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Steins steter Tropfen: Die Poesie von Bars, in denen man alleine sein kann

Steins steter Tropfen: Die Poesie von Bars, in denen man in Ruhe gelassen wird

Unser Autor Martin Stein ist ein Cocktailreisender, der seine Zeit am liebsten in Bars verbringt. In seiner Serie „Steins steter Tropfen“ geht es um gute Getränke und Gedanken, die sie verbinden. Es geht um Beobachtungen von unterwegs und Betrachtungen von der anderen Seite des Tresens. Diesmal: Bars sind auch dazu da, um alleine in ihnen zu sitzen.

Ah, die (Vorweihnachts)zeit! Unlängst hat es massiv geschneit, und des Menschen Hektik wird durch das flockige Valium der Natur eingebremst. Auf den Christkindlmärkten trinken die Menschen Glühwein, und wir haben viele dieser Märkte in Regensburg, sogar einen ganz besonderen, der aus kulturfinanziellen Gründen „Weihnachtsmarkt“ heißt und außerdem auch noch das Attribut „romantisch“ trägt.

Es ist ja auch die Zeit für Romantik, aber obwohl ich an und für sich eine sehr romantische Persönlichkeit bin, ist mir das Besinnliche in diesen Tagen sehr viel wichtiger als die Romantik. Das Herz geht mir auf, wenn ich sehe, wie all die vielen Menschen zu den Glühweinständen streben.

Weil, also … das bedeutet, dass ich mich endlich mal wieder in Ruhe in eine Bar setzen kann.

Ganz für mich allein. Getränk für mich allein, Bartender für mich allein, Bar für mich allein. Schön.

Das Gegenteil stimmt eben auch

Oft und völlig zu Recht wurde die Bedeutung der Bar als sozialer Treffpunkt hervorgehoben, als basiskultureller Schmelzofen, als zivilisatorische Grundfeste mit Getränkebegleitung. Alles sehr richtig, nichts dagegen zu sagen, völlig korrekt. Das Miteinander. Das Lachen. Die Freunde. Die Gemeinschaft.

Aber das Gegenteil stimmt eben auch.

Und dieses Gegenteil ist, finde ich, nicht weniger wichtig, wenn auch nicht so gut zu vermarkten. Die Bar, wenn nicht als nicht asoziale, so doch als antisoziale Bastion. Willkommen zur Unhappy hour! Drink irresponsibly! Niemand sollte daheim versauern müssen, aber das kann doch im Umkehrschluss nicht heißen, dass man sich in die nächste sich darbietende Meute stürzen muss wie Sahra Wagenknecht in eine Talkshow.

Das soll hier nun keine Predigt für den Exzess werden, oder zumindest nur zum Teil. Ich glaube, dass ein in gewissen Abständen eingestreuter Solo-Auftritt am Tresen einer Bar Geist und Körper entschlackt, gewissermaßen ein hard reboot für den überhitzten Gedankenprozessor. So etwas wie klösterliche Exerzitien – besonders, wenn Chartreuse involviert ist – aber mit flexibleren Schlafenszeiten.

Keinesfalls soll hier auch die verhängnisvolle Mär des Problemlösers Alkohol weiter gepflegt werden, aber so hin und wieder halte ich so einen Abend nicht nur für vertretbar, sondern gar für ratsam. Der Großteil der Freizeitgastronomie basiert auf einer großen Lüge – nämlich der, dass wir total gut drauf sind und jetzt ordentlich Spaß miteinander haben werden. Völliger Unsinn; in Wirklichkeit sind so ziemlich alle kreuzunglücklich, todesfrustriert und ausgebrannt, und um dann den Anschein von Fröhlichkeit zu erwecken, müssen sie sich erst recht besaufen, und oft genug nicht nur das. Zeigt mir einen glücklichen Menschen, sprach Zarathustra, und binnen eines Viertelstündchens werde ich ihm beweisen, dass er irrt.

Draußen ist Mallorca, die Insel ist hier

Dieser dauernde Druck, gut gelaunt sein zu müssen! Das macht doch krank. Ich habe seinerzeit in meiner Bar mal einen „Depressiven Dienstag“ veranstaltet, um die Menschen ein bisschen vom Frohsinnszwang zu befreien. „Draußen ist Mallorca, die Insel ist hier.“

Hat sich trotz des zweifellosen Bedarfs leider nicht durchgesetzt.

Dennoch, wie schön ist es, in einer eher spärlich besuchten Bar am Tresen zu sitzen und von jemandem bedient zu werden, der sich auf die professionelle Bereitung des Getränks beschränkt und nicht gleich nach dem Betreten des Lokals ruft, „Supi! Wenn noch einer kommt, reicht’s für eine Polonäse!“

Ich erinnere mich an eine Geschichte mit Charles Bukowski auf dessen Deutschlandbesuch 1978, als er mit seiner späteren Frau Linda Rast in einem Dorfgasthaus in der Rhein-Neckar-Region macht. Das Gasthaus ist gut besucht, zeitgemäß hauptsächlich von alten Männern – aber jeder sitzt mit seinem Schoppen Wein ganz für sich allein da; Gespräche finden keine statt, der Sitzplan des Raums scheint nach dem Prinzip des größtmöglichen Abstands erstellt zu sein, und sogar, wenn man gezwungenermaßen einen Tisch teilen muss, so sitzt man versetzt zueinander.

Bukowski ist begeistert. Was für ein wundervoller Ort, an dem die religiöse Reinheit des Ausschanks nicht durch banales Geschwafel oder gar Gelächter getrübt wird! Gut, was Bukowski, nach dessen Tod Musso & Frank in Hollywood den Import von Liebfrauenmilch wieder einstellen mussten, von einer alkoholischen Abart namens „Mixologie“ gehalten hätte, kann man sich vorstellen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass man auch mit hochwertigen Getränken einen Barabend alleine zelebrieren kann.

Alleinesein nicht mit Einsamkeit verwechseln

Ich kann Menschen nicht verstehen, die in Bars gehen, um andere Menschen kennenzulernen. Der ganze Planet ist doch dermaßen übervölkert, dass man es beim besten Willen gar nicht vermeiden kann, Menschen kennenzulernen. Wenn ich Brezen kaufen gehe, dann komme ich mit drei Telefonnummern, einer Autoversicherung, einem Gutschein für einen Zirkusbesuch und einer neuen Religion wieder nach Hause. Mit etwas Glück auch noch mit Brezen. Man müsste doch froh sein um jede Gelegenheit, niemanden kennenzulernen.

Die ideale Bar bietet diese Gelegenheit. Sie kann das andere zwar auch, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, aber sie drängt sich auch nicht auf. Eine richtig großartige Bar versteckt ihre Möglichkeiten dezent unter dem Tresen und geht nicht damit hausieren wie der Burgerbrater mit seiner Apfeltasche. Solche Bars können übrigens sogar voll zu sein, ohne voll zu sein.

So oder so darf man Einsamkeit mit Alleinesein nicht verwechseln. Letzteres können sowieso viel zu wenige Menschen; ich mag gar nicht an die ungezählten Günters und Corinnas denken, die irgendwann mal irgendwen geheiratet haben, nur damit irgendwer da ist. Grauenhaft. Man kann in Bars an sich sehr gut üben, allein zu sein – da sind andere Menschen da, es ist warm, es gibt Musik – in einem kalten Kohlenkeller mit verschlossener Tür lernt man die Freuden des Alleineseins nicht so schnell zu schätzen. Die Bar erfüllt da so eine Art Stützräder-Funktion. Man muss das halt auch nutzen, und schwupps, kann man auch ohne Stützräder alleine sein.

In 100 Jahren werde ich nicht begreifen, weshalb Menschen wandern, um den Kopf freizubekommen. Man latscht stundenlang durch die Gegend, um wieder schätzen zu lernen, wie schön es drinnen ist? Gut, wer’s mag. Aber auch Landschaft hat ja das Recht, mal in Ruhe gelassen zu werden.

Wandergruppe über dem Nebelmeer

Lernen Sie aber aus den Schilderungen der Naturmenschen und schämen Sie sich nicht, die Poesie des Bar-Aufenthalts mit der gleichen Inbrunst zu beschreiben wie der Wandervogel einen Kaulquappenfund. Es gibt keine poetischeren Orte als Bars, in denen man in Ruhe gelassen wird, wenn man das will, und Caspar David Friedrich ist nicht deshalb berühmt geworden, weil er eine Wandergruppe über dem Nebelmeer gemalt hat. Denken Sie da mal drüber nach. Glauben Sie, dass Gerhard Richter jemals einen Kölner-Karnevals-Zyklus schaffen wird? Na also.

Das sind kluge Menschen, an denen man sich ein Beispiel nehmen sollte. Noch so ein kluger Mensch war Robert Gernhardt:

Ich sitze gern allein in vollen Zelten
Wenn links ein Schluchzen
rechts ein Schelten
ein Weinen vorn
und hinten so ein Stöhnen
mich mit dem Zelt, der Welt
und meinem Einsamsein versöhnen.

Beendet um 23: 56 Uhr im Pacific Times in München.

Credits

Foto: Ignacio Carrera - stock.adobe.com

Comments (2)

  • Thomas Domenig

    Ein Meisterwerk ?

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  • Peter Schütte

    Dankeschön, für diesen schönen Text, lieber Freund. Auch ich bin kein Misanthrop, doch sitze auch ich gerne an den Wochentagen bei Freunden in Bars dieser Republik und genieße die mir entgegengebrachte Aufmerksamkeit ganz egoistisch für mich. Und was soll ich sagen; ich liebe es.

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