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Liköre in der Bar: Amaro nach italienischem Vorbild

Liköre in der Bar, Teil 5: Amaro nach italienischem Vorbild

Wir beginnen das letzte Drittel unserer Serie über die wichtigsten Bar-Liköre. Nachdem es bereits zitrusfruchtig, beerig und sogar klösterlich gewesen ist, liegt auf der Hand, was nun kommen muss: Es muss bitter werden, denn die Großgattung der Amari wartet noch auf ihre Bearbeitung. Den Anfang machen die klassischen Stilistiken nach vorwiegend italienischem Vorbild.

Mit diesem Artikel biegen wir bereits auf die Zielgerade unserer Serie über Liköre an der Bar ein. Diesmal und in kommenden Text soll es um Bitteres gehen, sprich: Amaro, Aperitif-Bitter und weitere Spielarten dieses Felds. Und da es sich um ein komplexes Feld handelt, strecken wir den Platz auf zwei Beiträge. Und wagen ein paar komplexe Sätze.

Definitionsstatus: Es ist kompliziert

Was ist ein Amaro? Die schlechte Nachricht vorweg: Leider ist diese Frage nicht eindeutig zu beantworten. Amaro (Plural Amari) ist das italienische Wort für Bitter. Es handelt sich – im weitesten Sinne – um einen bitteren, gleichzeitig auch mehr oder weniger süßen Kräuterlikör, oder besser: Halbbitter, der durch die Mazeration und/oder Destillation von Wurzeln, Zitrusfrüchten, Gewürzen, Rinden, Blüten und anderen Botanicals in einem meist auf Trauben (viele Amari werden von Grappa-Produzenten hergestellt, aber auch Weizen, Mais oder andere Grundstoffe sind denkbar) basierenden Brand oder einem Wein komponiert wird. In der Regel wird dann mit Zucker(sirup) gesüßt, anschließend gefiltert und der »fertige« Amaro oftmals, nicht immer und nicht zwingenderweise, einer Reifung unterzogen – mal im Fass, mal nicht –, die es dem Blend erlaubt, weitere Balance und mehr Komplexität zu entwickeln.

Auch wenn unser übergeordnetes Thema Likör ist, können wir dessen rechtliche Definition im Themenkomplex Amaro bzw. Bitter nicht zu ernst nehmen. Nicht jeder Amaro nennt mindestens 100 g Zucker pro Liter sein Eigen. Dennoch verfügt er in den meisten Fällen über eine gewisse Süße, und nicht zuletzt werden vielen von ihnen im Drink wie ein Likör verwendet.

Amari sind in aller Regel keine Overproof-Monster, sondern kommen mit 16 bis 40 % Vol. in die Flasche. Ihr Geschmacksprofil reicht von knochentrocken bis zuckersüß, ist entweder zitrisch, kräutrig oder holzig, stark mentholisch oder gar medizinisch, von eher hintergründiger über moderate bis hin zu hochintensiver Bitterkeit. Dennoch existieren keine klaren Regeln was Produktion, Herkunft und Zutaten angeht. Ein Amaro unterliegt keinen Auflagen und kann überall auf der Welt aus eigentlich jeder beliebigen Zutat hergestellt werden. Das macht es etwas unübersichtlich, um nicht zu sagen: unbefriedigend. In jedem Falle ist es deshalb schwierig, fast unmöglich, eine verbindliche Definition für die Kategorie zu formulieren.

Nicht einmal auf die Frage, wie Amaro traditionellerweise serviert wird, gibt es eine eindeutige Antwort: Je nachdem, wo mal sich in Italien, seinem Mutterland, aufhält, bekommt man ihn anders kredenzt – ein Café serviert den Amaro anders als die Bar direkt nebenan, und das Restaurant eine Straße weiter macht es auch schon wieder anders. Weder über die eingeschenkte Menge, welches Glas das richtige ist, ob er bereits vorgekühlt, auf Eis oder in Zimmertemperatur kommt, ob er mit Zitrone oder Orange (Spalte oder Zeste?) serviert werden sollte, herrscht Einigkeit. Belastende, fragwürdige, grenzenlose Freiheit! Andererseits heißt das auch: Es gibt keinen falschen Weg, Amaro zu trinken. Ob neat, on the rocks, mit einem simplen Filler (meist Soda oder Tonic Water, manchmal auch Ginger Ale), als Modifier oder selbst als Basis in Cocktails (Ein Amaro Sour mit 2 Teilen Amaro der Wahl und einem Teil Bourbon, bei dem, je nach Süße des verwendeten Amaros der Zuckeranteil leicht reduziert wird, stellt einen guten Ausgangspunkt dar, um sich dem Thema zu nähern) – alles ist ist möglich und natürlich auch erlaubt!

Während in den Vereinigten Staaten mittlerweile ein veritabler Amaro-Hype mit Bars, die ihren Schwerpunkt auf diese Kategorie gesetzt haben, grassiert, lehnen jüngere Italiener:innen die bitteren Digestive, so meine Erfahrung, bemerkenswerterweise oftmals ab – als Produkte, die ihre Großväter trinken. Es erinnert ein wenig an das Phänomen, das Bourbon vor wenigen Jahrzehnten noch zuteil wurde. Zu unmodern, zu verstaubt muten die regionalen Köstlichkeiten oftmals den jüngeren Italiener:innen an. Schade, denn sich in die versatile Welt der Amari einzutrinken macht Spaß!

Der Versuch einer Einteilung

Es existieren trotz des Mangels an offiziellen Regeln verschiedene Möglichkeiten, Amari einzuteilen: Grad der Bitterkeit und Süße, Körper, aromatische Intensität, Alkoholstärke, Anlass (Pre- oder After-Dinner), Farbe und Herkunft sowie die alkoholische Basis. Am probatesten erscheint nach umfassender Betrachtung jedoch eine Unterteilung in unterschiedliche Stilistiken, teilweise basierend auf den Zutaten, also auf den hauptsächlich verwendeten bzw. am prominentesten eingesetzten Botanicals. Meine Einteilung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt (tatsächlich ist mir bewusst, dass ich gleich mehrere Nischenkategorien dreist unterschlage), die aber zumindest dem Rahmen und möglichen Umfang dieses (und des folgenden) Artikels angemessen ist lautet:

_ Light & Medium
_ Aperitivo Bitters
_ Weinbasiert
_ Fernet
_ »Alpine«
_ Carciofo
_ Rabarbaro
_ Miscellaneous.

Wir betrachten heute die ersten drei Kategorien, dem Rest widmen wir uns im folgenden Teil 6 dieser Serie.

Medium. Nicht medioker.

Das größte, leider aber auch sehr diffuse Feld des Amaro-Komplexes ist jenes der Medium- und Light-Amari. Grundsätzlich lässt sich sagen: Es handelt sich um erschmeckbar bittere, durchaus aber gleichsam süße Amari, quasi jene, die für die gesamte Kategorie am repräsentativsten sind. Light Amari sind zitruslastig, verfügen über etwas weniger Alkohol, sind nicht zu dunkel und geschmacklich grundsätzlich weniger intensiv. Medium Amari sind Amari in ihrer reinsten Form: Ausbalanciert in Süße und Bitterkeit, dunkelbraun bis Motorölfarben und geschmacklich nicht zu alkoholisch. Grundsätzlich handelt es sich dabei um Produkte, die in erster Linie nach dem Essen getrunken werden. Vor allem Medium Amari sind jene, die sich am ehesten aufgrund ihrer meist deutlich vorhandenen Süße als Digestif eignen, ob nun pur oder auf Eis genossen. Einige meiner Lieblings-Produkte dieser Kategorie sind:

• Amaro San Simone
• Amaro Meletti
• Amaro Dell’Etna Antico Amaro d’Erbe
• Amaro Montenegro
• Amaro Sibilla
• Amaro Lucano
• Amaro Nonino Quintessentia
• Amaro dell’Etna
• Amaro Amara

Aperitivo: kein Getränk, sondern eine Kulturform

Um die bereits angedeutete Verwirrung um Amari komplett zu machen, nennen die Italiener alle bitteren (roten) Produkte, die in Italien vor dem Essen getrunken werden, nicht Amaro, sondern Bitter. Und sie verstehen diese dann auch wirklich nicht als Amari. Nichtsdestotrotz halte ich es für adäquat, Aperitivo Bitters in diesem Themenkomplex aufzuführen. Nicht zuletzt, weil die Verwendung findenden Zutaten und Produktionsmethoden oftmals die gleichen wie die der Amari sind. Farblich unterscheiden sie sich deutlich von klassischen Amari, ihr Spektrum erstreckt sich in der Regel von Orange bis tiefrot. Faustregel:

»An aperitivo should have the color of the sunset. At nighttime when it’s dark, you want an amaro to digest.«

Nicht schlecht! Ich würde hinzufügen: Trockene und über mehr Zitrus verfügende Produkte (dazu zähle ich auch die Light Amari) eignen sich – unabhängig von der Farbe – als Aperitif, je süßer und dunkler, desto eher am Ende eines Essens. Klassischerweise werden Aperitivo Bitters also als Aperitif vor dem Essen getrunken oder genauer: In jener Stunde, in der in Ländern auf beneidenswerte Weise der Feierabend eingeläutet wird, in denen es die Bewohner besser verstanden haben, dass täglicher Genuss und Entspannung wertvolle Güter sind, um ein Vielfaches wertvoller als Eigenheim-Reihenendhäuser oder Obere-Mittelklasse-Wagen. Jene Stunde, in der eine Zäsur zwischen Arbeit und Abendessen gesetzt wird, in der das Leben und die Zusammenkunft zelebriert werden, als Ritual, als social event der Alltagskultur, und zwar eben in Form eines Aperitivos.

Je nach regionaler Vorliebe werden neben Wein, Bier, Sherry, Pastis (in Südfrankreich) oder Kir (im Burgund) häufig begleitet von kleinen Snacks sowie ebenjene Aperitivo Bitters zu diesem Anlass konsumiert. Das während des Aperitivos genossene Getränk ist dann oftmals herb oder bitter, soll den Appetit anregen und ist daher selten sonderlich süß und darüber hinaus nicht zu alkoholisch. Die im Zuge dessen servierten Bitters werden selten pur genossen, sondern entweder in klassischen Pre-Dinner-Drinks wie dem Negroni oder in leichteren, oftmals kohlensäurehaltigen Getränken wie dem Americano, einem simplen Campari Seltz oder einem Veneziano (dem klassischen Spritz) eingesetzt. Einfach gesagt: In leichten oder zumindest nicht zu kräftigen, anregenden und durchaus auch erfrischenden Drinks. Wie gesagt: Rotes vor dem Essen, Braunes danach. Nennenswerte, weil von mir für gut befundene Brands, wären etwa:

• Campari
• Cappelletti Aperitivo Americano (Specialino)
• Gran Classico
• Contratto Bitter
• Select Bitter Aperitif (aus Venedig, der eigentliche Bitter für einen Spritz/Veneziano)
• Picon (etwas süßer, meist mit Bier genossen und vornehmlich im Nordwesten Frankreichs zu finden)

Zurück zu den Rebenwurzeln: Wein als Basis

Irgendwo im Dunstkreis bitterer Aperitif-Getränke finden sich auch weitere, oftmals weinbasierte Produkte (zu denen übrigens auch die von mir bereits erwähnten Cappelletti und Contratto zählen), die ebenfalls dem Anlass eines Aperitivos angemessen sind, auch wenn man darüber streiten kann, ob es sich noch um Bitters bzw. Amari handelt – ich würde mit aller Entschiedenheit sagen: jein. Zu dieser dennoch in diesem Zusammenhang mehr als erwähnenswerten Gruppe zählen z.B. »Punt e Mes« von Carpano, der »Vermouth Amaro« von Cocchi sowie deren »Barolo Chinato«, ebenso der »Americano Bianco« (der nichts mit dem Cocktail zu tun hat, sondern Enzianwurzel beinhalten muss), aus dem Hause Cappelletti die beiden Sorten »Elisir Novasalus« und »Pasubio«, aber auch Quinquinas (mit Chinarinde) wie »Byrrh« oder »L.N. Mattei Cap Corse«. Grundsätzlich würde ich sagen, dass Wermut und andere weinbasierte bittere Preziosen der Kategorie irgendwie angehörig sind. Sie sind Teil des Kosmos, auch wenn sie nicht genügend Zucker aufweisen, um als Likör durchzugehen, nicht zuletzt, deswegen weil weinbasierte Getränke historisch gesehen die ersten Produkte waren, in denen bittere Kräuter und Süße zusammenkamen.

Es existieren noch viele, sehr spannende Unter- bzw. Nebenkategorien. Diesen werden wir uns zusammen mit einigen Rezepten beim nächsten Mal widmen. Trinkt mehr Amaro! Es lohnt sich.

Credits

Foto: Editienne

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