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Wie ein kleines Barbuch aus München die American Bar unter den Nazis weiterleben ließ

Verständlicherweise hat man sich im Mitteleuropa der NS-Zeit wenig mit Barbüchern befasst. Aber mitten in München, im Epizentrum des Hasses, veröffentlichte ein gewisser Fritz Waninger im Jahre 1940 im Selbstverlag ein kleines Mixbüchlein. Wir haben uns mit dem Fundstück befasst – und den Status der „American Bar“ im Dritten Reich beleuchtet.

Die Bayern sind ein heroisches Volk, das jedoch aufgrund misslicher Umstände, schlechten Wetters und parteiischer Schiedsrichter recht wenige Kriege gewonnen hat. Das erfordert manchmal etwas Kreativität beim Heldengedenken, und zu den fortgeschrittenen Leistungen patriotischer Dialektik gehörte es lange, sich zwar an den Sieg im sogenannten »Siebz’ger Krieg« zu erinnern (1870, gegen Napoleon, wenn auch bloß den Dritten), die Trümmerhaufen 1945 aber gerne zu vergessen.

Spannender waren da diverse Aufstände und Revolutionen, aber die wichtigste endete 1918 mit der Räterepublik unter Kurt Eisner, und die Anzahl der einem Sozialisten errichteten Denkmäler fällt in diesen weiten Gauen nicht gerade in die Kategorie Flächenfraß. Ansonsten hatte man es lieber gemütlich, und weil man bei einem Aufstand qua definitionem nicht sitzen bleiben darf, hat man das dann halt bleiben lassen. Wenn den Bayern überhaupt was auf die Barrikaden trieb, dann höchstens eine Bierpreiserhöhung. Da wurde er rabiat. Gut, bei allem Hang zur Friedlichkeit, irgendwo hat der Spaß ein Loch.

Lässt sich nun daraus der Bogen schlagen zwischen historischem Getränkekonsum und Systemkritik? Gewagt, aber natürlich lässt sich das, schließlich sind wir hier nicht bei den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte. Auch wenn das, worum es im Folgenden geht, tatsächlich ein veritables Promotionsthema wäre: »Die American Bar im Dritten Reich.« Denn: Klar ist, dass es sie irgendwann nicht mehr gab. Mit Amerika im Namen ließ sich nicht mehr gut werben in einem Staat, der alles sogenannte Undeutsche einfach wegmorden ließ.

American Bar Nazis

Cocktails, Nazis und die deutsche Mixologie

Dabei hatte es eigentlich so gut angefangen: Zum einen gab es unter den Mixologen der ersten Stunde eine ganze Menge Deutsche: Harry Johnson (auch wenn es der Name nicht verrät) war Preuße, »The Only William« Schmidt hieß eigentlich Wilhelm und war für seine Getränke ebenso bekannt wie für seinen deutschen Akzent, der unschätzbare Hugo Ensslin, der erste trockene Martini bei Louis Muckensturm – da war man schon ganz vorne dabei. Und als in den USA die Prohibition zu wüten begann, da war Deutschland eines der Rettungsboote, in denen viel vom Cocktailwissen über den großen Teich gerettet werden konnte. Auch die einheimische Literatur konnte sich sehen lassen: Harry Johnson brachte sein Buch gleich zweisprachig heraus. Das Mixerbuch von Alfred Brehmer erlebte mehrere Auflagen und brachte dem neugierigen Leser den »Schüttelapparat« und die »Cocktailmaschine« nahe. Carl Seutters Der Mixologist, ebenfalls über Jahre hinweg immer wieder neu aufgelegt, führte mit seinem Titel auch gleich eine würdige Berufsbezeichnung in den deutschen Markt ein; Kirchners Lehrbuch der Getränke-Praxis kannte Ende der 1920er nicht nur alle gängigen Varianten vom Cobbler bis zum Toddy, sondern wusste sogar schon, was ein Daiquiri ist.

Die American Bar war eine zugkräftige Marke, und jedes größere Hotel schmückte sich gerne mit einer solchen, was sich schon an den zahlreichen Postkarten zeigt, die man mit diesem Motiv produzierte. Übrigens gilt das beileibe nicht nur für Berlin, das sich damals wie heute seinen Ruf als global relevanter Sündenpfuhl redlich verdient hatte – auch das beschauliche München, in Bezug auf weltläufigen Glamour doch recht deutlich hinter der Reichshauptstadt, bot dem durstigen Gast gleich an mehreren Plätzen die Gelegenheit zum gehobenen amerikanischen Mischgetränkegenuss.

American Bar Nazis
American Bar Nazis

Amerika zur falschen Zeit

Zur gleichen Zeit wurde München leider auch zur Keimzelle für den Aufschwung des »böhmischen Gefreiten«, zu seiner »Hauptstadt der Bewegung«. Die NSDAP wurde dort gegründet, und der Marsch auf die Feldherrnhalle war der erste Griff nach der Macht.
Und irgendwann gab es dann keine Postkarten mehr, auf denen stolz für die American Bar geworben wurde. Dafür gibt es tatsächlich folgendes kleines Fundstück, das in diesen Zeiten wie ein schmaler Silberstreif der Hoffnung erscheint: Das kleine Mixbüchlein von Fritz Waninger, »Serviermeister und Fachlehrer in München«, im Selbstverlag veröffentlicht. Und zwar im Jahre 1940. Auch wenn die USA erst ein Jahr später in den Krieg eintraten: Das war keine Zeit mehr, in der man gerne seine Sympathien für Amerikanisches ausdrückte.

Man kann ja davon ausgehen, dass sich für die Bars erst einmal nicht viel geändert hat. Von einem Verbot oder einer Kampagne gegen sie ist nichts bekannt. Vermutlich wurde einfach der Name geändert, und man machte weiter wie bisher. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps, das ließ sich doch sehr wörtlich verstehen, und wenn so ein Getränk tatsächlich etwas undeutsch im Glas perlte, dann fand man sich doch gerne zu dessen Vernichtung bereit. Bei den Überresten der American Bars in Deutschland dürfte allerdings der Krieg schnell die Versorgung mit feindlichen Spirituosen erschwert und so sukzessive eine Arisierung der Getränkekarten bewirkt haben.

Wo der Cocktail fehlt, sind die Barbaren am Zug

Das kleine Mixbüchlein von Waninger zeigt keine Anzeichen des Kriegs, der Not oder auch nur der Amerikafeindlichkeit. Er beschränkt sich der Übersichtlichkeit halber auf 50 Rezepte, die er in »appetitanregende Getränke« (Cocktails), sogenannte »long drinks« und »Pick me ups« einteilt. Und deutlicher als die meisten anderen (und mit einem bemerkenswerten Gefühl für die richtige Information zur falschen Zeit) weist er in seinem Vorwort darauf hin, dass das, was er da vorzeigt, nichts Deutsches ist:

»Die Erfindung der Mischgetränke ist amerikanischen Ursprungs. Jerry Thomas hat die ersten Mischproben gemacht und niedergeschrieben, und viele Fachleute haben dann später neue Mischungen ausprobiert und publiziert, so daß heute ca. 3000 verschiedene Mischgetränke existieren.«

Auch wenn da einiges nicht so ganz korrekt ist, so kann man schon feststellen, dass da einer sein Metier kennt. Die aufgeführten Drinks bestätigen das ebenfalls, wobei sich zu den Klassikern auch dubiose Neuschöpfungen wie Blondes Gift (Orange, Weinbrand, Apricot Brandy) oder der Teufels Cocktail (Angostura, Whisky, italienischer Wermut, Pfefferminzlikör, Paprika) gesellen. So viel ließ sich herausfinden: Waninger war tatsächlich Bartender, und zwar im Bayerischen Hof in München, auch damals schon eines der ersten Häuser am Platze, und natürlich bot auch der Bayerische Hof seinen illustren Gästen eine American Bar.

Was bewegte den Mann, 1940 dieses Heftchen herauszubringen, ohne Verlag, sieben Jahre nach den ersten Bücherverbrennungen, als schon lange die Zwangsmitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer herrschte? In einer Stellung, die ihn grade in München ziemlich exponierte? Ob er sich mit so einer Publikation tatsächlich in Gefahr begeben hat, wissen wir nicht, aber beliebt gemacht hat er sich nicht. Was ist aus ihm geworden? Hat er den Krieg überlebt? Hat er seinen Beruf weiter ausgeübt? Und – asking for a friend – wer hat seine Bücher geerbt?

Die 50 Standardgetränke des Fritz Waninger sind das einzige schriftlich bekannte Zeugnis einer zumindest noch rudimentär vorhandenen Cocktailkultur im NS-Deutschland. Natürlich ist angesichts des Horrors dieser Zeit, der tatsächlich für 1000 Jahre ausgereicht hätte, der Verlust des Barwesens bloß eine Marginalie. Aber dennoch ist dieser Fritz Waninger, auch wenn er bloß eine Randnotiz bleibt, ein kleiner Silberstreif in diesem Seitenkapitel der Geschichte. Und eines scheint sich doch herauszukristallisieren: Die Abwesenheit des Cocktails ist ein deutliches Signal für die Herrschaft der Barbaren.

Ein zweites Hauchen aus der Schweiz

Ein zweites Buch stützt die Indizienlage: Es ist eines der letzten umfassenden Lehrbücher zur American Bar jener Zeit, erschienen 1935 – aber nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz. Otto Bluniers The Barkeeper’s Golden Book ist das Werk eines offenkundig weitgereisten, erfahrenen Bartenders, der mit der umfassenden Gründlichkeit eines Harry Johnson an die Sache herangeht, und das auch noch in drei Sprachen. Neben einer großen Menge an Rezepten und Techniken werden auch Mobiliar, Werkzeug und alkoholische Grundausstattung angesprochen. Das Buch will den ganzen Beruf samt Infrastruktur abbilden. Dazu gehören auch etliche vergessene Weisheiten: »Zu diesem Berufe eignen sich sehr wenige Leute. Vor allem ist eine gute Kinderstube notwendig.« »Vor vollendetem 25. Lebensjahr sollte niemand Bartender sein dürfen, da man zu diesem Dienst gesetzte, erfahrene, ratgebende und vertrauenswürdige Personen will.« Auch für Außenstehende sei es enorm schwer, in die Elite des Berufsstandes vorzudringen: »Ueberläufer in diesem schweren Beruf, die tadellose Bartender wurden, gab es nur aus einer Klasse, und das waren Offiziere aus den verschiedenen europäischen Armeen, die aus irgendeinem Grunde den Dienst quittierten.«

Nun, die Offiziere aus den verschiedenen europäischen Armeen hatten bald anderes zu tun, als Cocktailbücher zu schreiben. Blunier, der seinen Otto lieber abkürzte, um internationaler zu wirken, konnte immerhin in der Schweiz noch ungefährdet arbeiten, und dass er ein geschäftstüchtiges Kerlchen war, zeigt die Tatsache, dass er tatsächlich von seinen USA-Reisen die Idee eines Speakeasys mit zurück in die Schweiz gebracht hatte und so schon vor 90 Jahren Kunden anlockte, indem er ihnen erst mal die Tür versperrte. »Oversea Club Knock!« stand da geschrieben. Immer wieder großartig, wie alt manche neue Idee schon ist. Und so fungierte die freie Schweiz als Gastland des vielleicht ersten Speakeasys, das ganz ohne Prohibition als reines Bar-Konzept geschaffen wurde. Und sie war der Ort, an dem eines der letzten deutschsprachigen Barbücher vor dem zweiten Weltkrieg erschien.

Als die Nazis Frankreich leer soffen …

Ein letztes Buch muss noch erwähnt werden, und nicht nur geografisch führt die Reise weiter, sondern auch, was die Ausstattung angeht: Von Waningers selbstgebautem, geheftetem 16-Seiter über den ordentlichen, bebilderten Leinenband Bluniers kommen wir zu einem der prachtvollsten (und teuersten) Bände, die eine Bar-Bibliothek je beherbergen wird: Frank Meiers The Artistry of Mixing Drinks, erschienen 1936. Frank Meier war in dieser Zeit legendärer Bartender des Hotel Ritz in Paris, und das ganze Buch ist Ritz, aber sowas von. Von der wunderschönen Art-déco-Gestaltung ganz abgesehen, ist das Werk von Anfang an auf Exklusivität getrimmt: 26 Exemplare, von A bis Z, waren für den Autor selbst vorgesehen. Dann gab es 300 weitere Exemplare auf handgeschöpftem Büttenpapier in römischer sowie 700 Stück in arabischer Nummerierung (letztere wohl für den nachrangigen Adel und banale Millionäre), allesamt signiert. Und das war’s dann. Ein Buch aus dem Ritz, das sicherstellt, dass es nur von Menschen gelesen wird, die sich das Ritz auch leisten können. Wäre sonst wohl auch ein Stilbruch.

Dem schönen Äußeren entspricht aber tatsächlich auch ein ebensolcher Inhalt. Über Frank Meier ist nicht so wirklich viel bekannt – geboren in Österreich, im Hoffman House in New York ausgebildet, im Zuge der Prohibition zurück nach Europa gekommen – aber er war ganz offensichtlich ein ebenso akribischer, detailversessener Arbeiter wie Johnson, Ensslin oder eben auch Blunier. Neben einer Vielzahl von Rezepten, darunter auch 40 eigenen, erteilt Meier auch Ratschläge eher peripherer Natur. Eine Alkoholprozent-Umrechnungstabelle ist vorhanden, falls sich der interessierte stinkreiche Hobbymixer mal ganz genau über die Unterschiede zwischen Gay-Lussac, Sykes, Cartier und American Proof informieren will. Eine Tabelle mit den Zeitunterschieden zwischen den wichtigsten Weltmetropolen? Sehr nützlich für den Reisenden. Recht befremdlich ist dann eher die Liste mit Mitteln gegen allerlei Vergiftungen, aber wer weiß schon, welchen Gefahren man damals im Ritz begegnete. Eine Seite zur nautischen Meile? Zahlen und Fakten über das Wesen der Erde? Die Berechnung von Kreisumfang und Durchmesser? Schadet nie, das zu wissen, außerdem hat man gleich ein Gesprächsthema, während man trinkt.

Interessanter als die Formeltabelle zum Winddruck ist aber doch die Situation, in der sich Frank Meier und das Ritz damals befanden. 1936 herrschte zwischen Deutschland und Frankreich noch kein Krieg, sondern nur die gute alte gegenseitige Abneigung. Vier Jahre später hatten die Nazis Frankreich besetzt, und die Besatzer brachten ihre Achtung vor einheimischen Kulturprodukten dadurch zum Ausdruck, dass sie den Franzosen die Keller leer soffen.

Der gute Mensch von der American Bar

Das Ritz beherbergte damals neben dem, was an zivilen Gästen noch übrig war, auch viele hochrangige Nazis; Funktionäre, Wehrmacht, Gestapo. Meier geriet später auch selbst in deren Fokus, weil er offenbar zum Teil jüdische Vorfahren hatte. Einstweilen aber genoss man lieber seine Getränke, anstatt ihn einzusperren. Und als gebürtigem Volksdeutschen fiel es ihm auch nicht besonders schwer, das Vertrauen seiner Gäste zu gewinnen – ohnehin eine Grundkompetenz des Bartenders –, und Frank Meier war laut Zeitzeugenberichten ein wahrer Meister der Gastlichkeit. Und damals wie heute erzählen wichtige Menschen am Tresen unglaublich gerne von ihrer Wichtigkeit. Frank Meier erzählte das dann umgehend der Résistance weiter.

Die Quellenlage ist dünn. Meier hat selber nie viel erzählt, aber das Ritz war tatsächlich ein lebendiger Hort des Widerstands, in dem falsche Papiere für Juden ausgestellt wurden und wo auch die Hitler-Attentäter konspirierten. War aber Meier tatsächlich im Widerstand aktiv? Dazu nur so viel: Er war als Österreicher vor dem Krieg im Ritz. Er war während des Krieges im Ritz. Und danach auch. Also: ja. Die (möglicherweise nicht mal erfundene) Geschichte von Ernest Hemingway, der mit dem Gewehr im Anschlag noch die letzten Nazis aus dem Ritz vertreibt, muss man vor dem inneren Auge noch um das Bild ergänzen, wie Meier eine Flasche heimlich gebunkerten Bacardis hervorholt und dem siegreichen Hemingway einen Daiquiri kredenzt. Und das ist ein sehr schönes Bild, das man jetzt nicht durch die Klugscheißerei zerstören sollte, woher er denn 1945 in Paris bitte Limetten hätte haben sollen. Mit dem U-Boot aus Brasilien vielleicht, weiß der Geier. Auf jeden Fall trank Hemingway in der Bar, die später sowieso nach ihm benannt wurde, einen Daiquiri, darauf muss man bestehen. Denn eines zeigen diese drei Bücher doch ganz deutlich: Um die Welt zu retten, braucht man dringend einen guten Cocktail.

Dieser Artikel erschien zuerst in MIXOLOGY Sonderausgabe 2019

Credits

Foto: Martin Stein

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