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Die Ernüchterung. Ein Gastbeitrag von Oliver Ebert

Einst waren Bars anerkannte gesellschaftspolitische Orte und Teil medizinischer Versorgung. Heute sind sie gesundheitsgefährdend und werden politisch ignoriert. Manchem hebt sich die Augenbraue, wie es so weit kommen konnte, da noch vor kurzem die Scheinwerfer der Preisverleihungen so hell brannten und der mediale Widerhall bedeutungsschwer scholl. Nicht wenige behaupteten Systemrelevanz in einer Verkennung von System und eigener Bedeutung. Eine kleine Erkundung, wo die Bar im gesellschaftlichen Leben unserer Zeit anzusiedeln ist.

Dass in einer Pandemie, die sich respiratorisch verbreitet, Orte geschlossen werden, an denen Menschen zusammen kommen, folgt einer unbezweifelbaren Logik. Die Reihenfolge der Schließungen und Öffnungen folgt jedoch daneben einer Logik der Wertsetzung. Diese ist nicht willkürlich festgelegt, sondern dem spezifischen Gesellschaftssystem erwachsen. Dass Bars in der aktuellen Pandemie in jeder Schließungsstrategie vorkamen, aber in kaum einer Öffnungsstrategie, zeigt eine Einordnung, die auf behördlicher Ebene irgendwo zwischen Bordell und Tanzveranstaltung als „Schankwirtschaft ohne besondere Betriebseigenschaften“ subsummiert ist.

Hier steht sie vor uns in puris naturalibus, die Relevanz der Bar heutiger Zeit. Wirtschaftlich ist das erklärlich. Die Branche ist im gesamtökonomischen Vergleich unbedeutend, zudem kleinteilig. Selten mehr als wenige Mitarbeiter, fällt es statistisch kaum ins Gewicht, müssten auch hunderte Bars schließen. Deren Bartender, ohne anerkannte Berufsbezeichnung, würden in Arbeitsämtern zu gebrochenen Biografien und vermittelbarem Humankapital. Wer da mit Mixologie, Gastgebertum und Auszeichnungstrophäe wedelt, dem ist das Handwerksklappern zum Hufschlag des Rosinante* geworden. Es sei aber erinnert, in einer Wertsetzungskette wirtschaftlichen Kriterien Priorität einzuräumen, ist keineswegs naturgegeben, sondern wiederum systembedingt. Von der grundsätzlichen Fragwürdigkeit zu schweigen, auf medizinische Dienstleistungen als Beispiel oder Institutionen der Grundversorgung findet diese Priorisierung nur bedingt Anwendung. Bezeichnenderweise wird die Bar zu keiner von beiden gezählt. Dem war nicht immer so.

Im Gezeitenmörser

Um das zu belegen, bedarf es nicht des weiten Gangs zurück zu den Weingelagen antiker Symposien, noch in den Neunzehnhundersiebzigern bezeichnete Präsident Ford den Three- Martini-Lunch als Motor der amerikanischen Wirtschaft. Zu einer Zeit als Bars Tavernen hießen, war der Wirt Ratgeber mit politischer Einflussnahme. Bürgermeister wurden durch sein Einwirken ins Amt und zu Fall gebracht, weil gesellschaftliche Stimmungen sich an seinem Tresen brechen. Auch die gesundheitsfördernde Wirkung von Wein und Spirituosen galt über Jahrtausende hinweg als erwiesen. Mit Kräutern versetzte Weine wurden zur Einnahme verschrieben, Cocktails in Apotheken verkauft, als Botenstoff und Verkaufsargument für bittere Medizin. Umgekehrt wanderten über Bartresen Pharmazeutika, wie das des Antoine Peychaud.

Seither hat sich nicht nur die Apotheke von der Bar abgewendet. Aus Sicht heutiger Medizin verkürzt man aktiv sein Leben in einer Bar. Interessanterweise mit eben dem Mittel, das so lange als der Gesundheit förderlich galt: dem Alkohol. Juleps als morgendliche Blutstimulanz, Gin mit Tonic als Malariaprophylaxe, Cognac mit Bitter als neurologisches Sedativum – dem heutigen Mediziner nurmehr historischer Irrtum und Scharlatanerie. Ein Anachronismus, der seine Bildwerdung erfährt im Barmann, der wie seit Urzeiten mit Schüttelbecher und Rührlöffel sein Tun verrichtet, während Spachtel und Mörser beim Apotheker längst außer Dienst gestellt sind. Doch so selbstverständlich die gesundheitsfördernde Wirkung des Alkohols vom Bartresen gewischt wird, liegt sie auf dem Apothekertisch unbezweifelt vor. Kein homöopathisches Mittel ohne Ethanol, das die heilenden Wirkstoffe der Pflanzen erst extrahiert. Das Rückbuffet der Apotheke mag statt Boonekamp Pascoflair zieren, das Alkoholvolumen ist beiden gemeinsam.
Wenn nun die gesundheitsfördernde Wirkung von Alkohol medizinisch weiterhin gegeben ist, wieso hat die Apotheke den Nachtdienst von der Bar übernommen? Weil der Wirkungsbereich pharmazeutischer Produkte fokussiert ist auf spezifische Organe, Nervensysteme oder Muskelgruppen, sinkt mit der konzentrierten Dosierung auch die Alkoholaufnahme. Gleichwohl überragen ihre möglichen Nebenwirkungen die des verheerendsten Barbesuchs. Dieser kann wohl Übelkeit, Sehstörung und Erbrechen zur Folge haben, aber nur bei jenem können Gesichtsödem, Blutarmut und interstitielle Nephritis dazu treten. Vor allem aber unterscheidet sich hierin der Beweggrund, aus dem heraus die jeweilige Institution aufgesucht wird: Der Apothekenbesucher hat ein spezielles Leiden, der Barbesucher leidet an der Welt.

Das korrespondiert mit dem Wechsel eines weiteren Zeitphänomens. Lange in der Menschheitsgeschichte war der Maßstab für ein erfülltes Leben die Größe des Todes und nicht die Dauer des Lebens. Seit der Mensch der Ersten Welt nichts mehr hat, wofür es sich zu sterben lohnt, richtet sich sein Streben auf den Erhalt des Lebens als dem Einzigen, was ihm geblieben ist. Voller Angst auch dieses zu verlieren, transzendental obdachlos die Augen geweitet vor dem drohenden Nichts, wird die körperliche Gesundheit zum Gott erklärt. In der Verteidigung des bloßen Lebens wird dem Körper als Heiligtum mit allerhand Ertüchtigung geopfert. Nahrung dient nicht mehr der Sättigung, sondern der Gesundheitsförderung. Allem, was im Verdacht steht, dem zuwider zu laufen, wird mit stolzer Enthaltsamkeit begegnet und, weil Gewissensbisse bekanntlich zum Beißen erziehen, diese auch von anderen eingefordert. Das lange Leben wird zum Glücksversprechen, der Tod zur Zumutung und weite Teile einer Gesellschaft befällt orthorexia nervosa**. Operiert wird mit Wahrscheinlichkeiten, von Statistiken zu Wahrheiten erhoben. Als Heilsversprechen bei allerhand Nahrungsmitteln, Bewegungs- und Verzichtsübungen, als Damoklesschwert über allerhand Substanzen, die Gefahr und Maßlosigkeiten befördern. Immer im Scheingewand der Gewissheit, als sei die Lebensdauer bekannt und kontrollierbar. Das unbarmherzige Schicksal und der Zufall werden ins Joch gezwungen gewähnt, wo sie verdrängt sind in der Fetischisierung der Gesundheit. Mit jedem Schnaps verringert sich nach diesem Prinzip das Leben um x Minuten. Wenn die Länge des Lebens über die Intensität des Lebens gestellt wird, muss die Bar schlussendlich als lebensfeindlich gelten.

Qualmbüchsen und Dämonen

Wie in der Pharmakologie aus der Passionsblume ein Mittel gegen Unruhezustände, extrahiert Alkohol aus dem Menschen verborgene Wesenheiten. Er wirkt als Entgrenzung. Eine Überantwortung in die Bereiche des Unbewussten und Unkontrollierten, um das im Dunkeln liegende Ichgefühl zu spüren. Denn veritas im vino lag nie in Tanninstruktur und Brombeerduft, sondern im alkoholischen Rausch. Er ist der Schlüssel zu Reichen, die der normalen Wahrnehmung verschlossen sind, ist prometheischer Bilder- und Lichtraub. Wie weit sich in diese Bereiche vorgewagt wird und wie üppig die Beute ausfällt, hängt an Individuum, Raum und Zeit. Oftmals sind die ruhigen Schritte ergiebiger als der besinnungslose Lauf und stets bedroht Totalverlust. Doch sind auch die Erfahrungen individuell, so ist in der Bar der Rausch kollektiv. Schopenhauer bemerkt, universelle Einheit der Stimmung wird durch objektive Einwirkung wie Hoffnung oder Gefahr, die auf alle gleichzeitig wirken, erzeugt. In Ermangelung solcher, wird zu subjektiver gegriffen, deren gewöhnliches Mittel die Flaschen sind. Die Entgrenzung wird möglich in der Solidarität der Gemeinschaft, die selbst in der Abwesenheit anderer, allein durch die Bestimmung des Raumes wirkt. Bars sind traditionell dunkel und intim, um eine Geborgenheit herzustellen, in der das Ungewisse gangbar wird und der Bartender Führung gewährt auf dem schmalen Pfad zwischen Ichgefühl und Ichverlust. Die Bar schafft einen Freiraum, in dem Existenz über Intensivierung erfahrbar wird. Der Beweggrund des Barganges ist mit Gottfried Benn gesprochen „im Überschwange noch einmal vorm Verhängnis blühn“. Die Gefahren des Alkohols sind dabei die Bedingung der Intensität und nicht ihr Kollateralschaden. Wie die Anwesenheit des Todes das Leben veredelt, so bedingt die Gefahr die Intensitätserfahrung im Rausch. Er ist Annäherung an den Tod, vorweggenommene Zeit, die in der Ernüchterung zurückgefordert wird. Ein Tanz mit den inneren Dämonen und Kobolden im Angesicht der Vernichtung.

Nicht wenige werden sich demgegenüber ab- und aufgeklärt geben und mit Dostojewskijs „Böse Geister“ aus dem Publikum rufen: „heutzutage gibt es keine Gespenster mehr, sondern nur die Naturwissenschaften“. Nach ihnen steht die Bar den Fackeln der gesundheitlichen Aufklärung als Qualmbüchse gegenüber. Aber auch wem die Selbstkontrolle zur Selbstoptimierung verrutscht, behält eine Ahnung vom Anderen in sich und eine Sehnsucht, dem zu begegnen. Sie ist unstillbar wie jedes metaphysische Bedürfnis und hat seine Bedingung notwendig im Kontrollverlust. Die Zumessung in Raten widerspricht dem Wesen des Rausches, das im Überfluss gründet. Erst wenn die Ratio als ordnende Instanz zurückweicht, wird der Blick freigesetzt, springt eine Tür auf zu verborgenen Reichen. Entgrenzung ist die gesellschaftliche Funktion, deren Ort die Bar ist. Das animal laborans, eingespannt in ein Netz aus Pflichten und Forderungen, sucht dort nach dem, was vom Ich übrig blieb und was möglich gewesen wäre. Eine Besinnung, deren Gewinn im Nutzlosen leuchtet, der sich nicht verrechnen lässt.

Prometheisches Zwielicht

In den Fabriken der allgemeinen Utilitäten ist das natürlich verdächtig. Die Nutzlosigkeit der Besinnung des Individuums im Rausch muss auf der Ebene des marktwirtschaftlich ausgerichteten Staates zur Degradierung der Bar führen. Als Vertreter des Ordnenden der Ratio und gesellschaftlicher Sicherheit durch Kontrolle, steht er dem Ort des Kontrollverlusts diametral entgegen. Seine Sinnbehauptungen sind dort akut von Sinnentleerung bedroht. Und nicht zuletzt ist die Ignoranz des Staates gegenüber der Bar die einer Gesellschaft gegenüber dem Rausch als Bedürfnis nach geistiger Welt. Es läuft einer allgemeinen Effizienz- und Optimierungsforderung zuwider. Das äußert sich in einer Leistungsgesellschaft als Gewissenskonflikt. Wenn die Eigenperformance kritisch hinterfragt wird, fordert ein Barbesuch Schuldeingeständnis. Wer innerhalb der Woche, wohlmöglich mehrmals, eine Bar aufsucht, muss sich rechtfertigen, zuvörderst vor sich selbst. In diesem systemimmanenten Zusammenhang betreibt staatliches Handeln tendenziell eine Verunmöglichmachung dieser Orte durch Regulierungen und Stigmatisierung, Warnhinweise und Verdächtigungen. Schon die Zone der alkoholischen Wirkung, wenn Dionysos eintritt, ist durch Promille begrenzt. Nur solange es noch ein Bewusstsein dafür gibt, dass ein Bedürfnis nach Rausch dem Menschen seit Urzeiten eingeschrieben ist, werden dessen Orte als Regulative geduldet.

Die Tätigkeit des Bartenders wird unter diesen Umständen ambivalent erscheinen. Das unterscheidet ihn vom Koch, der eine Notwendigkeit seines Tuns, sei sie auch noch so artifiziell, aus der körperlichen Notwendigkeit zu essen behaupten kann. Der Bartender kann dies nicht äquivalent aus dem Trinken beziehen, denn sein Tätigkeitsfeld ist nicht die Flüssigkeitsversorgung, sondern die Rauschführung. Eine alkoholfreie Bar ist ein Widerspruch in sich. Das Wort Bar leitet sich von Barriere ab, die den Barkeeper als denjenigen, der über die Rauschmittel verfügt, absondert und schützt vor der sich berauschenden Menge. Die Bar hat den Rausch zu ihrer Voraussetzung, wie die Tätigkeit des Bartenders das menschliche Bedürfnis danach. Hier liegt ihr Spezifikum, ihre Singularität. Soziale Orte gibt es viele.

Transzendentale Bedürfnisse

Aus der Tatsache, dass der Mensch stirbt, wenn er nichts zu essen hat, lässt sich nicht ableiten, dass er deshalb lebt. Schließlich unterscheidet er sich vom Tier nicht zuletzt durch die Fähigkeit zur Selbsttötung. Das bedeutet, er bedarf eines Grundes, um am Leben zu bleiben. Der Rausch ist als Urbedürfnis nicht negierbar, aber in hiesiger Gesellschaftsordnung nicht als notwendig anerkannt. Der Bartender täte gut daran, diese Tatsache nicht zu bejammern, sondern daraus seine Bedeutung zu ziehen. Er gehört zu den Vertretern transzendentaler Bedürfnisse, nicht physischer Notwendigkeiten. Wenn er die Feinheiten seines Handwerks beherrscht, kann er Anerkennung erfahren, die in Dankesbezeigungen ausufern kann, welche den meisten Berufsgruppen verwehrt bleibt.

Dieses Handwerk ist die Zelebrierung des Rausches in der Gemeinschaft durch die Mittel des kunstvollen Mischens der Flüssigkeiten und seiner sublimen Darreichung. Die Zelebrierung folgt dabei der ursprünglichen Verbindung von Rausch und Fest, das den Alltag weniger unterbrach, als ihn überhöhte. Solcherlei Anerkennung wird in heutiger Zeit freilich gebunden sein an die Nacht und den Moment. Ernüchtert meldet sich das kritische Bewusstsein und beginnt seine Relativierungen und Gewissenskonflikte. Wer statt Bedürfniserfüllung sich Verführung erlegen sieht, bei dem wandelt sich Bewunderung in Vorwurf und Bewunderter in Verführer. So umglänzt den Bartender wie die Bar das Zwielicht, bis die Nacht erneut die Begierden weckt. Dann wird auch der Fetischisierung der Gesundheit mit der alten Gewissheit begegnet: Man stirbt nicht, weil man krank ist, sondern weil man lebendig ist.

 

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*Pferd des Don Quixotte, das er für einen stolzen Hengst ansieht, obgleich es ein klappriger Gaul ist.

**Essstörung, bei der die übermäßige Beschäftigung mit der Qualität der Lebensmittel aufgrund selbst auferlegter Regeln zu psychischen und physischen Beeinträchtigungen führen kann

Credits

Foto: Editienne

Comments (2)

  • Gonçalo

    … nachdem ich mich gegen 2011 von Facebook trennte.
    Und nachdem ich auch keinem anderen Internet-Netzwerk beitrat wurde ich oftmals gefragt wieso und weshalb und soweiter.
    Aus einem einfachen Grund. Im Internet bekommt man keine guten Drinks.
    Für einen Drink muß man eine Bar be-suchen.
    Gonçalo

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  • Le Mélangeur

    Großartiger Artikel! Vielen Dank und umso mehr Zustimmung.

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