Der Agaventempel La Punta ist die wahre Pilgerstätte in Rom
Das La Punta in Rom ist der Ort mit der möglicherweise umfassendsten Auswahl an Agavenspirituosen außerhalb des amerikanischen Kontinents. Es ist das Werk zweier Überzeugungstäter, die neben ihrer Auswahl an Tequila und Mezcal auch eine hervorragende Küche anbieten. Unser Autor Martin Stein muss bei der Frage Vatikan oder La Punta jedenfalls nicht lange überlegen.
Mexiko ist ein wunderschönes Land, liegt jedoch sehr abgelegen, aber wer das Herz von Mexiko erleben möchte – sprich, vor allem die Vielfalt seiner Agaven-Destillate – der kann seine Sehnsucht ohne die Kosten und Mühen eines Transatlantikflugs befriedigen, indem er einfach einen kleinen Abstecher nach Rom macht.
Ausgerechnet in Rom, neben den aurelianischen Mauern, den Wällen des Vatikans und dem Abwehrbollwerk der Mourinho-AS Roma steht ein echtes kleines Kastell der Tequila-Diaspora, ein Brückenkopf des Mezcal. Ich lehne mich mal etwas aus dem Fenster und behaupte, dass dieses Bar-Restaurant, das sich „La Punta“ nennt, der Ort mit der besten und umfassendsten Auswahl an einschlägigen Spirituosen ist, vermutlich in Europa, vielleicht sogar außerhalb der Amerikas.
Das La Punta wurde 2016 eröffnet
La Punta, benannt nach dem spanischen Ausdruck für den Mittellauf der Destillation, ist ein Geisteskind von Roberto Artusio und Cristian Bugiada, die ihrerseits ihre Wurzeln in zwei der wichtigsten und besten römischen Bars haben: dem Urgestein Jerry Thomas Project und dem quirligen Freni e Frizioni, das in der neuesten Liste der World’s 50Best Bars auf Platz 33 geführt wird. Übrigens: Die Produkte von El Professore stammen auch aus der Riege des Jerry Thomas Project. El Professore? Jerry Thomas? Klingelt’s? Bestehen noch Zweifel an der gustatorischen Expertise?
Artusio und Bugiada entdeckten bei einem gemeinsamen Mexiko-Aufenthalt ihre tiefe Liebe zu Land und Getränk und beschlossen daraufhin, dieser Liebe einen Platz in ihrer Heimatstadt zu errichten, und so wurde 2016 La Punta eröffnet, im Untertitel tiefstapelnd „Expendio de Agave“ genannt – Agavenladen. Die Auswahl allerdings entspricht tatsächlich eher einem Einzelhandel als einer Backbar – um die 800 Sorten werden angeboten, seltene und limitierte Editionen, teils selbst abgefüllt, in Kleinmengen von 50 bis 80 Litern. Nicht nur Oaxaca, nicht nur die klassischen Mezcal-Regionen, deren Verbund der offiziellen Herkunftsbezeichnung unterliegt, sondern auch ausgefallenere Destillate, die sich dann eben nicht offiziell Mezcal nennen dürfen, nichtsdestominder aber weitere wichtige Mosaiksteine der hierzulande in aller Regel ungekannten Vielfalt dieser Spirituose darstellen. Wenn die beiden von einem besonderen Mezcalero in Chihuahua Wind bekommen, dann fährt man da eben hin! In einem bestimmten Dorf gibt es noch zwei Flaschen einer lange verstorbenen Brenner-Legende? Auf geht’s, worauf warten wir noch.
Klischees haben Hausverbot
Betriebswirtschaftlich ist das alles in den seltensten Fällen zu rechtfertigen, aber ganz offensichtlich ist es wichtiger, dass sich solche Trips bezahlen lassen, als dass sie sich bezahlt machen. Ökonomisch bezahlt. Das Ergebnis jedenfalls macht aus dem Agavenladen eine wahre Pilgerstätte, die sicher nicht die unwichtigste ist in der an Heiligtümern nicht gerade armen Stadt. Außerdem lehrt sie, ganz katholisch, Demut, wenn auch kulinarisch ausgefeilter. Seinen 08/15-Agaven-Smalltalk kann sehr schnell in die Tonne treten, wer sich ein bisschen durch die Regale probiert, denn für so ziemlich jede Aussage, die Mezcal in ein Klischee pressen möchte, lässt sich hier ein Gegenbeispiel finden. Nein, Mezcal ist nicht immer rauchig. Wir haben haben ihn auch in käsig, fleischig, fruchtig, nussig, grasig, mild, brutal, frisch, schwer, agavenlastig und fast nicht als Agave erkennbar.
Legendär gute Küche hat das La Punta auch
Bei aller Vielfalt, die uns der Scotch beschert hat, von den Lowlands, Highlands, der Speyside hin zu den Inselwhiskies mit den heftigsten Torfbomben von Islay: Man wird sich eingestehen müssen, dass die geschmackliche Bandbreite der Agavendestillate noch um einiges weiter geht. Gut, beim Whisky kommt der Großteil des Geschmacks aus der Lagerung, bei der Agave kommt es auf die Sorte an (momentan etwa 50 zugelassene, wobei das keiner so genau weiß) und, viel mehr als beim Whisky, auf die Destillation und den Weg dorthin. Vergleiche sind ohnehin müßig, aber der Weite des Feldes sollte man sich bewusst werden, weil man ansonsten an die Spirituose herangeht wie ein amerikanischer Tourist, der glaubt, dass alle Deutschen Lederhosen tragen.
Man kann also sagen, dass ein Besuch in La Punta der reinste Bildungsaufenthalt ist, obwohl Trastevere, das umgebende Viertel, das lebhafteste Partyviertel der Stadt ist. Aber so sind sie, diese Mediterraneer: Da wird auch das Lernen zum großen Amüsement. Ich glaube, sogar die mexikanischen ExPats Roms nutzen La Punta, um sich fortzubilden. Apropos ExPats: Auch die Küche ist legendär gut, und wie immer ist es die Anzahl der Einheimischen, die in einem fremden Land ein Restaurant mit der ihnen vertrauten Küche besuchen, die Zeugnis über deren Qualität ablegt. Also gehen Sie ins La Punta, essen Sie da, trinken Sie da, und solange Sie keiner rauswirft, versuchen Sie auch, da zu übernachten.
Erfahrungen mit Leid erkaufen
Nach wie vor reisen die beiden Betreiber regelmäßig nach Mexiko, um weitere Schätze zu entdecken, zu heben und abzufüllen. Mittlerweile produzieren sie auch selbst mit lokalen Brenner:innen; eine Kollaboration mit den Meistern der etwas unterrepräsentierten Region San Luis Potosí hat bereits erste flüssige Früchte gebracht. Dabei geht es, wie schon angedeutet, nicht darum, La Punta größer zu machen: auch La Punta ist nur Mittel zum Zweck; die Bar ist die Kirche, in der die Liebe der Macher zum Land und seinen Produkten gepredigt wird. Lassen Sie sich bekehren; es ist sehr angenehm, auf diese Weise aus dem Dunkel ins Licht geführt zu werden. Gerade arbeiten sie in Mexiko auch noch an einer Dokumentation, um die Schönheit des Landes und seiner Produkte zu zeigen. Man kennt das ja aus der Werbung zur Genüge: Mein Auto schützt den Regenwald, mein Bier pflanzt Bäume in der Wüste, und mein Joghurt rettet Wale. Vielleicht ist es aber wirklich nicht übel, in La Punta Mezcal zu trinken. Das kann nur Gutes zur Folge haben.
Eine ernstgemeinte Warnung zum Abschluss: wenn Cristian Bugiada meint, er habe noch „zwei oder drei“ interessante Mezcals zu verkosten – das ist ungefähr so zu verstehen, als ob eine italienische Mamma meint, sie werde nur einen winzigen Happen auf den Tisch stellen. Man wappne sich, man gürte dem Wams, man stöpsle die Ersatzleber an den Blutkreislauf an. Sofern man am nächsten Tag mit dem Gefühl aufwacht, man sei in Mexiko, habe vermutlich einen Stierkampf bestritten und diesen nicht gewonnen, dann ist das nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen. Alle großen Erfahrungen dieses Lebens müssen mit ein bisschen Leid erkauft werden.
Wenn Sie also in Rom sind, und, nehmen wir an, es ist der letzte Tag, und Sie haben die Wahl zwischen einer Privataudienz beim Papst und einem Besuch in La Punta – tun Sie mir und sich selbst einen Gefallen und gehen Sie nicht Richtung Vatikan, sondern nach Trastevere. Päpste kommen und gehen, aber diese eine Flasche, die da heute noch in La Punta steht – die könnte morgen schon weg sein.
Credits
Foto: La Punta