Wie der BCB, nur in Kinderschuhen: Zu Besuch auf dem „Maitsev Eesti“ in Tallinn
Backstein-Mauern, rostiges Metall, wenig Stände und stundenlang Zeit zum Fachsimpeln: Man reibt sich die Augen am „Maitsev Eesti“ in Tallinn, das mehr ist als ein reines Spirituosenfestival. Wie entspannt es in der estnischen Hauptstadt zugeht und warum man dort den Sommerdrink 2024 finden kann, beschreibt Roland Graf bei seinem Besuch.
Touristiker kennen das Paradox zur Genüge: Alle wollen an die schönsten Plätze, nur halt bitte ohne alle anderen! Kollege Martin Stein hat das Unbehagen an massenhaft geteilter Leidenschaft jüngst anhand der „Athens Bar Show“ geschildert.
„Exempla trahunt“ mag man dem Polyhistor aus Regensburg quer über die Donau zurufen – und ausgiebig ein Gegenbeispiel aus dem Norden schildern. Denn das „Maitsev Eesti“ ist zugleich winzig und witzig, skurril und staatstragend. Und es sei allen ans Herz gelegt, die an echten aromatischen Grenzüberschreitungen interessiert sind.
Sauna-Drinks und generelle Entspanntheit
Dabei ist das November-Festival in Tallinn eigentlich keine reine Cocktail-Show, sondern ein Getränkefestival. Und auch das stimmt nicht. Denn vielmehr bündeln hier zwei Tage lang alle Genussfraktionen ihre Aktivitäten. Der Sommelierverband bewertet Getränke, den besten „Sauna-Drink“ sucht die estnische Bartender-Vereinigung, während die Köch:innen ihren Champion küren. Dazwischen werden Austern geknackt, aber auch Gin & Tonics gemixt – mit einem lokalen Destillat, das die Wacholderlastigkeit schon im Namen trägt („Juniperium“).
Nebenan wieder regiert der Rechenstift, wenn am Stand von „Punch-Drinks“ vorgerechnet wird, wieviel Müll der Einsatz der zehn Liter-fassenden Cocktail-Bag in Boxes spart. Die Gespräche dauern da wie dort lange. Man nimmt sich als Gast ebenso Zeit wie als Aussteller. Und kann zugleich seinen Hausrat erweitern. Denn die Kostgläser gibt es hier zum Mieten (ein Euro) oder kaufen (drei Euro). Zwei Stationen reichen für das gesamte, knuffige Festival.
Ein Kraftwerk der schrägen Getränke
Wobei: Die Location selbst ist ein Steampunk-Traum, dessen Baupläne auch H.R. Giger gezeichnet haben könnte: Was heute „Kultuurikatel“ heisst, war bis 1979 das Heizhaus des städtischen Gaskraftwerks. Zwei Kessel ziehen sich drei Etagen hoch durch die Location, doch heute gibt man mit Vodka und Craft Beer Gas. Bei letzterem zeigt sich die Klientel durchaus wählerisch. Während unsereins sich begeistert durch die zehn Sorten von „Tanker“ kostet, bescheiden uns die estnischen Freunde, dass die Brauerei aus Harjumaa doch „viel zu Mainstream sei“. Mag sein, doch erstens versteht Markenbotschafter Jaanus Tõnisson sein Handwerk und zweitens kann es nicht nur das „Sauna Ale“ mit Fichtenwipfel-Infusion so richtig! Estnischer Humor blitzt durch, als Jaanus das „Normal Bier“ einschenkt. „Es passiert ja dauernd, dass jemad statt unserer Gose oder einem IPA nach einem ‘normalen Bier’ fragt – jetzt bekommt er es’.
Alles andere als normal sind aber die echten estnischen Spezialitäten. Wir sagen nur: Perlwein aus unreifen Johannisbeeren. Das steht hier und darf mal wirken. Ungefähr ähnlich lange stand das Glas mit diesem Erzeugnis von „Allikukivi Veinimõis“ am Tresen. Soll man das kosten? An sich waren wir deswegen herübergewechselt vom Stand der deutlich hipper auftretenden „Nudist Drinks“. Sie haben es bereits geschafft – mit ihrem Rhabarber-Frizzante „Rabarbra“. Vor sechs Jahren erblickte der saure Prickler mit seinen 8% Vol. das Licht der Welt, erzählt Kelli Oja beim Einschenken, „Rhabarber wächst hier in Estland ja wie Unkraut“. Heute gehen bereits 200.000 Flaschen über den Ladentisch. Jüngster Neuzugang ist die entalkoholisierte Fassung des rosa Sommer-Hits.
Ein Highball mit Igel-Stachelbart-Limo
„Wir waren die ersten damit“, erfährt man bei Kelli, doch der aktuell noch lässigere Fruchtwein wäre eben der vom kleinen Familienunternehmen „Allikukivi Veinimõis“. Und in der Tat ist der ebenso knackige wie herbe Johannisbeer-Trunk – mehr Verjus mit Cassis-Aroma als dröger „Obstwein“ – ein geniales Getränk. Wäre man ein Hipster-Sommelier, würde jetzt das Handy gezückt und in Berlin schon das Garagentor der Spedition hochgekurbelt werden.
Entdeckungen wie diese gibt es an allen Ecken im „Kultuurikatel“. Das beginnt bei den üblichen Verdächtigen des Baltikums – Vodka Galore! – und ist doch nur ein Teil der Szene. „Willkommen in Mulgimaa“, begrüßen einen die Frauen dieser Region als Art Zollbeamte des Geschmacks. Denn alljährlich wird eine Region auserkoren, deren Genussmittel in Estland promotet werden. Das kleine Mulgimaa hat trotz des putzigen Namens („Du kannst auch Mulgis zu uns sagen“) einiges zu bieten. Denn nebenan wird nicht nur fermentierter Pollen verkostet, in der Pfanne bei „Shroomwell“ aus Tõrva schmurgelt der Igel-Stachelbart in Butter. „Wir machen Getränke aus diesem Pilz“, erfährt der staunende Fremdling an der Ostsee. Mit Ingwer, Honig und Apfelsaft wird daraus ein Energydrink aus dem Esten-Wald.
Estnischer Whisky einer „Freimeisterin“
Man wundert sich in ein Grübel-Crescendo hinein: Warum importiert dieses gute, hippe Zeug aus dem EU-Land um die Ecke keiner? „Durch Corona ist viel abgerissen“, bedauert man am Stand von „Rüübe“. Der mit Ingwer und Minze aromatisierte Vodka etwa hätte bei der Craft Spirits-Bewertung auf Anhieb Silber geholt, doch dann kam keine deutsche Bestellung mehr nach. Doch dann steht man vor Liisa Luhaste von der Moe-Brennerei. „Wir arbeiten viel mit Sangaste-Roggen“, erzählt die Brennerin, die Vodka für das Freimeisterkollektiv liefert. „Auch bei Dr. Kochan Schnapskultur sind wir gelistet“, wird derweil der erste Whisky eingeschenkt.
Noch beeindruckender aber ist „Handsa“. Ursprünglich eine Art estnischer Moonshine aus Getreide, wurde der Roggenbrand für fünf Jahre in Fässern aus amerikanischer Eiche gereift. „Der Unterschied zwischen Whisky und Handsa besteht darin, dass Handsa nie aus gemälztem Getreide hergestellt wird“, so die Brennerin. Die Fruchtigkeit dieser Spirituose ist beachtlich – er schlägt den weitaus stärker vom Holz dominierten Whisky von „Moe“ namens „Tamm&Rukis“ (2019 eine Premiere in Estland) deutlich.
Aber Liisa bleibt stark bei dieser MIXOLOGY-Einschätzung. So stark wie die gesamte Spirituosen-Szene am „Maitsev Eesti“. Nächsten November wäre es wieder so weit in Tallinn …
Credits
Foto: Roland Graf