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Die Barocke Blase, oder: Nach der Revolution

Manche sprechen von einem neuen Goldenen Zeitalter der Bar. Doch allmählich zeigt sich, dass das Wachstum der Barszene nicht auf ewig derart weiterläuft. Was jeder Unternehmer kennt, zeigt sich nun auch für die Bar: Wachsen kann zu Wachstumsschmerzen führen. Eine Analyse darüber, warum die Jugend der Barwelt Hilfe braucht. Und warum sie sich in Demut üben muss, damit sie die Revolution des Cocktails weiterführen kann. 

Ich stand als Jugendlicher ganz heftig auf alles, was mit dem Barock zu tun hatte. Damit meine ich nicht, dass ich mit Schnallenschuhen, gepuderter Perücke und buntem Gehrock durch die Gegend lief, aber es gab eine lange Phase meiner Adoleszenz, in der ich begeistert war von den idealen der barocken Kunst: Das Überbordende, Übersteigerte, das quasi Über-Lebendige, die Detailversessenheit um des Details Willen einerseits, andererseits in Spannung gesetzt durch die formale Strenge, die sich überall noch dicht manifestierte: In Lyrik, Musik, Architektur oder Kunst. Der Barock passt somit als Epoche auch ganz zu einem Jugendlichen (besonders zu einem mit künstlerischen Ambitionen), denn allein das genannte Spannungsverhältnis zeigt: Der Barock war eine Epoche, die nicht wirklich wusste, was oder wohin sie will. Passend dazu bedeutet der ursprüngliche, namensgebende portugiesische Begriff barocco auch „schiefe Perle“; irgendwie ästhetisch, irgendwie wertvoll, irgendwie erstrebenswert – aber andererseits auch außerhalb der Balance. Und das wiederum passt hier ganz gut. Denn es wird viel um Jugend gehen heute, um Unausgeglichenheit, um die Suche an sich, um Findungsphasen. Und um Revolution, dieses Kind der jugendlichen Seele.

Die Begriffe „Revolution“ und „Barock“ kamen vor einigen Wochen zusammen. Mitte Juli brachte das US-Kulinarikportal Thrillist einen vielbeachteten Artikel des renommierten Autors Kevin Alexander mit dem schmissigen Titel The Craft Cocktail Revolution ist Over. Now What? Alexander lieferte mit diesem Beitrag eine wichtige und umfassende Bestandsaufnahme, mit welchen Problemen und Mechanismen die Barwelt aktuell zu kämpfen hat. Denn es gibt Probleme. Und in der Mitte des Textes gab es ein Zitat des Barbetreibers Neal Bodenheimer aus New Orleans, der meint: „Die Bar-Industrie befindet sich derzeit in ihrer Barockphase.“

1. Die stille Revolution

Revolutionen werden meist mit Gewalt, Umsturz, Blut assoziiert. Revolutionen sind laut, sie brüllen, sie lechzen nach Beachtung. Ohne Beachtung und Lärm wären sie gar keine Revolutionen, denn sie sind eine Frage der Perspektive.

Ein zentrales Ereignis dessen, was Kevin Alexander als „Craft Cocktail Revolution“ bezeichnet, war jedenfalls alles andere als lärmend oder schrill. Es trug sich zu in der Silvesternacht 1999/2000, als die halbe Welt sich fragte, ob das befürchtete Y2K-Problem die Zivilisation in den Abgrund reißen würde. Nichts passierte (allerdings wurde Wladimir Putin – Stichwort Abgrund – in dieser Nacht erstmals russischer Präsident, aber das ist ein anderes Thema). In jener Nacht aber eröffnete ein recht kleiner Mann mit akuratem Seitenscheitel und melancholischen Augen seine erste eigene Bar in einer günstig gemieteten Immobilie in der Lower East Side von Manhattan. Die Bar war ein Gegenentwurf zu dem, was die allermeisten Menschen mit dem Begriff verbanden: Leise, dezent, mit einer Türklingel und strengen Benimmregeln versehen, überdies nur zu besuchen per Reservierung über eine halbgeheime, sich stetig ändernde Telefonnummer. Und zu trinken gab es Cocktails aus besten Spirituosen und ausschließlich frischen Zutaten. Es war Sasha Petraskes Vision einer Bar, er nannte sie „Milk & Honey“, und wenn auch die Bar still und leise öffnete und nie die große Bühne suchte, wenn auch Petraske selbst vor dem Milk & Honey so gut wie unbekannt in der Szene war, so trug die Bar doch zu einem Erdrutsch in der Barlandschaft bei.

Zwar hatten bereits etwa 10 Jahre davor Männer wie Dale DeGroff und Dick Bradsell damit begonnen, alte Rezepturen wiederzubeleben und in ihren Cocktails wieder auf frische Zutaten zu achten, der sogenannte „Craft Cocktail“ nahm also mit ihnen seinen Anfang. Aber Petraskes (der seit der ersten Lektüre von American Bar zu den glühendsten Bewunderern Charles Schumanns gehörte) Milk & Honey war nach heutigem Stand der Meilenstein, das Fanal, um die Bar an sich als einen Ort mit eigener Würde zu re-definieren. Einen Ort, der nicht einem Zweck untergeordnet ist, sondern der sich selbst dient, und der seine Würde auf den Menschen überträgt, der in ihm arbeitet: den Bartender.

2. Der Fackelträger

Natürlich steht ebenjener Bartender als abstrakte Person im Zentrum der oft als solche bezeichneten Revolution. Die vielen Menschen, die sich in den letzten rund 20 Jahren mit den neuen Idealen der Bar und der neuen Auffassung vom Cocktail identifiziert haben, sind letztlich die Träger des revolutioniären Feuers, das es braucht, um aus einem Funken den Flächenbrand zu entfachen. Ohne Bartender keine „Craft Cocktail Revolution”, so einfach ist das. Und von jenen Bartendern hat es seit Beginn des Umschwunges – grob betrachtet – drei Generationen gegeben. Und da beginnt ein Problem, das auch bei Kevin Alexander behandelt wird: Mit der dritten Generation kommen die Schwierigkeiten.

Die erste Generation der Revolution, wenn man so will ihre antiken Gründer, das waren jene Bartender, die um das Jahr 2000 herum damit begannen, die Ideale von DeGroff, Bradsell, Petraske, aber auch Charles Schumann wieder auf die alltägliche Arbeit zu übertragen. Vor allem aber nutzten diese Menschen das sich verbreitende Internet konsequent, um sich zu vernetzen. Und sie sahen sich wirklich als Revolutionäre: Heutige Berühmtheiten wie Xavier Padovani, Angus Winchester, Stan Vadrna, John Gakuru, aber auch deutsche Gestalter wie Joerg Meyer, Gonçalo de Sousa Monteiro, Bastian Heuser und MIXOLOGY-Gründer Helmut Adam waren es, die sich als Gegenbewegung positionierten – zu den Happy Hours, den Sahnebomben, den verkrusteten Verbandsregeln, erlassen von ergrauten Barmännern, die in bunten Spencerjacken Whiskey Sours mit Orangensaft schüttelten. Sie alle postulierten im Kern Petrakses Idee. Die Idee von der Würde der Bar, vom Bartender als würdigem Handwerker.

Und diese Idee war Gold Wert. Denn es gelang jenen Initiatoren, den Nachwuchs zu beigeistern, diejenigen, die den Beruf erst kennenlernten. Die Angehörigen der ersten Generation sind heute gefestigt – sie sind über 40, haben Familie, viele betreiben Bars, Agenturen oder Magazine, sind angesehen Buchautoren oder arbeiten in hohen Posten in Hotelfirmen oder bei Spiritiuosenherstellern. Die zweite Generation ist um die 30 oder drüber, sie bekommt gerade Kinder, eröffnet ihre ersten Bars, gründet Brauereien oder Brennereien. Manche sind Markenbotschafter oder arbeiten sonstwie für die Getränke-Industrie.

Die erste Generation – sie hat (schon längst mitten im Berufsleben stehend) einen unfassbaren Pool an Wissen erschlossen durch die Suche nach alten Büchern und Rezeptsammlungen, durch die Neuentdeckung von Werkzeugen und Arbeitstechniken. Die zweite Generation ist mehr oder minder am Beginn ihrer Gastronomiezeit mit den revolutionären Gedanken der ersten in Kontakt gekommen. Sie kennt noch beide Seiten, denn am Anfang hat sich die Revolution gut versteckt (weswegen sie eigentlich aus begrifflicher Sicht eine Evolution oder Reform war). Sie kam bereits in den Genuss des neu erarbeiteten Stoffs und hat ihn schon mit einer anderen Selbstverständlichkeit aufgenommen. Und dann kam die dritte Generation.

3. Die Dritte Generation

Sogenannte Dritte Generationen einer bestimmten Bewegung haben es oft schwer. Sie hängen in irgendetwas mit drin, ihnen fehlt aber oft schon ein konkreter Bezug zu den Initiatoren dessen, worauf sie sich beziehen. So war das mit der RAF, so ist es oft mit Leuten, die einen Migrationshintergrund haben. Die dritte Generation der Bar-Revolution ist es auch, die Kevin Alexander als diejenige ansieht, die für Probleme sorgt. Seine These: Die Barbranche ist im Zuge ihres Wachstums derart schnell explodiert, dass es nun nicht mehr genügend Nachwuchs gibt, um all die ambitionierten Bar-Projekte adäquat mit Personal auszustatten. Er sieht den klassischen Fall von der Revolution, die ihre Kinder frisst. Und natürlich ist an dieser Diagnose ein wahrer Kern. Die Zahl „guter“ Bars hat sich in den letzten zehn bis 15 Jahren dermaßen vervielfacht, dass es ein Ding der Unmöglichkeit wäre, sie alle mit Weltklassebartendern auszustatten. Niemand kann so viele Bartender gebären. Zudem ist mittlerweile ein Punkt erreicht, an dem die Branche so groß ist, dass die beiden Großwildjäger namens Spirituosenindustrie und Hotelkonzerne in der Savanne des Nachwuchses wildern. Und ganz objektiv: Es scheint irrealistisch, dass man einen 23-Jährigen, der ein Jahr Commis in einer bekannten Bar gewesen ist, zum Barchef eines neuen Betriebes macht. Doch sowas kommt vor.

Doch Alexander begeht einen tiefen diagnostischen Fehler. Er sieht dieses Problem als naturgegeben an. Sprich: Es ist für ihn unumstößliche Wahrheit, dass ein vergleichsweise junger Bartender keine Bar leiten kann. Doch das Problem liegt woanders. Wo? Im Prinzip liegt es im Barock. Denn die dritte Generation der revolutionären Bartender ist die Generation des Barock, die Neal Bodenheimer meint. Und sie hat ein Problem mit sich. Sie weiß nicht, wohin sie will.

Dabei hatte sie die besten Voraussetzungen. Im Gegensatz zur zweiten Generation sind ihre Angehörigen in vielen Fällen von Beginn an entweder mit dem neuen Wissen des Berufsbildes sozialisiert und ausgebildet worden oder aber sie hatten wenigstens einen vollkommen anderen Zugang zum Fachwissen. Es macht mit Blick auf die Verfügbarkeit von Wissen einen geradezu galaktischen Unterschied, ob man 2003 oder 2013 in den Bar-Beruf eingestiegen ist.

4. Verloren im Detail

Doch das überbordende Wissen kann zum Fluch werden, oder vielmehr der Umgang damit. Es ist reiner Irrsinn zu erwarten, dass ein Bartender, der erst zwei, drei, vier Jahre im Beruf steht, mit allen Getränkegattungen und Arbeitstechniken wirklich vertraut ist. Doch das Informationsgewitter aus Magazinen, Blogs, Gesprächen und Sozialen Netzwerken suggeriert das Gegenteil. Es erweckt den Eindruck, als müsse jeder junge Bartender bereits in allen Tiefen erfahren und vertraut sein mit Sous Vide, Cold Drip, Fassreifung von Cocktails, Fat Washing und Rapid Infusion. Ein Ding der Unmöglichkeit. Das Ergebnis sind Barkarten und Cocktailrezepte, die wie Ikarus mit Wachsflügeln der Sonne zu nah fliegen und die schließlich zu Noden stürzen. Und sogar, wenn man einen mehrstündigen Workshop zur Fasslagerung bei Jeff Morgenthaler oder Darcy O’Neill besucht hat, die sich seit über einem Jahrzehnt mit der Materie befassen, dann hat man davon noch lange keine Ahnung. Das wäre ungefähr so, als würde man sich ein paar Mal das Halleluja aus Händels Messiah und den Frühling aus Vivaldis Le Quattro Staggioni anhören und danach behaupten, man habe Musikwissenschaft mit Schwerpunkt Barock studiert.

Das Wissen, zu dem die Dritte Generation Zugang hat, ist Gold Wert, doch es droht, zum Gold des König Midas zu werden, der so reich ist, dass er darin ertrinkt. Es wird an manchen Stellen zum barocken Detail um des Details Willen, während das große Ganze aus den Augen verschwindet. Und dieses Problem betrifft vor allem die Dritte Generation, die zu schnell zu viel wollte und vor allem durfte. Ich habe in den letzten Jahren zahllose Gespräche mit Barbetreibern geführt, die sehr jungen Bartendern früh eine leitende Position gegeben haben – die meisten haben grässliche Erfahrungen gemacht. Einer kaufte für die Bar tatsächlich frische Trüffeln ein, nur um sie für ein Foodpairing (!) zu verarbeiten. Der nächste versenkte kistenweise mittel- oder gar hochpreisige Spirituosen in halbgaren Infusions- und Fassreifungsversuchen, von denen sich viele als unbrauchbar herausstellten. Ein dritter berichtet von einer ambitionierten Karte, in der jeder Drink eine hausmegachte Zutat verlangte, während der junge Barchef aber an der simplen scheiterte, einen Whiskey Sour nach den Vorlieben eines Stammgastes zu balancieren. Der nächste wiederum erzählt von der Zusammenstellung eines neuen Barteams und jungen Barleuten, die nach wenigen Jahren Tätigkeit für eine simple Bartenderstelle geradezu Managergehälter erwarteten. Angesprochen auf Mängel, sind die Reaktionen fast immer identisch: Man habe schließlich schon in Bar X gearbeitet oder den zweiten Platz bei Wettbewerb Y gewonnen. Als hätte der Barbesitzer davon etwas. Die Dritte Generation, das ist ein eminentes Problem, denkt am allerwenigsten kaufmännisch. Sie ist mit sich selbst beschäftigt. Da kann sie noch so viel davon reden, dass sie sich auf ihre Gastgeberrolle konzentriert. Sie hat – salopp formuliert – einen ganz guten Drink gemacht und will nun eine Bar leiten. Aber eigentlich kümmert sie sich viel zu viel um ihre Instagram-Story. Und dann geht sie nach einem halben Jahr schon wieder in die nächste Bar, weil sie meint, dass der Chef, der ihr eine Chance gab, ihre Arbeit nicht schätzt. Sie sieht sich verkannt, weil man vor ihr Ernsthaftigkeit, Engagement, Fleißt, einen langen Atem und Bescheidenheit erwartet. Die von Petraske installierte Würde, sie hat einen sehr leisen, aber wichtigen Bestandteil: er heißt Demut.

5. Das ist Versailles!

Und genau diese mangelnde Demut vieler Nachkommen der Revolution rührt aus den Verlockungen des Heute. Die Öffentlichkeit der Branche ist gepflastert aus Bildern und Begehrlichkeiten. Denn junge Bartender blicken – und das ist ganz normal – auf zu den Granden, den Identifikationsfiguren der Szene. Sie sehen das Foto eines Alex Kratena, der in der Business Class von London nach San Francisco fliegt, sie sehen Nico DeSoto beim Champagnertrinken in Tokio, sie sehen den unfassbaren Aufwand, den sich Marian Beke mittlerweile für einen Drink erlauben kann, die statuenhafte Eleganz eines Ago Perrone hinter seinem Martini-Trolley oder einen Ryan Chetiyawardana mit drei Spirited Awards in den Händen. Und sie denken sich: Das will ich auch, jetzt! Sie sehen nicht die oft jahrzehntelange Arbeit dahinter, die Ochsentouren, die Quälereien als Barback, das Kistenschleppen und den Schweiß. Sie sehen nicht, wie ein heute weltbekannter Eigentümer mehrerer Bars im ersten, finanziell schwierigen Jahr jeden Tag um vier Uhr morgens mit schweren Beinen noch die Toiletten seines ersten Ladens selbst geputzt hat, nur um nach ein paar Stunden Schlaf am Schreibtisch die Buchhaltung zu erledigen. Sie fangen absurderweise an zu glauben, eine Karriere als Bartender bestünde aus einer Aneinanderreihung von Reisen zu Bar Shows, Masterclasses, Freidrinks, Wettbewerben, Brennereibesichtigungen, Gastschichten und Preisverleihungen. Der Hashtag #Bartenderlife zum Flughafenselfie ist die vielleicht größte Geißel, die unserer Branche in den letzten fünf Jahren geschadet hat. Denn ein Bartenderlife sollte vor allem an einem Ort stattfinden: Hinter der Bar, an fünf oder sechs Tagen in der Woche. So, wie jeder andere Handwerksberuf auch an einem Arbeitsplatz stattfindet.

6. Konterrevolution?

Um zu einem Schluss zu kommen, auch zu einem Widerspruch in Richtung von Kevin Alexander: Er sieht das Problem darin, dass der junge Nachwuchs nicht in der Lage ist, den Bedarf an guten Bars zu bedienen und zu pflegen. Doch damit liegt er falsch. Der Nachwuchs ist dazu sehr wohl in der Lage. Aber er muss seine Gewohnheiten anpassen und sein Weltbild überdenken. Alexander schiebt die Schuld der Jugend an sich zu, nicht der Mischung aus jugendlichem Leichtsinn und extern fabrizierten Versuchungen. Denn neben den oben genannten handwerklichen Problemen von Barbetreibern mit dem Nachwuchs gibt es als weitere Schwierigkeit das Weglaufen vor Kritik. Es manifestiert sich in den vielen jungen Bartendern, die alle sechs Monate einen neuen Job beginnen. Ein erfahrener Barbesitzer, der händeringend nach Personal sucht, brachte es auf den Punkt: „Ich weiß, dass es viele gibt, die bei mir arbeiten möchten. Aber die möchte ich nicht.“

Auch die sogenannte „Industrie“ wird mit der Zeit einen realistischeren Blick entwickeln. Nicht alle der gewaltigen Programme und Wettbewerbe werden Bestand haben, weil die Entscheider irgendwann sehen, das sie unheimliche Beträge für Bartenderbespaßung investiert haben. Vielleicht auch, weil sie einsehen werden, dass sie den jungen Bartendern ein falsches Bild davon serviert haben, wie Wirtschaft funktioniert.

Die Revolution wird ihre Kinder niemals fressen, denn die Revolution an sich war und ist wohlmeinend und gut. Sie hat mit Inhalten angefangen. Zwei Inhalte davon waren der wirkliche, echte, gute Cocktail und die neue Würde des Bartenders – aber sie braucht mehr, um auf lange Zeit existieren und sich fortentwickeln zu können. Sie braucht Überbau und Fundament aus Beständigkeit und Fleiß, aus Selbstkritik. Und Selbstkritik findet man nicht bei Instagram oder Facebook. Es ist an den Kindern der Revolution, sie zu bewahren und ihr mit Respekt zu begegnen. Die Kinder müssen dafür sorgen, dass aus dem aktuellen, noch prunkvollen Barock – dem Mit-Sich-Selbst-Beschäftigt-Sein – nicht irgendwann ein krachender Untergang aus selbstherrlichem Absolutismus und Bankrott wird.

In Alexanders Text gibt es noch ein zweites wichtiges Zitat, es stammt vom erwähnten Jeff Morgenthaler: „Wir haben den 16-Dollar-Cocktail bewältigt. Wie sieht es mit der 8-Dollar-Version aus?“ Und er hat Recht. Der 16-Dollar-Cocktail – das ist Barock in seiner reinsten Form. Überbordend, pompös, an sich unnötig, aber eben eine Zeit lang schön und gut. Doch das Wissen darum, dass man mit dem weniger glamourösen, aber prinzipiell genauso köstlichen 8-Dollar-Cocktail auf lange Sicht vielleicht besser fährt – das ist die Aufklärung. Die Erkenntnis, die ratio, die sich irgendwann unbedingt an den Barock anschließen muss.

Ich höre heute immer noch gern Barockmusik. Aber eigentlich nur noch Bach. Der wusste nämlich auch, was Demut ist. Und er war auch besser als Händel, dieser Komponist gewordene 16-Dollar-Cocktail.

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus der aktuellen MIXOLOGY-Ausgabe 5/2017. Informationen zu einem Abonnement gibt es hier.

Credits

Foto: Eugène Delacroix – La liberté guidant le peuple (1830) via Wikimedia

Comments (7)

  • Thomas Zilm

    Oh Herr Wrage. Ein heißes Eisen, welches Du da anpackst. Stilistisch feingliedrig und in der Analogie – das mit der RAF übersehen wir mal – äußerst … passend.
    Die Frage, oder besser die zu erfahrende Karthasis und der Weh dorthin sind nach der Diagnos jedoch um ein Vieles spannender. Nur wie. Lust auf einen Kaffee? 😉

    reply
    • Robert

      Das mit der Demut verstehe ich nur halb. Auf der einen Seite wird anscheinend dringend fähiges Personal gesucht, auf der anderen Seite soll das aber keine Forderungen stellen dürfen? Sicher ist Gastronomie nicht immer hochprofitabel, aber haben sich da nicht beide Seiten etwas verkalkuliert? Wenn Bartender Wettbewerbe gewinnen, dann halte ich das für vermarktbare Qualitätsmerkmale, die langfristig entsprechend vergütungswürdig sind. Das soll sich natürlich alles in Balance halten und niemand sollte erwarten etwas umsonst zu bekommen. Vernunft/Besonnenheit finde ich aber passender als Demut. Ich selbst arbeite in einer völlig anderen Industrie und wer sich dort demütig zeigt, wird im Grunde nur ausgebeutet.

      reply
      • Redaktion

        Lieber Robert,
        danke für Deine wichtige inhaltliche Anmerkung. Tatsächlich habe ich mit dem “Demut”-Begriff auf das auch von Dir erwähnte Konglomerat aus Vernunft und Bescheidenheit angespielt. Diese beiden Attribute gehören für mich zum Kanon eines erweiterten Verständnis von Demut definitiv dazu. Doch ich habe das Wort durchaus mit Bedacht gewählt: Demut – und zwar im klassischen Sinne, nicht aber aber in jenem von “demütigen” – ist niemals verkehrt. Sie sollte gerade am Anfang einer jeden Laufbahn zu den wichtigen Eigenschaften gehören: Sie impliziert neben Vernunft und Bescheidenheit vor allem auch Aspekte wie Respekt gegenüber bestehendem Wissen und gestandenen Akteuren, sie schützt vor manchmal zu wildem Ungestüm und wirkt erdend. Niemals darf sie natürlich in einen blinden, sich strikt unterordnenden Gehorsam umschlagen. Das wiederum würde den Fortschritt blockieren und einen musealen Zustand herbeiführen. Da ich selbst aus akademischer Sicht der klassischen Geisteswissenschaft komme, kann man meinen Demut-Begriff wohl am besten mit einer “wissenschaftlichen” bzw. humanistischen Demut umreißen – also ein bewusster, balancierter Umgang mit früherem, heutigem und potentiellen fortschrittlichen, künftigen Wissen. Dazu gehören dann Geduld und Umsicht sowie der bewusste Impetus, sich selbst als Individuum in Teilen nicht zu sehr über den Beruf und seine Entwicklungen zu stellen (das betrifft dann freilich auch alle älteren Beteiligten).
        Dazu gehört dann auch die Bescheidenheit – um Dein Beispiel aufzunehmen –, zu bedenken, dass ein Bartender, der Wettbewerbe gewonnen hat, deswegen nicht erwarten kann, von seinem Chef besser (auch monetär besser) behandelt zu werden als andere Mitarbeiter. Denn der Betrieb hat davon im Allgemeinen nichts. Ein Wettbewerb ist schön – er bietet seinen Teilnehmern (und vor allem dem Gewinner) zahlreiche Möglichkeiten der Vernetzung, Internationalisierung und Eigenwerbung. Aber jeder gute Bartender und erst recht Barbetreiber weiß, dass ein Sieg bei einer Competition nichts oder nur in sehr geringer Weise etwas darüber aussagt, ob jemand den Job wirklich gut beherrscht. Denn der Beruf findet, exakt so wie ich schreibe, nicht auf einer Bühne statt, sondern in Vollzeit hinterm Tresen.

        Ich hoffe, damit meinen Ansatz ein wenig genauer erkären zu können.

        Viele Grüße aus der Redaktion
        // Nils

        reply
  • Thomas Zilm

    Oh Herr Wrage. Ein heißes Eisen, welches Du da anpackst. Stilistisch feingliedrig und in der Analogie – das mit der RAF übersehen wir mal – äußerst … passend.
    Die Frage, oder besser die zu erfahrende Karthasis und der Weh dorthin sind nach der Diagnos jedoch um ein Vieles spannender. Nur wie. Lust auf einen Kaffee? 😉

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    • Robert

      Das mit der Demut verstehe ich nur halb. Auf der einen Seite wird anscheinend dringend fähiges Personal gesucht, auf der anderen Seite soll das aber keine Forderungen stellen dürfen? Sicher ist Gastronomie nicht immer hochprofitabel, aber haben sich da nicht beide Seiten etwas verkalkuliert? Wenn Bartender Wettbewerbe gewinnen, dann halte ich das für vermarktbare Qualitätsmerkmale, die langfristig entsprechend vergütungswürdig sind. Das soll sich natürlich alles in Balance halten und niemand sollte erwarten etwas umsonst zu bekommen. Vernunft/Besonnenheit finde ich aber passender als Demut. Ich selbst arbeite in einer völlig anderen Industrie und wer sich dort demütig zeigt, wird im Grunde nur ausgebeutet.

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      • Redaktion

        Lieber Robert,
        danke für Deine wichtige inhaltliche Anmerkung. Tatsächlich habe ich mit dem “Demut”-Begriff auf das auch von Dir erwähnte Konglomerat aus Vernunft und Bescheidenheit angespielt. Diese beiden Attribute gehören für mich zum Kanon eines erweiterten Verständnis von Demut definitiv dazu. Doch ich habe das Wort durchaus mit Bedacht gewählt: Demut – und zwar im klassischen Sinne, nicht aber aber in jenem von “demütigen” – ist niemals verkehrt. Sie sollte gerade am Anfang einer jeden Laufbahn zu den wichtigen Eigenschaften gehören: Sie impliziert neben Vernunft und Bescheidenheit vor allem auch Aspekte wie Respekt gegenüber bestehendem Wissen und gestandenen Akteuren, sie schützt vor manchmal zu wildem Ungestüm und wirkt erdend. Niemals darf sie natürlich in einen blinden, sich strikt unterordnenden Gehorsam umschlagen. Das wiederum würde den Fortschritt blockieren und einen musealen Zustand herbeiführen. Da ich selbst aus akademischer Sicht der klassischen Geisteswissenschaft komme, kann man meinen Demut-Begriff wohl am besten mit einer “wissenschaftlichen” bzw. humanistischen Demut umreißen – also ein bewusster, balancierter Umgang mit früherem, heutigem und potentiellen fortschrittlichen, künftigen Wissen. Dazu gehören dann Geduld und Umsicht sowie der bewusste Impetus, sich selbst als Individuum in Teilen nicht zu sehr über den Beruf und seine Entwicklungen zu stellen (das betrifft dann freilich auch alle älteren Beteiligten).
        Dazu gehört dann auch die Bescheidenheit – um Dein Beispiel aufzunehmen –, zu bedenken, dass ein Bartender, der Wettbewerbe gewonnen hat, deswegen nicht erwarten kann, von seinem Chef besser (auch monetär besser) behandelt zu werden als andere Mitarbeiter. Denn der Betrieb hat davon im Allgemeinen nichts. Ein Wettbewerb ist schön – er bietet seinen Teilnehmern (und vor allem dem Gewinner) zahlreiche Möglichkeiten der Vernetzung, Internationalisierung und Eigenwerbung. Aber jeder gute Bartender und erst recht Barbetreiber weiß, dass ein Sieg bei einer Competition nichts oder nur in sehr geringer Weise etwas darüber aussagt, ob jemand den Job wirklich gut beherrscht. Denn der Beruf findet, exakt so wie ich schreibe, nicht auf einer Bühne statt, sondern in Vollzeit hinterm Tresen.

        Ich hoffe, damit meinen Ansatz ein wenig genauer erkären zu können.

        Viele Grüße aus der Redaktion
        // Nils

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