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Die Saison im Glas mit Ruben Neideck: Meerrettich im Cocktail

Die Saison im Glas mit Ruben Neideck: Meerrettich im Cocktail

Scharf, schärfer, Meerrettich: Wie man die wilde Bestie zähmt und sinnvoll in aromatische Cocktails integriert, erklärt Ruben Neideck, der aktuelle „Bartender des Jahres“, im nächsten Teil seiner Reihe „Saison im Glas“.

Schärfe ist ein bereits seit Langem in der Cocktailwelt angekommenes Geschmacksphänomen. Ingwer katapultiert den Moscow Mule und den Penicillin Cocktail von Sam Ross in Höhenflüge, Chili gibt einer Bloody Mary seit Jahrzehnten den richtigen Kick oder findet sich in neuzeitlicheren, erfolgreichen Likörprodukten wieder.

Nun handelt es sich bei den typischerweise an der Bar verwendeten Schärfequellen mit Ingwer, Pfeffer und Chili nur selten um diejenigen, die eigentlich endemisch im nordeuropäischen Raum Verwendung fanden – nämlich Senf und Meerrettich – bis die weitläufige Verfügbarkeit von Pfeffer dem entgegenstand. All diese verschiedenen Schärfequellen unterscheiden sich chemisch grundsätzlich.

Die Saison im Glas mit Ruben Neideck: Meerrettich im Cocktail
Beim Anreißen der Blätter sollte sich leichter Meerrettich-Duft einstellen
Meerrettich ist besonders süß, wenn aus gefrorenem Boden geerntet

Meerrettich, ein hartes Brett

Hier soll es nun um Meerrettich gehen, und damit um die tränentreibende, beißende und volatile Schärfe, die ihm die Gruppe der Senföle verleiht. Eins sei zu den Senfölen des Meerrettichs vorweggenommen: Sie sind fantastisch in reinem Alkohol löslich. Und dann aber echt harte Bretter.

Meerrettich, im bayerischen und österreichischen Sprachraum „Kren“, im Englischen „Horseraddish“ und botanisch Armoracia rusticana bezeichnet, ist ein theoretisch ganzjährig erntbarer Kreuzblütler, der trotz seines Namens nicht näher mit den Rettichen verwandt ist. Verwendung findet primär die Wurzel mit der deutlich höchsten Konzentration an Senfölen, es sind allerdings sämtliche Pflanzenteile essbar. Die Haupterntezeit für den Meerrettich ist von Herbstende bis Winter, nachdem die Pflanze von Frühling bis Sommer ihre Energie ins Wachstum gesteckt hat und die Blätter nun langsam absterben.

Die Meerrettichwurzel ist eine Zutat, die ihre geschmackliche Qualität stark mit ihrem Frischegrad verändert. Sehr frische Wurzeln (erkennbar an Saftigkeit, Festigkeit und sehr sattem Weiß an den Schnittstellen) weisen einen geradlinigen Geschmack mit deutlich erhöhter Schärfe auf, während lange zwischengelagerte Wurzeln (erkennbar an einsetzender Austrocknung, Gummiartigkeit und teilweise rötlichen Verfärbungen) ein buttrig-vanilliges, beinahe in Richtung Kohlrabi schwenkendes Aroma sowie verminderte Schärfe aufweisen.

Rotationsverdampfer im Velvet, Berlin.
Achtung: Augen und Nase auf beim Meerrettich.
Die Saison im Glas mit Ruben Neideck: Meerrettich im Cocktail
Der Meerrettich zusätzlich einvakuumiert werden und Erdreste so lange wie möglich an der Wurzel belassen werden.

Fest und knackig muss er sein, der Meerrettich

Beim Kauf sollte daher genau auf die Ware geachtet werden, allen voran auf die Elastizität – fester und knackiger bedeutet: frischer! Um die Frische bei Einlagerung so lange wie möglich zu gewährleisten, empfiehlt es sich, bei -2°C (nicht kälter) zu lagern. Dafür sollte der Meerrettich zusätzlich einvakuumiert werden und Erdreste so lange wie möglich an der Wurzel belassen werden. Gewaschen wird erst zum Verarbeitungszeitpunkt. „Dreck“ am Kren ist, wenn’s frisch vom Landwirt des Vertrauens kommt, ein Qualitätsmerkmal.

Um die stärkste Kontrolle über den Frischegrad der Wurzel zu haben, bietet sich das eigenhändige Wildsammeln an. Der Wildkräuterpädagoge Jonathan Hamnett von Grunewald Foraging empfiehlt die Suche auf „unbearbeiteten, offenen Grasflächen außerhalb der Stadt. Da wachsen die dann, wenn man mal eine Pflanze gefunden hat, meist dicht an dicht“. Die Identifikation geschieht über die Blätter, die jetzt noch nicht ganz abgestorben sind, bewaffnet mit der Kombination aus einem guten Pflanzenbestimmungsbuch  und einer guten Pflanzenbestimmungs-App  – nur mit App alleine ist leider töricht und teilweise gefährlich. „Verwechslungsgefahr besteht beim Meerrettich vor allem mit Rumex crispus, dem Krausen Ampfer“, weiß Hamnett. „Dieser ist aber nicht giftig – außerdem hat Meerrettich vergleichsweise dunklere, etwas gekräuseltere Blätter und quasi keinen Roteinstich“.

Meerrettich, im bayerischen und österreichischen Sprachraum „Kren“, im Englischen „Horseraddish“ und botanisch Armoracia rusticana bezeichnet.
Beim Kauf von Meerrettich darauf achten: fester und knackiger bedeutet frischer

Achtung: Augen und Nase auf beim Meerrettich

„Zur Identifikation können die Blätter leicht angerissen werden, es sollte sich dann bereits ein leichter Meerrettichduft einstellen. Noch wichtiger ist ein deutlicher, tränentreibender Meerrettichduft beim Anschneiden der Wurzel sowie die Abwesenheit von Kämmerchen in der Wurzel, um Verwechslung mit dem hochgiftigen Wasserschierling auszuschließen.“

Laut Hamnett erholt sich der wilde Bestand von Meerrettich nicht nur sehr gut von der Ernte: Werden bei der Ernte kleinere Seitenwurzeln – im landwirtschaftlichen Fachjargon sogenannte „Fechser“ – abgetrennt und wieder vergraben, ist damit sogar das Wachstum des Bestands wahrscheinlich.

Diese eigenhändige Ernte kann zwar über das ganze Jahr geschehen, der Reifegrad der Wurzel ist allerdings von Ende Oktober bis ins Frühjahr optimal. Nun wird es im harten Winter durch abgestorbene Blätter und Bodenfrost zwar sowohl beim Finden als auch beim Ausgraben der Pflanze komplizierter, doch Spencer Christenson, Mit-Inhaber des Berliner Restaurants Ernst, schätzt gerade „die besondere Süße der Wurzel, wenn aus gefrorenem Boden geerntet“.

Grundsätzlich ist es beim Sammeln angesagt, bei Landeignern die Erlaubnis einzuholen, auf entsprechenden Landstücken zu sammeln, unabhängig ob in öffentlicher oder privater Hand. Beim Ausgraben von Wurzeln erst recht. Im Landeswaldgesetz Brandenburg beispielsweise bleibt es mit §15 Abschnitt (7) eher schwammig in Bezug auf Erlaubnis von Meerrettich-Ausgrabungsarbeiten.

Meerrettich-Cocktails mit Schärfe: Der Star der Show

Bevor es thematisch in die Verarbeitung geht, soll noch der Star der Show vorgestellt werden: Allylsenföl aka Allylisothiocyanat. Wenn Meerrettich eine aromatische Kanone ist, dann ist Allylisothiocyanat das Schießpulver. Allylsenföl zeichnet sich durch ein hohes Bedürfnis aus, sich in Luft aufzulösen, also zu verdampfen. Daher brennen Meerrettich, Senf und Wasabi so charakteristisch in der Nase. Genauso schnell wie er kommt, verflüchtigt sich dieser intensive Schärfeeindruck allerdings auch wieder, während hingegen Chilischärfe in Form von Capsaicin noch lange nach Konsum auf den Schmerzrezeptoren der Mundhöhle wütet.

Allylisothiocyanat ist im Meerrettich zunächst in Form des Vorstoffes Sinigrin gebunden und entsteht erst bei Verletzung der Zellmembranen (also z.B. bei Anschnitt oder Pürieren der Wurzel) katalytisch durch Kontakt mit einem ebenfalls im Meerrettich vorhandenen Enzym. Von unverletzten Meerrettichwurzeln geht demnach kaum Schärfe aus.

Weiterhin ist Allylsenföl sehr schlecht in Wasser, aber hervorragend in Alkohol löslich. Auf Kontakt mit Wasser, mit Luft und mit Wärme reagiert Allylsenföl empfindlich. Der Siedepunkt liegt für eine aromatische Komponente mit 151°C im Vergleich zu vielen ätherischen Ölen relativ niedrig. All diese Eigenschaften haben starke Auswirkungen darauf, wie sich Meerrettich bei unterschiedlicher Verarbeitung und Lagerung verhält. Unabhängig von der Verarbeitung lässt sich bereits festhalten: Meerrettichprodukte sollten an einem kühlen, dunklen Ort mit möglichst geringem Lufteinschluss gelagert werden. Bis zum Rand gefüllte, getönte Flaschen bieten sich an. Lange gelagerte Meerrettichextrakte büßen an Schärfe ein und bekommen mit der Zeit einen rötlichen Stich. Nach ca. zwei Monaten kann teilweise bereits der Großteil der Schärfe verpufft sein. Je höher der Alkoholgehalt, desto haltbarer die Schärfe. Auch Essig und Salz scheinen eine konservierende Wirkung auf die Schärfe zu haben.

Zur Meerrettich-Testreihe

In einer Testreihe habe ich verschiedene Verarbeitungsmethoden einander gegenüber gestellt in Variation von Parametern wie alkoholischer Stärke, Frischegrad der Meerrettichwurzel, Extraktionstemperatur und Extraktionsmethode. Anschließend wurde der Grad und die Güte der Schärfeextraktion sowie generelle sensorische Eigenschaften gemeinsam mit dem Velvet-Team bewertet. Folgende Ergebnisse möchte ich listenförmig zusammenfassen:

  • je mehr Volumenprozente im Extraktionsalkohol, desto schärfer und frischer das Extrakt
  • je höher der Wasseranteil (also je niedriger die Volumenprozente) im Extraktionsalkohol, desto rettichähnlicher und weniger frisch/scharf der Geschmack des Extrakts. Sensorisch störend
  • je frischer die Meerrettichwurzel, desto höher die mögliche Ausbeute an scharfen Senfölen und desto geringer die Ausprägung eines merkwürdigen Kohlrabi-Aromas
  • je älter und trockener die Meerrettichwurzel, desto stärker ein leicht buttrig-vanilliger Beigeschmack und umso geringer die Schärfe. Geschmackssache
  • je höher die Extraktionstemperatur (z.B. bei Sous-vide), desto geringer die Schärfe und desto stärker ein buttrig-vanilliger Geschmackseindruck. Stark ins Geschmacksspektrum von Kohlrabi abdriftend. Ebenfalls Geschmackssache

Meerrettichtinktur aus 96%-iger Kaltmazeration

Zutaten

100 cl 96%-iger Neutralalkohol
500 g Meerrettichwurzel, ganz frisch, geputzt und geschält

Zubereitung

  • Meerrettich sehr fein hacken, dann mit Neutralalkohol übergießen und vakuumieren bzw. zusammen in ein verschließbares Gefäß geben
  • für 24 Stunden bei Zimmertemperatur mazerieren, dann durch ein feines Sieb filtrieren
  • fertige Meerrettichtinktur möglichst randvoll in getöntem Glas an einem dunklen und kühlen Ort lagern. In Nutzung befindliche Flaschen zum Schichtende immer luftdicht schließen, um Ausrauchen und Oxidationsprozesse zu vermeiden. Innerhalb von zwei Monaten verbrauchen

Cocktails mit Schärfe: Gewöhnungssache für den Gaumen

Weitere Beobachtungen waren, dass Meerrettichchips in der Dehydration relativ gut ihre Schärfe bewahren. Außerdem, dass komplett wässrige Extraktionen unabhängig von der Methode (Kaltmazeration, Sous-vide oder Destillation) sowie zuckrige Extraktion in Form eines Meerrettich-Oleo-Saccharums sehr unschmackhafte Ergebnisse hervorbringen (O-Ton im Labor: „Rettichpups“).

Ein Tee gekocht aus Meerrettich resultierte in kompletter Abwesenheit von Schärfe und einem nicht unspannenden Kohlrabi-Geschmack – soll unterstützend bei Blasenproblemen und Grippe wirken, dieser Tee. Einwöchige milchsaure Fermentation der Meerrettichwurzel durch 2%-ige Trockensalzung resultierte in einer leichten texturellen Aufweichung der Wurzel, die Schärfe wurde allerdings auf ein recht angenehmes Maß abgebaut und Salz sowie Milchsäure bieten einen spannenden Kontrast zur Schärfe. Wie jedes milchsaure Ferment ist dies für den deutschen Durchschnittsgaumen allerdings Gewöhnungssache.

Meerrettich-Shrub

Zutaten

50 cl Wasser
300 g Zucker
10 cl Apfelessig, 6%-ig
100 g Meerrettichwurzel, ganz frisch, geputzt und geschält
5 g Vitamin C (Ascorbinsäure)
3 g Salz

Zubereitung

  • alles zusammen fein pürieren, dann durch ein Seihtuch / Superbag filtrieren.
  • Meerrettichshrub in getöntem Glas an einem dunklen und kühlen Ort lagern.

Alkohol mit 96%: der beste Freund des Meerrettichs

Die sensorisch überzeugendste und dabei technisch leicht umsetzbare Extraktionsmethode war schlussendlich eine Kaltmazeration von Meerrettich in 96%-igem Neutralalkohol aus ganz frischen Wurzeln. Hier war die Schärfe am frischsten und intensivsten mit den geringsten Einschlägen von Rettichgeschmack. Sowieso ist 96%-iger Alkohol ein wahres Wundermittel für Extraktionen, da er unverdünnt beispielsweise auch enzymatische Bräunungsreaktionen unterbindet und hochalkoholische grüne Kräuterextrakte somit monatelang grün bleiben.

Wer die rechtlichen und technischen Voraussetzungen erfüllt, dem/der sei noch eher die Destillation ans Herz gelegt, bei der die Schärfeausbeute noch höher und der Geschmack noch geradliniger ist. Für die Destillation bietet sich ein Extraktionsalkohol von ca. 70% Vol. besonders an, da darüber bzw. darunter die Ausbeute des charakteristischen Allylsenföls wiederum geringer ausfällt.

Communal (Michele Heinrich, The Kinly Bar)

Zutaten

3 cl mit Meerrettich redestillierter Auchentoshan American Oak
1 cl mit Kaffee redestillierter Auchentoshan American Oak
3 cl Lila Süßkartoffel Shrub
2 cl Verjus

Die Saison im Glas mit Ruben Neideck: Meerrettich im Cocktail
Meerrettich-Cocktails mit Schärfe: Der Star der Show. | ©Sarah Swantje Fischer

Meerrettich

Zutaten

5 cl Genever (Rutte Old Simon)
2 cl Verjus (Freimeisterkollektiv Grüner Veltliner)
2 cl Aprikosenlikör (Luxardo)
2 cl Manzanilla Sherry (Barón Micaela)
0,5 cl Meerrettichtinktur aus 96%-iger Kaltmazeration
0,5 cl Jasminlikör (Muyu / Monica Berg)
5 cl Kräutertonic (Aqua Monaco Green)

Credits

Foto: Sarah Swantje Fischer

Comments (1)

  • Peter Schütte BA Botucal Germany

    Klasse! Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich freue mich auf das Probieren!

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