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Einfach mal richtig hinschauen!

Heute schon irgendwo einen zornigen Kommentar druntergesetzt? Das Kabinett der Schwarzweißigkeiten zementiert sich weiter und weiter in der Szene. Ein Aufruf dazu, einfach mal die Nerven kühl zu halten und genauer hinzusehen.

Eigentlich sollte man ja Social Media gar nicht mehr nutzen. Oder besser gesagt: Man sollte es nur noch proaktiv nutzen und nicht mehr darauf setzen, dass etwas Positives von alleine aus dem Äther geschwommen kommt. Ich habe mich ja schon mal vor etwas Längerem darüber beschwert, ich hätte den Eindruck, die Kommentarkultur der Barszene erschöpfe sich inzwischen fast ausschließlich in „Bäääste!“ und irgendwelchem unflätigen Geblubber. Keine Abstufungen, keine Schattierungen, kein Diskurs. Das stimmt auch immer noch größtenteils. Aber besonders in den letzten paar Wochen und Monaten kann ich mich eines spezifischen Eindrucks nicht mehr erwehren: Viele Bartender seilen sich nicht nur zwischen plumpen Einwortkommentaren hin und her, nein – sie lesen nur noch Überschriften.

Das Ergebnis, es steht schon vorher fest

Eines der besten Beispiele dafür: Die Bekanntgabe der Gewinner unseres MIXOLOGY TASTE FORUM (MTF) zum Thema Pisco. Ja, der Redaktion war vollkommen klar, dass man mit zwei chilenischen Piscos auf den ersten beiden Plätzen nicht unbedingt das erwartete Ergebnis hatte – in immerhin einer doppelten Blindverkostung mit zehn renommierten Verkostern doch aber wohl eines mit einer gewissen Aussagekraft. Doch den sich anschließenden Kommentaren zufolge ging es gar nicht darum, dass das Ergebnis nicht das erwartete war. Es war nicht das erwünschte.

Es folgten die üblichen Tiraden. Chilenischer Pisco sei gar kein echter Pisco, sondern Scheißdreck (sowieso eine beeindruckende Argumentation). Nur peruanischer Pisco habe es verdient, so genannt zu werden. Chilenischer Pisco reiche eigentlich nur dazu aus, die Barmatten zu desinfizieren. Und überhaupt, die Rangliste sei ja wohl da Letzte, das Magazin habe ja wohl den Arsch offen, das Ergebnis könne nur gekauft sein – schließlich gehören die beiden Sieger (aus Chile!) auch noch zu großen Firmen.

Schau doch mal hin: Es gibt Abstufungen, Feinheiten, Erklärungen!

Alles Standpunkte, alles gut. Fair enough. Nur haben diese Leute den Text hinter der Überschrift definitiv nicht gelesen. Schon gar nicht jenen wesentlich längeren Text zum Ergebnis des MTF in der betreffenden Ausgabe. Sie haben nur die Überschrift gelesen. Und sich dann darüber aufgeregt. Sonst hätten sie nämlich auch gelesen, wie verblüfft die Runde der versammelten Tester sowie die Redaktion selbst von diesem Ergebnis gewesen ist. Sie hätten aber auch gelesen, dass die Runde abschließend zu diesem Verdikt stehen wollte: Zu der Erkenntnis, dass die beiden chilenischen Piscos den Verkostern flächendeckend am balanciertesten und komplexesten über den Gaumen gekommen waren. Die Runde hatte eben blind verkostet und nicht nach Ansicht der Etiketten. Dann wäre ein solches Ergebnis – das behaupten wir hier einfach einmal – unmöglich gewesen. Weil Etiketten genau die gleiche wohlig-samtene Wärme offerieren wie Überschriften.

Ebenso hätten die Buh-Rufer gelesen, dass der Leiter des MTF, Peter Eichhorn, auch thematisiert hat, wie schwierig es ist, im Segment Pisco überhaupt zu vergleichen. Etwa seinen Hinweis, dass der als „U-Boot“ in die Verkostung eingesetzte peruanische „Mosto Verde“, eine Sonderform, auch ganz vorne dabei gewesen wäre. Aber so etwas bekommt man nicht mit, wenn man nur die Überschrift liest. Oder man im Groll über sie den eigentlichen Text nur noch durch die eigene Filterbrille lesen möchte.

Das große Missverständnis namens Cromwell

Dieses Beispiel mit einem eigenen Inhalt von MIXOLOGY wird übrigens hier nur deswegen herangezogen, weil wir dazu einen guten Zugang haben, nicht, weil es darum geht, jemandem vorzuwerfen, er verhalte sich dem Magazin gegenüber unfair. Es gibt auch genügend andere. Wir wollen nur einmal das Schlagwort „Cromwell“ in den Ring werfen.

Dabei geht es nicht um Lord Thomas Cromwell, den Lordsiegelbewahrer und zeitweise mächtigsten englischen Politiker unter König Heinrich XIII. Sondern um jenen Oliver Cromwell Gin, den Aldi in Großbritannien für umgerechnet ca. 11 Euro als Eigenmarke verkauft. Jener Gin hatte vor kurzem beim IWSC (einer jener zweifelhaften Bewertungs-Competitions für Spirituosen, bei denen man sein Produkt gegen Zahlung einer hohen Gebühr einreichen kann) den ersten Platz unter den Gins belegt. Ein gefundenes Fressen nicht nur für Fachmedien, sondern auch für viele große Tageszeitungen und Fernsehsender. Sogleich wurde die Pressemitteilung aufgenommen und an zahllosen Stellen in die Nachrichtenkanäle gepumpt: Aldi hat den besten Gin der Welt – wer weiterhin viel Geld für eine Flasche Wacholdergeist ausgibt, der ist selbst schuld. Schon seit einiger Zeit ist es klare Maxime vom MIXOLOGY, über die Ergebnisse dieser Bezahlwettbewerbe nicht mehr zu berichten, auch daher blieb eine entsprechende Meldung bei uns aus.

Doch das Problem war, dass die Meldung in den meisten Kanälen wesentlich verkürzt kam: Denn die IWSC bewertet nicht einfach Gin, sie unterteilt die Kategorie in zahlreiche Unterkategorien. Vor allen Dingen anhand des Alkoholgehaltes wird rubriziert, dazu anhand von Parametern wie „London Dry“ oder „Contemporary Style“, ob ein Gin ein „Signature Botanical“ hat, ob er holzgereift ist oder es sich um eine „Flavour“-Variante wie z.B. Sloe Gin handelt.

Was jedenfalls die allermeisten Medien nicht mitbekommen hatten (oder zugunsten der Überschriftengestaltung bewusst unter den Tisch fielen ließen), war die Tatsache, dass jener Oliver Cromwell Gin mit der Kategorie „Gin zwischen 37 und 38 Volumenprozent“ den Sieg in der untersten Kategorie überhaupt davongetragen hatte. Einer Kategorie, die somit Destillate umfasst, die innerhalb der EU gar nicht als Gin verkauft werden dürfen. Denn die einschlägige Verordnung verlangt von „Gin“ einen Mindestalkoholgehalt von 37,5% Vol., dem der Cromwell gerade so Genüge tut. Und auch in dieser Kategorie erreichte der Gin gerade einmal die Note „Silver Outstanding“, was, wenn man sich mit den Mechanismen jener „Wettbewerbe“ ein wenig beschäftigt hat, eigentlich nicht mehr als gesundes Mittelmaß darstellt.

Der doppelte Überschriftenleser

Der beste Gin der Welt – erhältlch beim Discounter? Nein, ganz sicher nicht. Einer der ersten, die im allgemeinen Wirbel der Entrüstung darauf aufmerksam machten, dass die Meldung, wenn überhaupt, mit großer Vorsicht zu genießen sei, war der immer wachsame Hamburger Barbetreiber Joerg Meyer, dessen Aktivitäten sogar den Stern dazu brachten, eine Meldung zum Sachverhalt zu bringen. Und Meyer machte nicht den Fehler, die Marke Aldi oder Cromwell Gin zu bashen – sondern den „Headline Reader“, wie er ihn nannte. Jenen Leser, der nur die Überschrift liest und dann annimmt, alles zu wissen. Steht ja im Internet. Muss ja richtig sein.

Wie sehr die Headline Reader dann auch wieder Meyers Beitrag selbst missverstanden (der für Facebookverhältnisse wohl schon zu lang war), zeigten die Reaktionen in den mehreren Hundert (!) Kommentaren: Warum Meyer sich denn aufregen würde über einen Discounter-Gin. Könnte doch sein, dass der schmeckt. Gefühlt nur ein kleiner Teil bekam die Medienkritik als eigentlichen Inhalt von Meyers Post überhaupt mit. Schon beinahe ein Fall von Meta-Headline-Reader! Da weist einer darauf hin, dass viele Überschriften im Prinzip eine Falschmeldung bringen, und viele seiner Leser lesen nur die Überschrift.

Die Barszene ist noch immer jung, klein und kompakt. Aber sie hat nach einer Zeit der Renaissance und des Wachstums eine gewisse Größe und damit jenen Punkt erreicht, an dem es Zeit für Konsolidierung gibt. Dieser muss sich auch im Umgang mit Medien und Fachmedien einstellen. Wer nur Überschriften liest und diese dann abfeiert oder abfertigt, weil sie auf den ersten Blick seiner Perspektive entsprechen oder nicht, der verhält sich falsch. Wer per se davon ausgeht, eine Verkostung sei nichts Wert, weil sie nicht das Ergebnis bringt, das er sich von vornherein erwartet, der zeigt, dass er sich mit der Materie nicht genügend auseinandergesetzt hat. Wer nur die Überschrift liest, braucht sich nicht zu wundern, dass er auf Fake News oder Halbmeldungen reinfällt. Da muss sich noch was tun.

Credits

Foto: Foto via Shutterstock.

Comments (2)

  • Stephan Körner

    Treffend geschrieben. Danke.

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