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Das Depero Rieti kombiniert Selbstversorgertum und Barkultur vor den Toren Roms

Veni, Vidi, Rieti: Wie das Depero Selbstversorgertum und Barkultur vor den Toren Roms kombiniert

Rieti ist ein kleines Städtchen knapp 100 Kilometer von Rom entfernt. Ein paar ideologische Einzelkämpfer kombinieren hier die Idee des Selbstversorgens mit zeitgenössischer Barkultur. Mit dem Depero, The Wanderer und Tukana haben sie drei Bars etabliert, ein Schulungs- und Austauschlabor für angehende Bartender:innen steht vor der Eröffnung. Wir waren vor Ort.

Rieti bei Rom
Rieti liegt 80 Kilometer nordöstlich von Rom

Den Cocktailreisenden muss man sich als Suchenden vorstellen, als Forscher, mit einem Schmetterlingsnetz und einer Botanisiertrommel, erratisch herumwuselnd auf der Suche nach neuen Pretiosen, so ein bisschen wie Lord Lindsay aus den alten Karl-May-Filmen.

Man macht das schon eine Weile, man hat die Standards und etliche Exoten in seiner Sammlung, und vielleicht ist man auch schon ein wenig zu verwöhnt, um sich von jedem Zitronenfalter aus dem professionellen Ennui locken zu lassen. Umso schöner ist es da, wenn man nichtsahnend um eine Ecke gebogen kommt und dann auf einem Felsen so ein ganz seltenes Viech hocken sieht, eines von denen, die man eigentlich lang ausgestorben glaubte. Genau das sind die Momente … Signore e signori, benvenuti a Rieti!

Das Depero ist Herzstück und Keimzelle des kleinen Gastro-Fürstentums
Das Depero ist Herzstück und Keimzelle des kleinen Gastro-Fürstentums
Depero Rieti: international ein Geheimtipp, national längst mit Preisen ausgezeichnet
Depero Rieti: international ein Geheimtipp, national längst mit Preisen ausgezeichnet

Aus der Zeit gefallen

Rieti ist ein pittoreskes kleines Städtchen mit weniger als 50.000 Einwohnern, etwa 80 km nordöstlich von Rom gelegen, und auch Wochen nach meinem ersten Besuch lässt mich das Gefühl nicht los, durch Zufall an einen jener mythischen Orte gelangt zu sein, wie etwa Rungholt oder Vineta oder da, wo Rip van Winkle nach seinem Schläfchen gelandet ist, mit dem Unterschied vielleicht, dass man, falls man sich zu sehr auf die Bars konzentriert hat, hinterher der Einzige ist, der um 20 Jahre gealtert wirkt.

Es ist aber tatsächlich so, dass Rieti ein wenig aus der Zeit gefallen scheint, und ich meine das im besten Sinne. In einer der Kirchen hat man einen Caravaggio entdeckt, der zwar vielleicht doch bloß ein Galli ist, da aber dennoch hängt wie andernorts ein Original von Müller-Lüdenscheidt. Das Four Seasons heißt hier noch Quattro Stagioni, im Stil mittlere Schaffensperiode Visconti eingerichtet; das Licht im Zimmer lässt sich vom Bett aus mittels eines Knopfes auf einem kleinen Plastikkästchen ausmachen; dann ist es allerdings genauso dunkel, als hätte das Alexa erledigt. Das Doppelzimmer für zwei Personen kostet 80 Euro pro Nacht, wofür man in Rom in einem Schlafsaal am Bahnhof unterkommt. Neben der alten Brücke über den glasklaren Fluss sieht man die Reste einer noch älteren Brücke; immer noch gut erkennbar die Spurrillen der antiken Fuhrwerke. Schon zu römischen Zeiten betrachtete man Rieti als Ort mit langer Vergangenheit: Rieti war schon für die Antike antik.

Das Adjektiv, das sich für so ein Städtchen aufdrängt, ist „verschlafen“, aber damit wird man dem Ort nicht gerecht. Zwar scheint es tatsächlich so, als würde man innerhalb von Minuten nach Betreten der Stadt entschleunigen in einem Ausmaß, das die Apple Watch zu einer Warnung wegen des verminderten Pulsschlags veranlasst; dennoch bietet das Städtchen viel mehr Stadt, als man auf Anhieb vermuten würde.

Chiara d’Orizo und Antonio Tittoni hauchten Rieti Barkultur ein
Chiara d’Orazio und Antonio Tittoni hauchten Rieti Barkultur ein

Depero Rieti

Via Terenzio Varrone, 36
02100 Rieti Italien

Hochklassige Bar ohne großstädtische Infrastruktur

Das liegt vor allem an einigen Urban-Dissidenten, für die ein Leben abseits der Großstadt-Hektik nicht bedeutete, ihre Ansprüche zurückschrauben zu müssen, in gastonomischer Hinsicht und auch sonst. Die Rückbesinnung auf die Grundbedürfnisse des Daseins kann ja schließlich nicht bedeuten, auf die heimische Siebträgermaschine verzichten zu müssen.
Gut, das Kaffee-Problem stellt sich in Italien eher selten, dafür aber sind andere Kleinstadtprobleme ziemlich universell: Wie kann ich ohne eine großstädtische Infrastruktur eine hochklassige Bar aufbauen? Was brauche ich, das ich vor Ort nicht finde? Habe ich überhaupt genug Publikum, das mein Angebot zu schätzen weiß?

Gerade in Gegenden abseits der touristischen Hauptschlagadern ist es ja doch auch leider oft so, dass sich neben der Ortssilhouette auch das Geschmacksprofil über Jahrzehnte hinweg nicht verändert hat; mit Schaudern erinnere ich mich an (entfernte) Bekannte, die nach einem Essen beim Italiener bemäkelten, dass es dieser nicht einmal geschafft habe, die Nudeln weich zu kochen.

Rieti bleibt in jeder Hinsicht al dente. Es nötigt schlicht Bewunderung ab, mit welchem Feingefühl Chiara d’Orazio, Antonio Tittoni und ihre Mitstreiter hier Neues mit dem vorhandenen Alten verbunden haben, so dass es nahtlos ineinander übergeht wie das Löffelbiskuit in den Mascarpone.

Depero, The Wanderer, Tukana

Herzstück und Keimzelle des kleinen Gastro-Fürstentums ist das Depero, benannt nach Fortunato Depero, einem Künstler des Futurismus, der nebenbei auch zusammen mit Davide Campari das legendäre Campari-Soda-Fläschchen entwickelte, wovon auch eine überdimensionierte Version im Lokal Zeugnis ablegt. Auch die Typo- bzw. Ikonographie des Depero hat Art Director Jean Philippe Vaquier dem Namensgeber nachempfunden, davon abgesehen ist man aber nach allen Richtungen hin ganz unbekümmert offen und schert sich wenig um stilistische Zwänge: Das Depero verkörpert eines jener Mischkonzepte, mit denen man sich in Deutschland oft so schwer tut. Auch da gibt es natürlich Unterschiede, aber manchmal hat man schon den Eindruck, dass der Kunde maximal die Bäckerei im Baumarkt akzeptiert, wenn es um die Sortenreinheit des Handels geht. Das Depero aber öffnet am späten Nachmittag, bietet neben dem klassischen Aperitiv auch eine herausragende und preislich unschlagbare Küche an (Burger und Pizza), gleitet zwanglos hinüber in den Barbetrieb und wird dann später zum Club, in dem die gesamte Umgebung vergisst, dass man nicht in Rom wohnt.

Ach ja, Rom: Zwar ist man da in einer knappen Stunde, aber die Distanz ist dennoch zu weit, um sich mit Eis jener Qualität beliefern zu lassen, das für eine gute Bar unabdingbar ist. Nach einigen Jahren der Zwischenlösungen gründet Tittoni zusammen mit einem Partner mal einfach eine eigene Eisfabrik, eine eigene orgiastische Hoshizaki-Phantasie, und beliefert nun seinerseits die gesamte Umgebung mit Klareis in allen Formen und Größen. Die Umgebung erweist sich als Standortvorteil: Das Wasser kommt rein, klar und kalt aus den Bergen, es muss nicht aufwendig gereinigt werden, und was schon kalt ist, braucht auch wenig Energie, um noch kälter zu werden.

Im Grunde gehen Tittoni und Partnerin Chiara d’Orazio nur einen Schritt weiter mit der Idee des Selbstversorgers. Ob nun Käse, Wurst oder Eis: Warum soll man kaufen und liefern lassen, was man doch eigentlich auch selbst machen könnte? Ohnehin bekommt das Depero mit dem The Wanderer (Typ klassische American Bar mit Whisky-Fokus) und dem Tukana (moderne Tiki-Drinks) noch zwei Geschwister, die ebenfalls versorgt werden müssen.

Dieser Cocktail nennt sich „Back to the Sea“
Der „Back to the Sea“
Der Space Odditity aus dem Depero in Rieti
Der „Space Odditity“

Schnittstelle zwischen Aperitif- und Barkultur

Alle drei Bars sind, jede auf ihre Weise, ebenso zarte wie ausdrucksstarke Vertreter ihrer Gattung; The Wanderer mit dem dunklen Holz und den klassischen Twists (viel Lokales zum Whisky, Bitter Fusetti, Feige, Fat Wash mit Regionalem) ebenso wie das Tukana, das gleichfalls den Schritt über die klassischen Rezepte hinausgeht (natürlich muss auch ein Negroni tikisiert werden), so dass auch den Traditionalisten unter den Nachbarn der Weg aus der Aperitif- und hinein in die Barkultur leicht gemacht wird. Das Depero selbst könnte und sollte auch genau so, wie es ist, in jeder Stadt der Welt bestehen können. Die Qualität muss sich vor niemandem verstecken.

Vielleicht ist das Umfeld in einer Stadt wie Rieti dafür verantwortlich, die Cocktails nicht so leicht über die Grenzbereiche des Untrinkbaren hinausgleiten zu lassen, wie das in den Metropolen hin und wieder geschieht, und es wäre ein Fehler, hochmütig auf einen nur scheinbaren Mangel an Experimentierfreude herabzuschauen: Der Aufbau einer allgemein akzeptierten Cocktailkultur in einer Stadt wie Rieti verdient mehr Respekt als die Frage, ob man die Thymusdrüse eines Axolotls besser fermentiert oder mazeriert. Hier in Regensburg arbeiten wir uns vermutlich noch die nächsten 30 Jahre daran ab, „Aperol“ und „Spritz“ wieder getrennt zu schreiben.

Schulungs- und Austauschlabor

Die Unruhegeister Rietis geben auch fürderhin noch keine Ruhe: Kurz vor der Eröffnung steht das „Studio Futura“, ein Schulungs- und Austauschlabor für angehende Bartender:innen unter Leitung des jetzigen Depero-Bartenders Luca Bruni, in dem man so ziemlich alles lernen und über alles reden kann, was in der Branche wichtig ist. Wie ein Landschulheim für hochbegabte Barleute. Rémy Savage wollte das in London umsetzen, einstweilen machen sie es jetzt in Rieti.

Mit neidloser Bewunderung schaue ich auf das, was in dieser kleinen Stadt möglich ist, in diesem latinischen Bamberg, und frage mich manchmal, warum nicht auch hier, bei mir. Bei aller Liebe zur Metropole zu sagen, die spinnen, die Römer, ich bin dann mal weg, ich kann das auch alleine. Bezahlbare Mieten, bezahlbares Leben, wundervolle Umgebung, gutes Essen, gute Cocktails …

Viel von der Erträglichkeit meines eigenen Lebens beruht auf einem alten, günstigen Mietvertrag, aber falls sich die Imponderabilität des Schicksals mal wieder als phantasievoll erweisen sollte: bitte, hier, offiziell mein Nachsendeauftrag, postlagernd einstweilen Depero Club Rieti, Via T. Varrone 36, zum zweiten Barhocker von rechts.

Eilt auch nicht.

Credits

Foto: Depero

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