Aufstieg und Fall des Edelbrands
Das klingt, als solle man darauf stolz sein, dass man in so ziemlich jeder alkoholischen Disziplin ordentlich was wegkübelt. In der Tat hält man in Österreich große Stücke auf all jene, die Schnaps, Wein und Bier erzeugen. Zum einen sorgen Brenner, Brauer und Winzer für Wertschöpfung, die in einem veritablen Tourismusland nicht zu unterschätzen ist. Zum anderen ermöglicht man hier der zum Kleinstaat geschrumpften einstigen Großmacht noch immer Weltgeltung. Zumindest kann man sich das einreden, wenn man – leicht illuminiert oder eing’spritzt – die Liste der (inflationär gewordenen) mit 95 bis 100 Punkten bewerteten Weine überfliegt. Der Schönheitsfehler, dass weder Decanter noch Robert Parker den Glorienschein pinselte, sondern Austro-Fachmedien, ist hier wirklich zu übersehen.
Begonnen hat dieser Run im Ausland aber mitnichten mit den Rebensäften. Am Anfang war der Schnaps. Hochprozentige Exporte taten mehr für das Genussland Österreich als so manche Koch-Show. Denn zur Neuerfindung der Obstverwerter als Edelbrenner kam in den 1980er und 1990er Jahren auch der Exporterfolg. »Davor hieß die Alternative zur Destille einfach Biotonne«, formuliert es rückblickend der Kärntner Destillateur Valentin Latschen. Gebrannt wurde nur jenes Obst, das sich nicht verkaufen ließ. Als er im Familiengasthaus nur die besten Früchte einmaischte, ja sogar teures Obst zukaufte, war das Verdikt über den Buam vom Pfau-Hof eindeutig: der spinnt! Doch gemeinsam marschierte man mit den Edelbränden, die man auch nicht mehr aufzuckerte, zu Kennern ins Ausland. Quinta Essentia hieß die unter einem Ehrenkodex verbundene Gruppe, die den Weg der klaren Frucht beschritt. Namen wie Alois Gölles, Max Schosser, Franz Tinnauer oder Hans Reisetbauer fanden sich plötzlich auf den Schnapswägen der Gastronomie. Ja, sie verdrängten dort Grappa, Cognac und Co.
Zwischen Zirbe und Flying Hirsch
Geblieben ist davon wenig, auch wenn die Protagonisten vielfach noch dieselben sind. Aber der Schnaps, auch wenn er nun Edelbrand heißt, passt halt nicht in den Zeitgeist. Und der zweite Shooting Star der 1990er mischt sich lieber mit Vodka. Denn Red Bull gehört in seinem Heimatland immer noch zu den guilty pleasures. Und wer eine Runde »Flying Hirsch« – Jägermeister und Red Bull – bestellt, signalisiert überdeutlich, dass er oder sie es heute wissen will. Für edle Brände bleibt da wenig Platz im Shotglas. Unberührt davon sind allenfalls die gebrannten Wildfrüchte, eine echte Domäne der Alpenrepublik, zu denen neben dem legendären und teuren Vogelbeer auch Mispel (oder Asperl) und Schlehe gehören. Und in ihrem Schatten sorgen günstigere lokale Brennspezialitäten für den endemischen Rausch. Der Tiroler »Krautinger« etwa, aus den Stoppelrüben der Wildschönau destilliert, gilt Nicht-Einheimischen etwa durchaus als Mutprobe. Gesellschaftsfähig im gesamten Bergland hingegen ist die Zirbe.
Ein gutes Beispiel dafür liefert die Stage Bar im Herzen der Alpenstadt Innsbruck. Die wechselnden Cocktails erfreuen Städter wie Touristen, so Daniel Penz, »als nächtlicher Anheizer am Freitag-Abend oder als letzten Absacker in den späten Samstagabend-Stunden« greift der Innsbrucker dann doch gerne zum Zirbenschnaps. Der etwas mildere (36,8% Vol.) Edelbrand aus dem Karwendelgebirge, destilliert am Glaserhof der Familie Holzmann, erfüllt da seinen Zweck. »Zirbeler trinkt man nicht alleine«, gibt Penz eine Nachhilfestunde zum Tiroler Lebenselixier, »viele, die damit noch nicht in Berührung gekommen sind, sind spätestens nach dem ersten Nipper angetan und wollen die nächste Runde Zirbeler«.
Die Alpenrebellen sind los
Auch Annabell Hemetsberger – nach Saisonen im Stanglwirt am Wilden Kaiser nun Barchefin am Attersee – hat ihre eigene Hitliste der lokalen Shots aus Tirol: »Generell werden Schnapserl gerne konsumiert«, man hat damit aber auch einen qualitativen Hebel, »etwa hin zu Espresso-Martini-Shots«. Dem Jägermeister macht derlei neumodisch-britisches aber nicht den Gar aus. Pro Kopf liegt der Verbrauch in Österreich bei sagenhaften 0,125 Liter. In anderen Recheneinheiten ausgedrückt: 31 Millionen 0,02-Liter-Kleinstflaschen werden als Österreich-Spezifikum jährlich getrunken. Lediglich Aperol ist noch erfolgreicher an der Bar. Es kann aber mitunter auch ein Bauern-Tequila anstelle des Wolfenbütteler Likörs sein, wenn sich die Landjugend trifft. Dafür kommt auf ein Glas mit Obstler in Speck eingehüllter Kren (Meerrettich), so Hemetsberger. Selbst beim Longdrink, aktuell ja durchaus mehr als eine Trend-Sternschnuppe, hat der alpine Raum eigene Gesetze: »Roter Eristoff und Soda zählt ebenfalls zu den beliebtesten Getränken in den Bergen«.
Immerhin hat man auch gelernt aus dem Verdrängungswettbewerb. Der bis zur Unkenntlichkeit verwässerte Obstler, einst ein echter Abfindungsbrand der späten und hantigen – also: herben – Früchte, soll wieder an Güte gewinnen. So zumindest sähen das gerne die Osttiroler Brenner, die ihren Pregler schärfer konturieren wollen.
Erst im Februar 2022 nahm die EU-Kommission die Spirituose aus Apfel und Birne in das Register der geschützten geografischen Angaben auf. Überhaupt gehen Regionalstolz und Rebellentum aktuell Symbiosen ein, wenn es darum geht, sich weder von Konzernen noch von Start-Ups die Butter vom traditionellen Bauernbrot nehmen zu lassen. Auch die drohende Monopolisierung des Biermarktes wollte man etwa nicht mehr tatenlos hinnehmen. Der Hintergrund neben warnenden Beispielen in der unmittelbaren Nachbarschaft (Slowenien): Mittlerweile stammen sechs von zehn in Österreich getrunkenen Bieren von internationalen Braukonzernen.
Das Gute bewahren, Oida!
»In anderen Ländern hat die Globalisierung bereits zur Nivellierung des Geschmacks geführt, dort gibt es fast nur mehr Konzernbiere«, fasst es Ewald Pöschko von der Brauerei Freistadt zusammen. Der Oberösterreicher übernahm auch die Obmannschaft der 2021 gegründeten Vereinigung Unabhängige Privatbrauereien Österreichs. Mittlerweile zählt man 38 Mitglieder, darunter die Schwergewichte Stiegl (Salzburg), Ottakringer (Wien), aber auch die regional bedeutenden Brauereien Murau (Steiermark), Hirt (Kärnten), Mohren (Vorarlberg) oder Zwettl (Niederösterreich). Jede einzelne Flasche trägt das Siegel »Österreichische Privatbrauereien – 100 % unabhängig«.
Und unabhängig, das war der österreichische Durst wohl schon immer. Zumindest, wenn es nach den Moden geht. Cider? Hard Seltzer? Alkoholfreie Destillate? I bitt’ di gor scheen! Passenderweise für alle Traditionalisten hat der Nationaldichter Franz Grillparzer (Es ist ein schönes Land) die Parole aller Zirben- und Spritzer-Freunde schon in König Ottokars Glück und Ende formuliert:
Drum ist der Österreicher froh und frank,
trägt seinen Fehl, trägt offen seine Freuden,
beneidet nicht, lässt lieber sich beneiden!
Also, zumindest bis wieder einer speibt…
Dieser Beitrag erschien erstmals in der Ausgabe 4-2022 von MIXOLOGY, dem Magazin für Barkultur. Für diese Wiederveröffentlichung wurde er formal adaptiert, aber inhaltlich nicht verändert. Weitere Informationen zur Bestellung eines Einzelheftes finden sich hier, weitere Informationen zu einem Abonnement (6x im Jahr) findet sich hier.
Credits
Foto: Inga Israel