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Kolumne Theken & Marken: Was macht eigentlich Absinth?

Täglich begegnen uns Marken in der Barkultur, monatlich sucht Kommunikationsdesigner Iven Sohmann das Gespräch. Was uns Leuchtreklamen, Produktverpackungen oder gar Getränkekarten zu erzählen haben, hinterfragt diese Kolumne. Dieses Mal mit einem Blick in die Nische: Was macht eigentlich Absinth?

»Oh, nee, da bin ich lieber vorsichtig.« Wer mit fachfremden Besuch gemeinsam die Hausbar erkundet und dabei auf den Absinth zu sprechen kommt, erntet nicht selten skeptische Blicke. »Macht der nicht blind, wahnsinnig und kriminell?« Na, mindestens! Sein Ruf eilt ihm jedenfalls voraus, genauer gesagt, hallt er immer noch nach. Denn nicht nur aufgrund des namensgebenden Wermutkrauts (Artemisia absinthium), das je nach Rezept neben u. a. Anis, Fenchel, Ysop und Zitronenmelisse zum Einsatz kommt, ist die Geschichte dieser hochprozentigen Heilkräuterspirituose eine besonders bittere.

Vergangenheit voller Wermutstropfen

Die ursprünglich regionale Spezialität aus dem Val-de-Travers im Schweizer Kanton Neuchâtel blieb nach der Gründung der ersten Absinth-Brennerei im Jahr 1797 nicht lange unbescholten. Im Zuge der französischen Besatzung Nordafrikas ab 1830 verfielen die Soldaten der »Grünen Fee« zunehmend, die sie offenbar nicht nur – wie geplant – zur Trinkwasseraufbereitung und Malariabekämpfung nutzten. Quelle surprise! Zurück in Frankreich dürsteten die Veteranen in Pariser Cafés nach Absinth, wodurch dieser sich als Aperitif im bürgerlichen Milieu etablierte. Die steigenden Weinpreise während der Mehltau- und Reblauskrisen Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts brachten dann auch die Arbeiterklasse und die Kunstschaffenden auf den Geschmack. Vor allem bei letzteren fand diese frische Inspirationsquelle soviel Anklang, dass sie sich gar ihrer Ohren entledigten. So zumindest eine der vielen Legenden rund um den vermeintlich typischen Absinthrausch.

Folgefalsch erklärten der Staat, die katholische Kirche und natürlich die wiedererstarkte Weinlobby Absinth um die Jahrhundertwende nicht nur zum Sündenbock des allgemeinen Sittenverfalls, sondern obendrein zur Ursache des sogenannten »Absinthismus«. Diese vorgeblich besonders schwere Form der Trunksucht sollte auf das im Wermutkraut enthaltene Nervengift Thujon zurückzuführen sein. Angesichts des nachweislich moderaten Gehalts von damals oft unter 10 Milligramm pro Liter, wären dessen halluzino- und epileptogene Wirkung allerdings erst einige Flaschen nach der letalen Dosis Ethanol zum Tragen gekommen. Vielmehr stehen Brennfehler, zweifelhafte Farbstoffe und Pigmente sowie – wer hätte das gedacht – die im Vergleich zu heute doppelt- bis dreifache Alkoholmenge pro Kopf und Jahr im Verdacht, sich negativ auf die Volksgesundheit ausgewirkt zu haben. Dumm gesaufen. Die Verbote folgten dennoch: 1910 in der Schweiz, 1914 in Frankreich und 1923 in Österreich und Deutschland. »La Fée verte« ging in den Untergrund.

Absinthe Kübler zeigt sich kunstvoll, aber ungekünstelt.
Mephisto Absinth – wenn schon Totenkopf, dann richtig.
Das Beast vom Tabu Absinth geht auf den Geist eines Bergmannes zurück.

Absinth im Abseits

In der Folge machte die Bevölkerung, um sich über den Verlust des Absinths hinwegzutrösten, aus der Not eine Tugend oder wie es in Frankreich heißt: Pastis, Pernod und andere Anisées. Etwas unrühmlicherweise zeichnen sich diese vor allem dadurch aus, dass sie das thujonhaltige Wermutkraut vermissen lassen. Aber wozu trocken trauern, wenn es sich trotzend trinken lässt? Zumal jede weitere opaleszierende – also durch den Louche-Effekt in Verbindung mit Wasser milchig werdende – Flüssigkeit im wahrsten Sinne des Wortes gut verschleiert, dass heimlich hergestellter Absinth natürlich weiter im Umlauf war. Insbesondere in der Ursprungsregion schienen die Menschen zu ahnen, wie lange sich die absinthene Durststrecke ziehen könnte. Sie pflegten ihr Erbe gewissenhaft und spezialisierten sich zunehmend auf die farblose, »La Blanche« oder »La Bleue« genannte Version des Absinths, um nicht durch das verräterische Chlorophyll enttarnt zu werden.

Und tatsächlich, bis zur Aufhebung der europäischen Absinthverbote sollte fast ein Jahrhundert vergehen. Gestützt von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und befeuert von der Popkultur der 90er und 2000er Jahre wurden Herstellung und Verkauf wieder legal: 1998 in Deutschland und Österreich, 2005 in der Schweiz und 2011 in Frankreich. Die Ironie von der Geschicht: Der heutige Grenzwert für den Thujongehalt von Bitterspirituosen liegt sowohl in der EU als auch in der Schweiz mit 35 Milligramm pro Liter deutlich über der früher üblichen Dosis. Wobei Absinthe, die nicht gleichzeitig auch als Bitterspirituosen deklariert sind, sogar maximal nur 10 Milligramm Thujon pro Liter aufweisen dürfen … egal, die Prohibition ist überstanden und eine jahrhundertelange Odyssee hat ihr spätes Ende gefunden: Vom Heiltrank zum Desinfektionsmittel zum Truppentreibstoff zum Appetitanreger zur Volksdroge zum Sündenfall zum Vergehen zum Mythos zu …? Ja, zu was eigentlich?

Grüne Fee Absinth ist mit viel Liebe zum Detail gestaltet.
Mata Hari Absinthe huldigt der gleichnamigen Tänzerin und Spionin.
Absinthe Bizarre – das Hausgetränk des renommierten Cabaret Bizarre.

Absinthmarken heute: zwischen Kultur und Abgekulte

Seitdem die neuen alten Absatzmärkte für Absinth wieder öffneten, wurden vor allem in der Schweiz und in Frankreich viele Traditionsmarken reaktiviert, was an ihren konventionellen Erscheinungsbildern auch unschwer zu erkennen ist. Das Bedürfnis, an die eigene Historie anzuknüpfen, ist insbesondere bei den direkten Nachkommen der Gründerfamilien nicht nur emotional nachvollziehbar, sondern auch markenstrategisch äußerst ratsam. Wer so »einfach« Tradition, altgediente Rezepturen und Authentizität gegenüber der Konkurrenz ausspielen kann, sollte es tun. Noch besser aber, wenn dieses Erbe in einen zeitgemäßen Gesamtauftritt überführt wird, wie es beim Absinthe Kübler zweifelsohne gelungen ist. Allein schon dessen kunstvolles, aber ungekünsteltes Frontetikett bringt mit einer Komposition aus Heraldikelementen, feiner Typografie und Wermutdekor das eigene Selbstverständnis als altehrwürdiges Kulturgut souverän zu Papier. Oder wie es LL Cool J ausdrücken würde: »Don’t call it a comeback, I’ve been here for years!«

Demgegenüber standen und stehen leider immer noch allerhand prinzipienlose Schundprodukte, die mit möglichst gefahrversprechender Aufmachung die toxische Männlichkeit von Freizeit-Outlaws adressieren und sich »Faster, harder, (früher mal) verbotener!« auf ihre Fähnchen im Wind geschrieben haben. Oder wo waren die dazugehörigen Unternehmen während der Legalisierungsbestrebungen? Für schnelle und schmutzige Taler pumpen diese trittbrettfliegenden Kulturgeier den Reinalkohol durch die mit Farbstoff und Aromamixtur getränkten Geisterbahnen als gäbe es kein Morgen mehr. Gibt es wohl auch nicht – angesichts der vielen Totenschädel. Wobei, nichts gegen Jenseitsromantik. Vor allem nicht, wenn sich wie beim Mephisto Absinth tatsächlich ein (Toten-)Kopf gemacht wurde oder wie beim Tabu Absinth die Volkssage eines Bergmannsgeists aufgegriffen wird.

Und im Übrigen schon gar nichts gegen mystische Feeninszenierungen oder die Stilisierung zum Künstlerbedarf, wenn sie denn gut oder wenigstens liebevoll gestaltet sind wie beim Grüne Fee oder beim Mata Hari Absinth. Alles fein, alles legitim. Beim Blick auf den Markt aber überwiegt leider der Augabfall mit ganz ähnlichen Motiven, die von Kopie zu Kopie immer trashiger werden und immer weniger ernst zu nehmen sind. Eine Entwicklung, die ein Absinth aus dem Val-de-Travers auf seiner Flaschenfront vortrefflich zu kommentieren weiß: Nackttänzerin und Johnny-Depp-Lookalike beim böhmischen Absinthritual (mit Feuer!) flankiert von Totenkopffeen vor Wermutkrautkulisse. Der passende Name zum augenzwinkernden Kuriositätenkabinett: Absinthe Bizarre.

Absinth 66 setzt seit Langem auf den Heiltrank-Look.
Löwen Absinth mit schmuckvoller Reliefflasche.

Einmal Nische, immer Nische?

Jedenfalls liegt die Vermutung nahe, dass Absinth zumindest in deutschen Bars nicht nur wegen des meist aufdringlichen Anisgeschmacks ein Nischendasein als gedashte Nuance fristet. Ebenfalls kaum zu glauben, dass Absinth allein wegen seiner ausschweifenden Trinkrituale entweder komplett ausgespart oder aber direkt zum Mittelpunkt einer Themenbar erklärt wird. Es wirkt eher als hätten der stete Flirt mit dem Verbot und das Spiel mit dem Spleen Absinth über die Jahre zu einem Freak gemacht, der nun nicht mehr aus seiner Rolle kann. Das Alleinstellungsmerkmal als Zwangsjacke: Absinth hat ein Imageproblem und braucht dringend neue Narrative statt der nächsten Zirkuseinlage!

Immerhin zwei diesbezügliche Lichtblicke stellen der alteingesessene Absinth 66 und der heuer releaste Löwen Absinth dar. Während ersterer sich in einer Apothekerflasche (before it was cool) mit eigenwilligem Wappenetikett als uriges Elixier präsentiert, hat sich letzterer in einer nach innen reliefierten Schmuckflasche für feine Anlässe herausgeputzt. Ein guter Anfang, wobei das Gebinde allein freilich nur ein Anfang sein kann. Soll heißen: die Reise muss weitergehen. Absinth wir endlich da?

Credits

Foto: Mr. Fred

Comments (2)

  • Michael Widmer

    Super recherchiert & ein gelungener Beitrag, lieber Iven. Top!

    Herzliche Grüsse.

    Michael

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  • Markus K.

    Sehr schön kommentiert. Absinth fristet nach wie vor sein Nischendasein, ganz klar. Wer dem Geschmack- und der Wirkung verfallen ist, wird sicherlich verstehen was sich um das 18. Jahrhundert so alles abgespielt haben muss, aber seien wir mal ehrlich, das bisschen Thujon was hier im Umlauf war, ist ja wohl nichts gegen die wirklich harten Drogen die letztendlich zu Totalausfällen führten, sowie der minderwertige Alkohol. Gibt es denn nachweise wie hoch die Durchschnittsalkoholvolumen waren?

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