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Minimal psychedelisch und elegant wie eine Raubkatze: der Jaguar

Im Jahr 2007 entstand in Boston ein Drink, der heute noch immer nicht zum Standard-Repertoire eines Bartenders gehört, es aber eigentlich sollte: der Jaguar Cocktail. Gabriel Daun huldigt dieser einfachen, aber extrem eleganten Kombination aus Tequila Blanco, Chartreuse verte und Amer Picon.

Als Spitzenprädator bezeichnet die Biologie Tiere, die aufgrund ihrer Überlegenheit keine Fressfeinde fürchten müssen, da sie an der Spitze der Nahrungspyramide stehen. Zu ihnen zählt der Jaguar, und das bereits seit dem Calabrium, einem frühen Teil des Pleistozäns.

Für alle, die erdgeschichtlich nicht ganz so auf der Höhe sind (na gut, ich gebe zu, auch ich musste das erst recherchieren): Das Pleistozän begann vor etwa 1,8 Millionen Jahren – für meine Begriffe eine ziemlich lange Zeit an der Spitze des ökologischen Systems. Kaum vorstellbar. Aber genug der historischen Geologie! Es soll hier um einen Jaguar gehen, dessen Existenz bedeutend weniger Jahre auf dem Buckel hat, der allerdings trotzdem schon wieder – zu Unrecht! – vom Aussterben bedroht ist.

The Jaguar

Zutaten

4,5 cl Blanco Tequila
2,25 cl Amer Picon
2,25 cl Chartreuse verte
3 Dashes Orange Bitters (ursprünglich Fee Brothers)

When old was the new new

Ich weiß, ich berichte nichts Neues, wenn ich schreibe: Das erste Jahrzehnt dieses noch jungen Jahrtausends war ein wichtiges für unsere Branche. Es handelte sich um eine Zeit der Renaissance, der Wiederentdeckung, um die Zeit eines neu aufkeimenden Selbstbewusstseins vieler Bartender; auch um die einer neuen Demut vor den Jahrhunderten Bargeschichte, die bereits stattgefunden hatten. Und vor allem um eine, in der sich Bartender wieder mit Zutaten auseinanderzusetzen begannen, die gefühlt jahrzehntelang von den meisten unserer Zunft ignoriert oder zumindest missverstanden worden waren. Wir lasen wieder Bücher, die unsere Ahnväter für uns geschrieben hatten, die jedoch für zu lange Zeit nicht mehr wirklich von uns konsultiert worden waren.

Die neue Auseinandersetzung mit alten Rezepten, mit den Ideen und der DNA klassischer Drinks rückte wieder mehr in den Fokus. Die führenden Trailblazer dieser Bewegung waren in erster Linie Bartender, die – was Europa anbetraf – vor allem in London und – auf der anderen Seite des Teichs – in New York arbeiteten.

Der Jaguar. Aus Boston.

In Sasha Petraskes Milk and Honey, der Wiege dieser Renaissance, entstanden damals Drinks wie der Greenpoint und der Red Hook (dem wiederauferstandenen Interesse an der Spirituose Rye und dem neu entdeckten, wenn auch eigentlich alten Verständnis des Manhattan Cocktails geschuldet).

Doch nicht nur dort vereinten nordamerikanische Bartender ihr wiedererlangtes Cocktailwissen und ihre neugewonnene Expertise alte Zutaten betreffend mit ihrer Kreativität: Kaum mehr als 200 Meilen entfernt vom East Village in Manhattans erfand ein gewisser Tom Schlesinger-Guidelli im Eastern Standard in Boston (das bar-technisch damals so etwas wie den kleinen Bruder des Big Apple an der Ostküste darstellte) 2007 einen Drink, der heute, kaum 15 Jahre später, zwar nicht zum Standard-Repertoire eines Bartenders gehört, es aber eigentlich sollte: den Jaguar.

This had never been done before!

Dass Tequila und Chartreuse, inzwischen zwei Lieblinge vieler Bartender, aufgrund der vegetalen Aromen, die beide aufweisen, auf das Trefflichste miteinander harmonieren und deshalb auch so gut wie immer in Drinks zusammen funktionieren, ist heute eine mixologische Binse. Ein Punto Verde (ein Greenpoint mit Reposado Tequila statt Rye) oder ein Joya, (ein Bijou-Twist mit Tequila und Grapefruit Bitters) und nicht zuletzt der Chartreuse & Tequila Milk Punch, den mir John Gertsen vor einigen Jahren im ABV in San Francisco vorstellte, sind nur einige der Lustbarkeiten, die sich durch eine Liaison der beiden ergeben können und hier als Beweis genügen mögen.

Wie gesagt, heute winken die meisten ab – „Nichts Neues, was der Daun da erzählt!“ – aber 2007 lagen die Dinge noch etwas anders: Praktisch niemand verwendete Tequila in gerührten Shortdrinks, er wurde fast ausschließlich mit Zitrussäften gepaart, und wer etwas anderes als eine Margarita mit ihm zubereitete, galt schon als verwegen oder gar verrückt. Tom Schlesinger-Guidelli erfand den Jaguar Cocktail dennoch in diesem Jahr.

Der Jaguar Cocktail ist keine Schmusekatze

Der Drink ist verhältnismäßig einfach herzustellen: eine mexikanische und zwei französische Zutaten, die erstmals dort im neuenglischen Massachusetts ihren gemeinsamen Weg ins Rührglas fanden. Ein paar Tropfen Orange Bitters komplettieren den Drink.

Der Name des Jaguar Cocktails rührt wohl vom Tequila als Zutat, da die namensgebende Großkatze erstens in Mexiko durchaus immer noch in freier Wildbahn vorkommt und zweitens eng mit der Kultur Mittelamerikas verbunden ist. Sowohl die Azteken als auch die Olmeken und die Maya verehrten den Jaguar, teilweise sogar als Gottheit.

Noch einmal: Auch wenn Tequila, Chartreuse und Cocktail Bitters 2007 in Bartenderkreisen wieder ebenso en vogue waren wie Hosenträger, Ärmelhalter und Schnurrbärte, stellte der Drink in seiner Simplizität und durch den für damalige Verhältnisse mutigen Einsatz der Agavenspirituose eine kleine Revolution dar.

Amer Picon, das Einhorn

Der Jaguar war ein Cocktail, der innerhalb der damals noch überschaubaren Bar-Community in Boston deshalb einige durchaus höhere Wellen zu schlagen vermochte. Und wohl auch, weil Picon in den Nullerjahren in den USA eigentlich noch nicht bzw. nicht mehr erhältlich war und deshalb eine Art Einhorn-Status genoss (im Internet kursieren aus dieser Zeit bis heute Rezepte wie das von Jamie Boudreau aus Seattle, der eine Art Picon-Replica ersann und das Rezept mit anderen US-Bartendern teilte).

Hinzu kommt: Jede der Zutaten ist für sich genommen bereits, gelinde gesagt, charaktervoll, intensiv und pur genossen schon spannend. Sie gehen im Jaguar eine erstaunliche Harmonie miteinander ein, unterstützen sich gegenseitig und sind allesamt präsent, ohne sich jeweils in den Vordergrund zu drängen. So entsteht ein Drink, der minimal psychedelisch und somit auch etwas gefährlich anmutend, muskulös aber elegant wie eine Raubkatze ist, kurzum: ein Short Drink für Fortgeschrittene!

Variation der Variation

Natürlich sind auch Variationen eines Jaguar Cocktails denkbar. Eine minimale Erhöhung des Tequila-Anteils zugunsten von etwas mehr Trockenheit fände ich z.B. nicht abwegig. Eine Mezcal-Version für die ganz Hartgesottenen ginge ebenso (obwohl der Drink so für mich an Harmonie verliert). Der Einsatz eines anderen Amaros wäre ebenfalls möglich: Bigallet China China funktioniert z.B. gut, in jedem Fall sollte man einen nicht allzu bittereren Amaro wählen, der idealereise über ein paar Zitrusnoten verfügt.

Auch was den Kräuterlikör anbetrifft, muss es nicht unbedingt die klassische, grüne Qualität der Karthäuser-Mönche sein; Chartreuse M.O.F. oder jaune stellen gute Alternativen dar, die dem Drink etwas mehr Smooth- und Mellowness angedeihen lassen, ihn dabei allerdings auch eine Spur süßer werden lassen.

Zumindest in klassischen Bars sollte der Jaguar Cocktail wieder öfter gerührt werden, ich prophezeie, er wird mit Sicherheit den einen oder anderen Gast glücklich machen! Natürlich ist er nichts für die sommerliche Terrasse, aber der nächste Herbst kommt bestimmt. Also Rezept vormerken, die Zutaten dürften ohnehin im Hause sein und einfach abwarten, bis wir endlich wieder drinsitzen dürfen!

Punto Verde

5 cl Reposado Tequila
1,25 cl Punt e mes
1,25 cl Chartreuse jaune
2 Dashes Angostura Bitters
1 Dash Orange Bitters
Glas: Nick & Nora
Garnitur: keine

Auf Eis kalt rühren und abseihen

Joya Cocktail (Gabriel Daun, 2009)

3 cl Blanco Tequila
1,5 cl Carpano Antica Formula
1,5 cl Punt e mes
3 cl Chartreuse verte
3 Dashes Grapefruit Bitters
Glas: Nick & Nora
Garnitur: Grapefruit-Zeste

Auf Eis kalt rühren und abseihen

Credits

Foto: Sarah Swantje Fischer

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