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Allen Gefahren wohnt ein Zauber inne

Tour de Trance, Teil 3: Allen Gefahren wohnt ein Zauber inne

Der aktuelle Zeitgeist ist von neopuritanischen Tendenzen geprägt. Unter dem hehren Ziel der Gesundheit werden Sinnlichkeit und Lebensfreude an den Pranger gestellt – oftmals ohne es dezidiert zu wollen, oder gar zu begreifen. Markus Orschiedt mit Teil Drei seiner Serie über die Menschheit und den Rausch.

Zu Beginn dieser Woche konnte man wieder Zeuge sein bei den seit Jahren mit beeindruckender Stumpfsinnigkeit zelebrierten Ritualen rund um den weltweit größten Rave. Das Oktoberfest mit seiner offenen Gersten-Drogenszene und den Live-Performern in futuristischen Kostümen aus fernen Welten bläst zum kollektiven Rausch.

Auf den ersten Fotos und Filmschnipseln wird ersichtlich, dass sich das als Konsensrave bezeichnen ließe. Alle gesellschaftlichen Schichten fallen im Lallen übereinander glückselig her. Die Reaktionäre der CSU Arm in Arm und offenenherzig mit den Lusträubern und Entsagungsgurus der Grünen – was für ein Schauspiel. Schon werden Videos gepostet, auf denen doch tatsächlich zu sehen ist, wie ein Paar einvernehmlich kopuliert, unter der Bierbank ein Handjob erledigt wird und – shocking! – auf einem Tisch ganz öffentlich von Dirndl- und Trachtenträgern fette weiße Lines durch Hunderter gezogen werden. Verspottet von den Neojakobinern als deutsche „Leitkultur“. Ja, auch Moralsturzbesoffene beklagen den Untergang des Abendlandes und die Dekadenz. Als herauskam, dass die konsumierten weißen Linien ein speziell für den Bierrave produzierter Schnupftabak ist, flüchtete sich die Empörung in die, trotz des Schaumes vor dem Mund, schale und abgestandene Routinephraseologie: toxische Männlichkeit, sexistisch, Gewalt und Schlägereien, Kapitalismus, Energieverschwendung, Alkoholhölle – verbieten müsse man so was.

Mit dem Verbieten ist das so eine Sache, das kann für die Regierenden schnell gefährlich werden, wie die Münchner Bierrevolution vom März 1844 zeigte. Da musste der bayerische König Ludwig I. eine Bierpreiserhöhung nach heftigen Protesten und Aufständen zurücknehmen. Die Bierriots wurden von manchen Historikern als Vorboten der Revolution von 1844 gesehen und ein gewisser Friedrich Engels schrieb, dass die Volksmassen „schnell erkennen erden, dass es ebenso einfach ist, ihr (der Obrigkeit) auch bei wichtigeren Angelegenheiten das Fürchten zu lehren.“ Es gibt eben nicht nur den Rausch des Verbots, sondern auch den Rausch des Aufruhrs. Auf die beinahe zwangsläufige Notwenigkeit eines irgendwie gearteten Rausches sind wir ja bereits im Prolog, dem ersten Teil dieser Serie, kurz eingegangen.

Unterscheidung von vulgärem und kultiviertem Trinken

Sollten wir den Hedonismus zurückdrängen, auf alle Grenzüberschreitungen, egal welcher Provinenz, verzichten, zugunsten einer risikobefreiten, auf Reinheit und Tugend verpflichteten Lebensweise? Ist die nur noch der Gesundheit vorauseilend dienende Bedürfnisbefriedigung der Sinn des Daseins? Peter Richter schreibt dazu in seinem Buch „Über das Trinken“: „Heisst das, die Gefahren zu verharmlosen? Absolut nicht: Es heisst, sie zu bejahen. Es heisst, sie ins Auge zu fassen. Und zu lernen, trittsicher drumherumzutanzen.“

Die Literatur und die Philosophie über frühere Hochkulturen sind reich an Mythen über das Trinken, über die Vorzüge und die Gefahren. Ob Platons berühmtes „Symposion“, die Legende von Enkidu aus dem „Gilgamesch“-Epos, eine der ältesten Großdichtungen der Menschheit vor 5000 Jahren. Stets geht es um die Unterscheidung von vulgärem und kultiviertem Trinken. Von Suff und Genuss. Verbot und kontrollierter Legalität. Es hat sich nicht viel an den Debatten verändert.

Klarer Kopf als Voraussetzung für den Erfolgsrausch des Neoliberalismus

Allenfalls der gesellschaftliche Wertewandel führt zu sichtbaren Steuerungseffekten, die ein Gesetz nur bedingt herbeizuführen vermag. Als US-Präsident Richard Nixon gegen das Three-Martini-Lunch agitierte, war das Gejohle unter Journalisten und Politikern weithin vernehmbar. Es war eine Männerwelt, auch wenn es an trinkfesten Frauen in diesen Kreisen keinen Mangel gab. Alles andere wäre nur Klischee. Richter schreibt dazu, es sei ein „Armdrücken mit der Leber“ gewesen: „Mit Blick auf die Lebenserwartung kann der Berufsstand der Journalisten heilfroh sein, dass diese Zeiten vorbei sind. Was frühen Tod anbelangt, konkurrierten Journalisten traditionell mit Gastronomen, Kellnern, Barleuten. Also ihren engsten Freuden.“

Auch in der Politik schien in dieser Zeit so manche Krisensitzung, Verhandlungen über Krieg und Frieden vom Alkohol zu einem guten Ende geführt haben. Das Wort von der „Friedensnobelpreisleber“ machte die Runde. Heute unvorstellbar, wo bereits ein Glas Wein oder Bier zum Mittagessen skandalisiert wird. Alkohol ist das neue Nikotin. Wie beim Tabak wird Alkohol zunehmend delegitimiert. Der Konsum im allgemeinen, ob zu Genuss- oder Rauschzwecken, spielt keine Rolle, soll von gewissen Interessensguppen ausgehend geächtet werden, gar zu normabweichenden, pathologischem Verhalten deklariert werden. Richter erwähnt, dass Henry Ford oder Rockefeller konsequente Prohibitionisten waren, die befürchteten, dass trinkende Arbeiter die Funktionsweise ihrer kapitalistischen Produktionsmodelle stören könnte. Mein marxistischer Philosophieprofessor Fritz Haug sah das ebenso: Der klare Kopf ist die Voraussetzung für den Erfolgsrausch des Neoliberalismus. Der dauerkranke Nietzsche sah Gesundheit als „dasjenige Mass an Krankheit, das mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“

Neopuritanischer Impetus

All das spielt im Augenblick dem Zeitgeist in die Hände, der aus meiner Sicht stark von einem neopuritanischen Impetus markiert ist. Unter dem hehren Ziel der Gesundheit werden Sinnlichkeit und Lebensfreude in den Senkel gestellt – oftmals ohne es dezidiert zu wollen, oder gar zu begreifen.

Jede Regulierung unseres Konsumverhaltens ist nicht nur ein Eingriff in die persönliche Autonomie, sondern eine Attacke auf unseren sinnlichen Ausdruck und bedarf einer Begründung. Wieso steht Genuss unter Risikovorbehalt? Der Konsument, der Bürger als Akteur, gilt a priori als Verschmutzer, degeneriert, gefährlich, unmündig. Daher leiten sich Forderungen ab nach Sex mit vertraglicher Abmachung, Alkohol und Drogen unter staatlicher Abgabe, behördliche Kontrolle auf Fleisch, Zucker und Fett. Statt über Aufklärung soll über dirigistische Eingriffe die Hoheit über den Verbrauer erlangt werden. Das birgt die schleichende Gefahr der Erziehung zur Unmündigkeit. Das ist hart formuliert, die Tendenzen sind aber nicht von der Hand zu weisen.

Der Bürger als Funktionsträger einer reinen Welt. Noch mokieren wir uns über das chinesische Modell des Social Scoring. Aber die Künstliche Intelligenz kann auch demokratische und plurale Gesellschaften ins Wanken bringen. Die eine Maßnahme ist immer nur die Vorstufe für die nächste. Verhaltensweisen sind über Daten messbar und manipulierbar, auch wenn sie für einen sogenannten übergeordneten guten Zweck erhoben werden.

Von Sigmund Freud gibt es den Terminus der „rauschhaften Askese“. Sie kann völlig legitim in der Tat für den einzelnen Menschen eine Freude sein und ist dann auch nicht zu kritisieren. Wird sie zunehmend zur Reinheitsfantasie von Gesellschaft und Politik, trägt sie den Keim des Unfreien in sich.

Bedingung für ein lohnenswertes Leben

Der renommierte Philosoph Robert Pfaller hat vor Jahren bereits ein wunderbares Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“ geschrieben. Die Kernthese ist, dass wir natürlich vorher bereits wissen, dass machen Genüssen, wie Alkohol oder Tabak, Gefahren innewohnen, diese aber erst den Genuss definieren. Unter Verweis auf die allseits bemühte Risikovorsorge soll das eliminiert werden. Laut Pfaller sind diese unguten Begleiterscheinungen, die mit dem Genuss in seiner Gesamtheit verbunden sind, aber erst die Bedingung für ein lohnenswertes Leben: „Ohne die Verrücktheiten der Liebe, … ohne die Unappetitlichkeiten und Schamlosigkeit der Sexualität, ohne die Unvernunft unserer Ausgelassenheit, Großzügigkeiten, Verschwendungen, … Feierlichkeiten, Heiterkeiten und Rauschzustände wäre unser Leben ein abgeschmackte Abfolge von Bedürfnissen und – bestenfalls – ihre stumpfe Befriedigung; eine vorhersehbare, geistlose Angelegenheit ohne jegliche Höhepunkte, die insofern mehr Ähnlichkeit mit dem Tod hätte, als mit allem, was den Namen des Lebens verdient.“

Nun, insofern hat das Oktoberfest noch ein langes Leben vor sich. Selbst, wenn der Schnupftabak echtes Koks wäre, es Darkrooms wie im gefeierten „Berghain“ gäbe und darin CSU und Grüne gemeinsam ihren Spass hätten, der Volksbierrave geht einfach weiter und ignoriert die Empörung. Das garantiert schon die Funktionslogik. Solange der Rave mehr Geld verdient und Steuern abwirft als er Schäden verursacht, wird es schwierig sein, ihn abzuschaffen. Aller Risikovorsorge zum trotz.

Falls nicht, hat Peter Richter eine interessante Prognose formuliert: „Sicher ist nur, dass mit dem Trinken ein uraltes Menschheitswissen verschwinden würde. Die Rauschmittel und Benebelungstechniken, die an seine Stelle treten werden, die werden dafür dann absolut neu, ungewohnt, gefährlich und überraschend heftig sein, dass wir uns davon heute noch gar keine Vorstellung machen können.“

Genau dieses Szenario wird Gegenstand der vierten und letzen Etappe der Tour de Trance sein.

Quellen:

Robert Pfaller „Wofür es sich zu Leben lohnt“ – Fischer Taschenbuch Verlag

Peter Richter – „Über das Trinken“ – Goldmann

Christoph Lövenich/Johannes Richardt (HG.) – Geniessen verboten – Novo

Credits

Foto: oneinchpunch – stock.adobe.com

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