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Liköre in der Bar, Teil 4: Hinter Klostermauern

Liköre in der Bar, Teil 4: Hinter Klostermauern – Kräuterliköre

Die heutige Vielfalt an Kräuterlikören wäre undenkbar ohne jene Rezepturen, die einst von Mönchen und Nonnen als Medizin erdacht wurden und irgendwann aus den Klöstern in die Welt drangen. Dort liegt der Anfang des modernen Verständnisses von Kräuterlikören. Im vierten Teil seiner Serie über die wichtigsten Bar-Liköre beleuchtet unser Autor die beiden prominenten Vertreter und ihre Mixability. Und einen Geheimtipp gibt es außerdem.

Nachdem wir uns in den vergangenen beiden Ausgaben den Fruchtlikören gewidmet haben, werfen wir dieses und das nächste Mal einen Blick auf einen weiteren großen Komplex der Liköre: es geht um Kräuter. Dieses Mal stehen die weniger bitteren auf dem Programm.

A French Affair

In einer Artikelserie, die sich mit Likören befasst, kommt man nicht drum herum, sich länger mit den sogenannten Klosterlikören auseinanderzusetzen. Sie sind die ältesten, die ersten. Und bis heute ist ihre Bedeutung ungebrochen – vor allem in den Bars, die sich der Zubereitung klassischer Drinks verschrieben haben. Natürlich müssen wir, wenn es um Klosterliköre geht, zuerst und vor allem über die beiden großen Platzhirsche sprechen. Beide kommen aus Frankreich. Der eine von ganz oben aus der Normandie, der andere aus der Nähe Grenobles, im Südosten der Grande Nation. Beginnen wir, mit Blick auf die Landkarte gesprochen, unten.

Chartreuse

Wir wollen uns an dieser Stelle nicht lange mit der Geschichte der Chartreuse beschäftigen (und auch nicht mit den jüngsten Entwicklungen der Verknappung), sondern unser Augenmerk lieber, sofern möglich, auf ihre Herstellung sowie die (in meinen Augen) wichtigsten Qualitäten legen. Und natürlich auf mögliche Einsätze in älteren und neueren Drinks.

Herstellung

In der Bar, in der ich arbeite, erwarten die Gäste durchaus eine Menge profundes Produktwissen vom Barteam. Wir müssen Auskunft geben können über die Produkte, die wir verwenden. Da sind die wirklich übersichtlichen Informationen, was die Zutaten von Chartreuse angeht, ein echter Wermutstropfen. Wir wissen nur so viel: Zum Einsatz kommen 130 verschiedene Pflanzen in Form von Blättern, Blüten, Samen, Gewürzen, Rinden und Wurzeln, von denen etwa 60 Prozent direkt aus Frankreich (ein Großteil davon aus der unmittelbaren Umgebung des Klosters) und der Rest aus der ganzen restlichen Welt kommen.

Um welche es sich dabei genau handelt und in welcher Gewichtung sie zusammengestellt werden, wissen in dieser besten aller möglichen Welten angeblich nur drei (manche behaupten sogar nur zwei) Personen, die oben in der Grande Chartreuse leben, dem Hauptkloster des Kartäuser-Ordens in den Bergen über der Stadt Voiron. Diese zwei oder drei Mönche (mindestens je ein »Bruder« und ein »Vater«) zeichnen für die Zusammenstellung der Kräuter für die Produktion verantwortlich. Das Rezept ist geheim, und da die Mönche zu allem Überfluss auch noch ein Schweigegelübde abgelegt haben, stehen die Chancen doppelt schlecht, dass sie es in einem schwachen Moment einem neugierigen Bartender irgendwelche Details verraten würden.

Immerhin wissen wir: Alle 130 Pflanzen kommen sowohl in der gelben als auch in der grünen Qualität zum Einsatz, allerdings in unterschiedlicher Gewichtung. Ihre Farben erhalten die beiden Liköre durch natürliche Zutaten, entweder durch die Zugabe von Safran nach der Destillation (jaune/gelb) oder durch Chlorophyll (verte/grün). Beide bis heute Verwendung findenden Rezepte stammen von 1840, wobei die erste, auf dem Rezept des Elixir Chartreuse basierende Version der Chartreuse verte bereits 1825 destilliert wurde, während die Rezeptentwicklung für die etwas süßere, weniger alkoholische Chartreuse jaune 1838 begonnen wurde. Offenbar erkannten die Mönche des Karthäuser-Ordens historisch gesehen relativ früh, dass es sich bei der Idee, einen liqueur plaisir zu produzieren, um keine schlechte handelte. Basierend auf dem Rezept des bereits seit 1764 existierenden, jedoch wirklich nur zu medizinischen Zwecken gedachten Elixirs (69% Vol.) entstand ein Likör, der seinen Geschmack aus den gleichen Pflanzen gewinnt, sich allerdings wesentlich schmackhafter und auch zum Genuss trinkbar präsentierte.

Die Mönche wurden zu diesem Schritt aufgrund der damals grassierenden großen Armut ihres Ordens gezwungen. Die Geldnot ist mittlerweile Geschichte: Am heutigen Standort, Aiguenoire, wo seit 2018 jeder Tropfen Chartreuse hergestellt wird, verfügen die Lager über eine Kapazität für zwei Millionen Liter Likör. Etwa 1,5 MiIlionen Flaschen Chartreuse liefert die Destillerie jährlich aus. Daran ist zu erkennen, dass die Fasslagerung der beiden prominentesten Qualitäten offenbar nicht allzu lange andauert. Anders natürlich der V.E.P. (Vieillissement Exceptionnellement Prolongé), der in kleinen, nur 300 Liter fassenden Fässern entsprechend seines Namens für mehrere Jahre gelagert wird, auf den aber lediglich 3% der Gesamtproduktion entfallen.

Upgrades

Neben den beiden bekannten Basisqualitäten sind in meinen Augen vor allem zwei weitere Varianten der Chartreuse für die Bar interessant:

Erstens die 2008 eingeführte Chartreuse M.O.F. (Cuvée des Meilleurs Ouvriers de France Sommeliers), die eine in Zusammenarbeit mit führenden Sommeliers Frankreichs verfeinerte Version der regulären Chartreuse jaune darstellt und die mit weniger Honig, dafür aber mit mehr alkoholischer Power (45% Vol.) als die reguläre gelbe Qualität daherkommt. Funktioniert wunderbar pur, ist aber auch ein echtes Upgrade in Drinks wie dem Alaska!

Zweitens der Liqueur du 9e Centenaire, den es seit 1984 gibt. Bei ihm handelt es sich um eine Cuvée aus vorher separat gelagerter gelber und grüner Chartreuse, ein sehr komplexer, balancierter Blend, der mit seinen 47% Vol. etwas weniger alkoholische Spitze als die verte mitbringt und dadurch imstande ist, Drinks wie dem Bijou noch mehr Eleganz angedeihen zu lassen.

Chartreuse an der Bar

Es gibt viele grandiose Rezepte mit Chartreuse. Shortdrinks, wie der unlängst von mir besprochene Jaguar Cocktail oder der eben bereits erwähnte Bijou sowie der Alaska. Aber auch Drinks, in denen der Likör als Basis funktioniert wie in den Neo-Klassikern Chartreuse Swizzle, Beuser & Angus Special oder Laphroaig Project.

Der Last Word, der Nuclear Daiquiri und die am besten mit M.O.F. zubereitete, auf shaved ice wie ein Kakigōri servierte, wunderbare Daisy de Santiago, aus dem Buch Jigger, Beaker & Glass von Charles H. Baker Jr. Im gleichen Buch findet sich auch der Jimmie Roosevelt, eine elaborierte Version eines Champagnercocktails und eine weitere klare Empfehlung:

Jimmie Roosevelt

1 mit Angostura Bitters getränkter Zuckerwürfel
4 cl Cognac (nicht zu sehr an der Qualität sparen, es lohnt sich!)
Etwa 8 cl eiskalter, trockener Champagner
0,75 cl Chartreuse Liqueur du 9e Centenaire

Den Zuckerwürfel in ein nicht zu großes Becherglas geben, den Cognac und den Champagner vorsichtig darüber gießen, das Glas bis zum Rand mit cracked (kein crushed) ice füllen, die Chartreuse auf den Drink floaten.

Auf Garnitur darf verzichtet werden. Baker schreibt dazu: »No pineapple, no mint sprig, no cherry garnish. It is cooling, refreshing, invigorating, a delight to eye and palate.« Recht hat er! Man sollte übrigens mehr Champagner-Cocktails auf Eis servieren. Geht übrigens auch schon nachmittags. Reisen wir nun in den französischen Norden.

Bénédictine D.O.M.

Von der südostfranzösischen Region Rhône-Alpes machen wir uns auf in die Normandie, genauer gesagt nach Fécamp. Dort, an der Alabasterküste und direkt am Ärmelkanal gelegen, steht mitten in der Stadt ein gleichzeitig sakral, museal und auch etwas größenwahnsinnig anmutender Bau mit Elementen aus Neo-Gotik und Neo-Renaissance. Das Palais Bénédictine, ein Bau des Historismus, in dem seit den 1890er-Jahren Bénédictine D.O.M. hergestellt wird.

Allerdings nicht von Mönchen, sondern ursprünglich von einem Mann namens Alexandre Legrand, der sich 1863 von den Brüdern des Benediktinerordens die Erlaubnis geben ließ, den Likör mit deren Wappen vermarkten zu dürfen.

Herstellung, die Zweite

Anders als bei Chartreuse, bei deren Produktion alle Kräuter auf einmal gemeinsam für den gleichen Zeitraum vor der Destillation mazeriert werden, werden bei Bénédictine zunächst vier verschiedene Grundelixire, sogenannte Esprits, hergestellt. Dabei kommen 27 verschiedene Botanicals zum Einsatz (u.a. Melisse, Ysop, Zimt, Thymian, Kardamom, Nelke, Arnika, Engelwurz, Cassiarinde, Muskat, Safran, Vanille, Myrrhe, Minze, Zitrusschalen und Koriander). Nach der Destillation werden die vier Esprits geblendet und im Anschluss an eine etwa achtmonatige Ruhezeit mit Honig und weiteren Kräutern erhitzt. Anschließend wird der Blend für vier Monate in Eichenfässern gelagert, bevor mit Zucker gesüßt wird. Verglichen mit dem Kartäuserlikör aus dem Süden weist Bénédictine ein subtileres, runderes Profil auf. Aufgrund seines hohen Zuckergehalts (angeblich 330 g/l) eignet er sich, wenn man ein wenig an der Zitrusschraube dreht, durchaus als Substitut eines Sirups, wobei er Drinks eine weitere Dimension hinzufügen kann.

Vor allem im frühen 20. Jahrhundert erfreute sich Bénédictine größerer Beliebtheit. In dieser Zeit entstanden mehrere Drinks, die mittlerweile zum ewigen Kanon der Drink-Historie zählen: Der Vieux Carré, der De la Louisiane, der B & B, der Straits Sling, der Ford Cocktail. Mein allerliebster Drink mit dem nordfranzösischen Likör ist und bleibt jedoch der Chrysantemum, einer der köstlichsten und intensivsten Low-ABV-Drinks überhaupt:

Chrysantemum

4,5 cl Vermouth del Professore Bianco
2,25 cl Bénédictine D.O.M.

Die Zutaten im Rührglas auf Eis verrühren, ein kleines Goblet-Glas mit Duplais Absinthe verte aussprühen, strainen. Mit einem Lavendelzweig garnieren.

Der Burnley Miners Working Men Social Club

Auch wenn eine Flasche Bénédictine in den meisten gut sortierten Bars zu finden ist, benötigt ein Bartender für einen Drink meist nur eine eher überschaubare Menge des Likörs. Ich denke, es gibt kaum eine Bar, die mehr als eine Flasche pro Woche verbrauchen wird. Den Rekord hält der Burnley Miners Working Men Social Club in der Grafschaft Lancashire im Norden Englands, der angeblich über 1000 Flaschen pro Jahr verbraucht. Und im Stadion des benachbarten Burnley F.C. werden mindestens 30 weitere Flaschen pro Heimspiel geleert.

Der Grund dafür ist ein zumindest in Burnley hochpopulärer Drink: der Bene’n’hot. Dabei handelt es sich ganz einfach um gleiche Teile Bénédictine und heißes Wasser. Englische Soldaten aus Burnley, die im Ersten Weltkrieg in der Normandie stationiert waren, bekämpften damals mit dem lokalen Likör und heißem Wasser die Kälte. Nach Ihrer Rückkehr wollten sie den Drink nicht missen müssen und orderten sofort mehrere Flaschen – und tun es bis heute. So simpel sich das Rezept anhört: Es ist köstlich. Garniert mit einer Zitronenscheibe entsteht ein teeartiges Getränk, das jeden Glühwein um Längen schlägt. Merken, der nächste Winter kommt bestimmt!

Das Beste beider Welten

Ein Drink, der nach beiden Likören verlangt, darf zum Schluss nicht fehlen: Der Widow’s Kiss. Erstmals wurde er 1895 von George Kappeler in Modern American Drinks erwähnt:

Widow’s Kiss

A mixing-glass half-full fine ice, two dashes Angostura Bitters, one-half a pony yellow chartreuse, one-half a pony Benedictine, one pony of apple brandy; shake well, strain into a fancy cocktail-glass, and serve.

Eine weitere Erwähnung findet er im Savoy Cocktail Book:

Widow’s Kiss Cocktail

1 Dash Angostura Bitters.
½ Liqueur Glass Chartreuse.
½ Liqueur Glass Bénédictine.
1 Liqueur Glass Calvados or Apple Brandy.
Shake well and strain into cocktail glass.

Wir sind uns, denke ich, einig, dass der Drink lieber gerührt werden sollte, oder? Ich würde mich ferner für einen guten Calvados entscheiden und zu Chartreuse M.O.F. greifen. Kann man mal für den November vormerken. Ein hervorragender Nightcap, bevor das Taxi kommt!

Der Dritte. Der Underdog.

Ich nutze die letzten Zeilen, um noch einen wesentlich weniger populären, dafür aber nicht minder großartigen Likör ins Spiel zu bringen. Allerdings handelt es sich bei ihm nicht um eine Marke, sondern um eine kleine Untergattung der Kräuterliköre aus den französischen und italienischen Alpen, vor allem aus dem Aostatal. Die Gattung, die ich meine, ist dem Absinth nicht unähnlich und erfährt meines Erachtens zu wenig Beachtung: Génépi. Seine Hauptzutat wächst erst in felsigen Höhenlagen ab 1.600 Metern: die Ährige Edelraute, auch Schwarze Edelraute genannt, eine enge Verwandte des Wermuts und ebenfalls der Gattung Artemisia angehörig (Artemisia genipi, um genau zu sein).

Im Gegensatz zu den beiden bereits besprochenen Likören handelt es sich bei Génépi oftmals um einen Ansatzlikör, bei dem die (getrockneten) Kräuter – neben der Edelraute oftmals tatsächlich auch Wermut und Beifuß, manchmal Veilchen und Kamille – lediglich in Neutralalkohol mazeriert und anschließend mit Wasser auf meist 45% vol. eingestellt und mit Zucker gesüßt werden. Gute Qualitäten bekommt man von Paul Devoille, Dolin und Chartreuse (ja, auch die stellen einen Génépi her). Um sich langsam heranzutasten, empfehle ich einen simplen Génépi Tonic oder einen Collins. Aber auch als Substitut für Chartreuse lassen sich nicht nur in klassischen Drinks mehr als spannende Ergebnisse erzielen. Einfach mal drauf ankommen lassen. Viel Spaß!

Credits

Foto: Editienne

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