Oleo Saccharum: der himmlische Extrakt
Die Technik, Öle mit Hilfe von Zucker aus Zitronenschalen zu extrahieren, beschreiben bereits die Altvorderen der Barliteratur. Schon Jerry Thomas erwähnt im Punch-Kapitel seines Bon-Vivant’s Companion:
»To make punch of any sort in perfection, the ambrosial essence of the lemon must be extracted by rubbing lumps of sugar on the rind, which breaks the delicate little vessels that contain the essence, and at the same time absorbs it. This (…) is the grand secret, only to be acquired by practice.«
Über die antike Anweisung, Zuckerwürfel an Zitrusschalen zu reiben, dürften sich viele Barleute im Laufe ihrer Zeit mal gewundert haben. Irgendwie erscheint es belanglos und ertragsarm. Was für ein Irrtum! Auch wenn es beim ersten Lesen für den einen oder anderen schwer vorstellbar ist: Es funktioniert wirklich. Skeptikern sei an dieser Stelle gesagt: Ein Selbstversuch ist denkbar einfach. Allerdings handelt es sich um ein etwas mühseliges Unterfangen, das etwas Zeit in Anspruch nimmt und aus heutiger Sicht keine optimalen Ergebnisse erzielt. Dennoch eröffnet es die Möglichkeit wesentlich intensiverer Geschmacksdimensionen in Drinks.
Oleo Saccharum: von Thomas zu Terrington
Den eigentlichen Begriff Oleo Saccharum erwähnt Jerry Thomas in seinem Buch nicht. Eine sehr frühe Verewigung findet das Wort in William Terringtons großartigem Buch Cooling Cups and Dainty Drinks. Beim ersten Mal mag einem diese Idee noch unverhältnismäßig vorkommen – tatsächlich ist ein Oleo Saccharum aber auch in der heutigen Zeit eine der am meisten unterschätzten Zutaten and er Bar. Auch bei Terrington spielt der Oleo Saccharum erst im Punch-Kapitel eine wichtige Rolle. Aber auch für andere Drinks kann diese Geheimwaffe in vielen Fällen häufig einen Quantensprung in Sachen aromatischer Intensität bedeuten. Terrington geht im Vergleich zu Thomas‘ Empfehlung, Zuckerwürfel an der Schale von Zitrusfrüchten zu reiben, noch einen Schritt weiter. Seine Ausführungen sind zwar alles andere als elegant, aber effektiv:
»For making Punch – in fact, in everything in which lemons are used – the peel should be cut very thin, by reason that the flavour and scent, which constitute its most valuable properties, reside in minute cells, close to the surface of the fruit, so, by slicing it very thin, the whole of the minute receptacles are cut through, and double the quantity of the oil is obtained; […] pound the peel into a stiff dry paste in a marble mortar, with sufficient sugar , and preserve it for use, closely pressed in a tightly covered jar. […] Begin by paring the rinds of 30 lemons very thin; pound them in a mortar with sufficient sugar to form a dry stiff paste; strain the juice; collect the pips, which put in a saucepan, and pour on them a pint of boiling water; keep hot, so as to draw out the thick mucilaginous flavour; mix together and strain clear, adding a little boiling water to the remains in the strainer; when ready, taste the sherbet; add more acid, or sugar, if required […]«
Dem Gaumen trauen – nicht dem Rezept
Neben der inflationären Verwendung von Satzzeichen fallen hier noch einige weitere, wesentlich interessantere Dinge auf: Generell sehr erfreulich ist zunächst die Anweisung, das Sherbet zu probieren und bei Bedarf zu balancieren. Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: Bartender sollten ihrem Gaumen trauen, nicht dem Rezept.
Was die eigentliche Zubereitung des Sherbets betrifft, finden sich mehrere wichtige Hinweise. Erstens ist es wichtig, die Zitrusfrüchte sehr dünn und ohne Teile der weißen Unterhaut zu schälen. Aus zwei Gründen: Neben der Vermeidung des bitteren Aromas, das den weißen Schalenteilen eigen ist, verdoppelt man so außerdem die Fläche, von der die Öle extrahiert werden können. Deshalb auch die Verwendung von Streuzucker anstelle von Zuckerwürfeln. Er bedeckt die Zesten von allen Seiten und nimmt auf diese Weise die maximale Menge an Ölen auf. Je mehr Öle extrahiert werden, desto besser – bei einem guten Oleo Saccharum handelt es sich geradezu um einen öligen Zuckerbrei.
Terringtons Anweisung, auch noch die Kerne auszukochen um weitere Aromen zu gewinnen, kann hingegen mit gutem Gewissen vernachlässigt werden.
Oleo Saccharum
Zutaten
fein abgezogene Zesten von 6-7 Limetten
250 g feiner, weißer Zucker
Zubereitung
Die Zesten und den Zucker in einem robusten, verschließbaren Gefäß vermischen und mit einem Muddler gründlich zerdrücken. Für mindestens 24 h verschlossen ziehen lassen und dabei gelegentlich verrühren.
Nach der Ziehzeit hat der Zucker im besten Fall so viel Öl aufgenommen, dass er die Konsistenz eines krümeligen Breis hat. Die Zesten entfernen und möglichst allen Zucker von ihnen abstreifen. Zesten ggf. mit sauberen Händen über dem Zucker ausdrücken.
Der fertige Oleo Saccharum (Ölzucker) kann als klassisches Süßungsmittel für zahlreiche Drinks, Cocktails und Punches verwendet werden. Ebenso empfiehlt er sich aber zur sofortigen Weiterverarbeitung zu einem Sherbet oder Cordial.
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Bei entsprechender technischer Ausstattung empfiehlt es sich, die Zucker-Zesten-Mischung nach dem Zerdrücken in einem geeigneten Beutel zu vakuumieren. Dieses Verfahren verstärkt die osmotische Wirkung des Zuckers, was wiederum zu einer stärkeren Extraktion führt. Um das Verfahren nochmals effektiver zu gestalten, kann die Extraktion in einem nicht zu heißen (ca. 55°C) Sous-Vide-Bad durchgeführt werden.
Warum eigentlich Oleo Saccharum?
Die Antwort liegt wie so oft in der Historie. David Wondrich weist in seinem wegweisenden Buch Punch: The Delights (and Dangers) of the Flowing Bowl darauf hin: „Punch was born before the column still.” Das bedeutet, dass es sich bei Punches originär nicht um leichte Drinks mit verhältnismäßig schlanken Spirituosen wie etwa Vodka, leichtem Rum oder London Dry Gin als Basis handelte, sondern um Destillate, die über „the richer textures and bigger flavors characteristic of the products of the pot still“ verfügten.
Punches wurden historisch gesehen immer mit „Aromenmonstern” zubereitet: Mit kräftigen Rums aus den Pot Stills der Karibik, intensiven Cognacs (die noch im 19. Jahrhundert nicht über die Eleganz heutiger Brandies aus dem Westen Frankreichs verfügten), mit malzigem Genever und wuchtigen Arracks. Diese Spirituosen bildeten in der Regel die Basis für Punches. Solche Zutaten vertragen, ja brauchen aromatische Gegen- bzw. Mitspieler. Und genau hier ist ein Oleo Saccharum gefragt. Ein Ölzucker, der mit Zitronenschalen zubereitet wurde und anschließend mit Zitronensaft vermischt wird, ist um ein vielfaches zitroniger, er transportiert schlicht mehr Aroma. Diese Intensität der Aromen geht mit körperreichen Basisspirituosen eine intensive Liaison ein und lässt jeden Punch (und andere Cocktails) erst die Grenze von „gut“ zu „großartig“ überschreiten.
Vom Oleo Saccharum zum Sherbet
Der Begriff Sherbet, auf den man im Punch-Kontext immer wieder trifft, ist etwas irreführend. Mitnichten ist ein Sorbet oder eine Limonade gemeint. Es handelt sich um eine Art Sirup, der aus einem Oleo Saccharum gefertigt wird. Die Herstellung eines Sherbets ist unkompliziert. Generell finden sich zwei gängige Methoden: Entweder kombiniert man den fertigen Oleo Saccharum mit Wasser, bereitet also eine Art klassischen Sirup zu; oder aber man vermischt ihn direkt mit Saft (i.d.R. mit dem Saft der Frucht, von der auch die Schale stammt). Dabei ist es ratsam, den Saft vorher gründlich zu sieben.
Der Vorteil: Die verwendeten Zesten lassen sich nach dem Kochen aus dem Sherbet entfernen. Je nach hergestellter Menge bzw. aktuellem Bedarf lässt sich das Sherbet durch Zugabe von etwas Zitronensäurepulver (Apotheke) noch haltbarer machen. Da der Aufwand allerdings relativ gering ist, steht
Sherbet
Zutaten
150 g Oleo Saccharum (aus Zitrusfrüchten nach Wahl)
ca. 100 g gefiltertes Wasser
oder
ca. 100 g gesiebter und gefilterter Zitrus-Saft (aus der gleichen Frucht wie der Oleo Saccharum)
Zubereitung
Nach unserem Rezept einen Oleo Saccharum herstellen (dauert ca. 24 h), und die Zesten am Ende nicht aus dem Zucker entfernen.
Die fertige, ölige Zucker-Zesten-Mischung in einem (beschichteten) Topf langsam und nicht zu stark erhitzen, dabei nach und nach den Saft bzw. das Wasser mit einem Schneebesen einrühren.
Wenn der Zucker komplett aufgelöst ist vom Herd nehmen, etwas abkühlen lassen und abseihen sowie filtern. Das fertige Sherbet hält sich in einer sauberen Flasche für einige Tage im Kühlschrank.
Oleo Saccharum: Zitrus ist nur der Anfang
Denkt man etwas länger über diese Methode nach, wird schnell klar: Bei dieser Vorgehensweise handelt sich generell um eine probate Methode, um Aromen zu konservieren. Was mit Zesten funktioniert, gelingt natürlich auch mit anderen Zutaten: Ananas, Gurke, Rhabarber, Erdbeeren, Rosenblätter, Ingwer, um nur einige zu nennen. Der Vorteil: Ähnlich wie bei einer gewöhnlichen Mazeration, beispielsweise frischer Zutaten in Sirup, sind keine höheren Temperaturen involviert, die bestimmte Aromen womöglich beeinflussen können. Es handelt sich also um eine sehr schonende, gleichzeitig aber sehr ergiebige Art der Geschmacksextraktion.
Der so erzeugte aromatisierte Zucker kann dann bei milder Temperatur auf dem Herd unter Zuhilfenahme von Wasser zu Sherbets mit herausragenden geschmacklichen Qualitäten verarbeitet werden. Im Gegensatz zu alkoholischen Mazeraten, Perkolationen oder Sous-Vide-Infusionen sind diese Sherbets alkoholfrei und können somit auch in allen alkoholfreien Drinks und Cocktails zum Einsatz kommen.
Oleo Saccharum und Sherbet an der Bar
Heute stehen uns noch effizientere Methoden für die Zubereitung eines Oleo Saccharums zur Verfügung. Durch einfaches Vakuumieren des Zuckers mit den Zesten lassen sich noch bessere Ergebnisse erzielen, da das Öl der Schalen im Vakuum gar keine andere Möglichkeit hat, als durch osmotischen Druck in den Zucker überzugehen. Der große Vorteil dieses Verfahrens ist zudem die gesteigerte Haltbarkeit, die mit dieser Technik einhergeht – vakuumierte Beutel lassen sich hervorragend portionsweise herstellen und verfügen über eine gute Lagerfähigkeit.
Wem kein Vakuumiergerät zur Verfügung steht, braucht nicht verzagen: Die Old-School-Variante, bei der die Zesten in einem Gefäß einfach in Zucker eingelegt und gegebenenfalls leicht gemuddelt werden, funktioniert fast genauso gut und wird immerhin schon von William Terrington empfohlen. Dennoch sei jedem die lohnende Investition in ein solches Gerät empfohlen.
Was aus einem Gimlet oder Whiskey Sour werden kann?
Und ganz zuletzt: Ein mit Oleo Saccharum gekochter Lime Juice Cordial schlägt kommerzielle Produkte um Längen und hebt einen Gimlet in neue Sphären.
Es muss also nicht unbedingt ein Punch sein, in dem diese „ambrosial essence“ zum Einsatz kommt. Ein klassisches Sherbet, das auf mit Zitronen-Oleo-Saccharum basiert, kann auch in säurebasierten Drinks als eine Art Sirup verwendet werden – ein Einsatzversuch in einem einfachen Bourbon Sour wird Sie mehr als verblüffen. Die sehr erfreuliche aktuelle Tendenz, sich wieder verstärkt der Zubereitung von Punches zu widmen, ist, was die Verwendung eines Oleo Saccharum anbetrifft, nur der Anfang. Also ran an den Zucker!
Dieser Artikel stammt in seiner ursprünglichen Form aus dem Juni 2016 und wurde damals von Gabriel Daun verfasst. Die Redaktion aktualisiert den Text regelmäßig, zuletzt im Juli 2024.
Credits
Foto: Caroline Adam