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Pharmapoesie: Wie neue Liköre eine moderne Likörkultur erschaffen

Die Likörtradition der deutschsprachigen Länder ist, neben der italienischen, die vielleicht reichhaltigste der Welt. Vor allem aber bringen Deutschland, Österreich und die Schweiz aktuell eine völlig neue Likörkultur hervor: gemacht von hochqualifizierten Überzeugungstätern, die mehr auf Substanz als auf Marketing setzen. Ein kleiner Querschnitt.

Liköre gehören sicherlich zu der Spirituosengattung mit der größten Vielfalt und Qualitätsdichte. Unbedingt sind sie aber die Poeten unter den Geistgetränken: Die phantasievollen Namen changieren zwischen Heimatdichtung und romantisch-urbaner Sehnsuchtsavantgarde. Auch wenn im Lebensmitteleinzelhandel immer noch die klassische Trennung zwischen Bitter-, Halbbitter- und Crèmelikören (insbesondere Eierlikör ist in Deutschland zu nennen) stattfindet, ist die Vielfalt bestechend. Profis und Experten wissen das schon lange, aber nach und nach wird das auch vom Verbraucher wahrgenommen. Auch die großen Traditionshäuser sind an Innovationen interessiert und bringen, oft in Zusammenarbeit mit renommierten Bartendern und Branchenexperten, feine Varianten auf den Markt, dem zeitgemäßen Trend folgend mit weniger Zucker und geringerem Alkoholanteil

Es existieren weltweit Tausende Varianten in Kategorien wie: Kräuter-, Frucht- Créme-, Café-, Kloster- oder Whiskyliköre, um nur einige zu nennen. Eine Gesamtübersicht würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Wir haben uns bei einigen »jungen« und jung gebliebenen Produzenten umgehört. Bei Quereinsteigern, Traditionsherstellern und Exoten. Bei Technikfreaks und Laborexperten. Was treibt sie an, wie definieren sie sich, worin besteht ihre Orientierung, welche Verfahren nutzen sie?

Neue, deutsche Liköre und traditionelle Moderne

Die Betreiber der Berliner Bar Becketts Kopf, Oliver Ebert und Cristina Neves, stellen selbst einen Veilchenlikör her und sind bekennende Liebhaber der Spirituose. Aus Ebert sprudelt es nur so heraus: »Mozer aus Pfedelbach, Fridolin und Anneliese Baumgartner, Peter Eckert mit seinem Blutwurz- und Bärwurzlikör, die Preussische Spirituosen Manufaktur mit ihren Kräuterlikören, Oliver Matter aus der Schweiz mit der Tempus-Fugit-Serie, Jägermeister von den Großen mit sauberer Arbeit und echten Kräutern, Kloster St. Ottilien, Frau Zott, Frau Steinmann mit ihrem Quitten- und Mispellikör, Josef Farthofers Brombeerlikör – alles Produzenten der Extraklasse.« Ein ganz besonderes Faible hegt er für die Erzeugnisse von Georg Hiebl aus dem niederösterreichischen Mostviertel: »Wunderbare Fruchtliköre voller Länge und Sättigung. Ideal zum Mixen!«

Der bescheiden und zurückhaltend auftretende Edelbrenner Hiebl ist mehrfach international ausgezeichnet worden und mit seinen Produkten weit über die Landesgrenzen hinaus geschätzt. Ihm gelingt es, eine unglaubliche Produktvielfalt mit stets höchster Qualität in Einklang zu bringen und Tradition mit Moderne zu verbinden. Bei der Produktion von Likören setzt er den Früchten oder Gewürzen nicht Neutralalkohol, sondern Geiste oder Destillate zu, »damit erreichen wir insbesondere an der Nase eine große Tiefe und Intensität. Zudem haben wir ganz in der Nähe unseres 300 Jahre alten Vierkanthofes einen Klostergarten, der uns erstklassige Produkte liefert, wie zum Beispiel die Rosen für unseren Rosenlikör«. Hiebl vertreibt seine Liköre vorwiegend an Privatkunden, die Gastronomie und Spezialitätenläden: »Wir machen eigentlich keine Werbung, das läuft alles über Mundpropaganda.« Die Auswahl ist beeindruckend. Diverse Nussliköre, Schoko mit Minze oder Chili, Vanille-Orange, Rotweinlikör, Rum-Karamell, Heidelbeer-Ingwer, Cocos-Ananas, Whisky- und Eierlikör und einige mehr sind verfügbar. »Eines unserer beliebtesten Produkte ist der Zirbenlikör oder Zirbenzapfen, wie wir hier sagen. Den gibt es eigentlich auf jeder Hütte. Der hat hier eine große Tradition und schmeckt wunderbar harzig-kräuterig.« Da schimmert dann doch ein wenig Stolz hinter der Zurückhaltung auf.

Granit Apple Hi
Raphael Holzer, Fernet Hunter

5c l Fernet Hunter Granit
3 cl trüber Apfelsaft oder Kimino Ringo
5 cl würziges Ginger Ale
5 cl frischer Limettensaft

Drink im Glas auf Eiswürfeln bauen und mit einer geflämmten Limettenzeste garnieren.

Exot und der Geist von Malente

Wer in diesen Zeiten der Dauerempörungskultur ein totgeschossenes Reh auf sein Etikett druckt, hat entweder ein dickes Fell oder ist besser weit weg. Raphael Holzer ist so jemand. Holzer wuchs im Brunnwald, 30 Kilometer von Linz entfernt im österreichischen Mühlviertel, auf einem Jagdschloss mit einer elterlich betriebenen Gastwirtschaft auf. Bereits sein Urgroßvater war im Spirituosengeschäft tätig. Er leitete das Triester Unternehmen Camis & Stock, das auch ab 1927 im böhmischen Ableger den Bitterlikör Fernet Stock produzierte (»Fernet« ist eine offene Gattungsbezeichnung für Bitterliköre). Auch Großvater und Vater blieben der Spirituosenerzeugung treu.

Holzer absolvierte die Tourismusschule, dann verschlug es ihn über die USA und Dubai in den asiatisch-pazifischen Raum. Australien, Peking, Hongkong. Dort eröffnete er Restaurants, die auf den Namen Yard Bird hören und lernte dabei seinen Partner Neville Kotewall kennen. »Mit ihm zusammen ist dann die Idee entstanden, einen leichten, frischen Amaro zu entwickeln. Der Launch ist dann im September 2016 in Hongkong gewesen – der Fernet Hunter mit totem Reh auf dem Flaschenetikett.« Inzwischen hat sich die noch schlankere, zuckerärmere Variante »Fernet Hunter Granit« hinzugesellt. »Ich muss jetzt wieder in die Heimat, dort produzieren wir. Für die Permutation brauchen wir entsprechende Temperaturen, im Winter funktioniert das nicht«, so Holzer. Er verwendet 15 verschiedene Kräuter und Gewürze aus dem regionalen Hochland oder aus dem eigenen Garten. Charakteristisch sind Iriswurzel, Arnika und als Tonikum Lavendel. Beim »Granit« wird zur Harmonisierung noch Kamille beigegeben, »beide Amari trinken sich auch hervorragend mit Soda als Highball auf Eis«.

Er mache das mit seinem Bruder. Anschließend werden die Abfüllungen nach Hongkong verschifft. Von dort aus bedienen die beiden Partner die Märkte in Taiwan, den Philippinen, Singapur und Vietnam. »Die Kunden in Asien sind sehr interessiert und offen für unsere Amari, allerdings muss man am Ball bleiben. Der Markt ist hoch volatil. Hauptsächlich verkaufen wir an Restaurants und Bars.« Inzwischen ist das Produkt auch in Österreich erhältlich und sogar im Soul Objekts in Berlin-Prenzlauer Berg wird Fernet Hunter ausgeschenkt. »Wir bauen das gerade auf und suchen noch Partner in Deutschland und Europa«, beschreibt Holzer die Zukunft. Ob er denn schon Empörung wegen eines jagdlicht dahingestreckten Rehs bekommen habe? »Es haben schon mal Leute bei meiner Mutter angerufen. Ich habe ihr gesagt, sie solle meine Nummer in Hongkong geben.« Da überlegt man sich dann doch zweimal einen Anruf und ob die Aufregung bis dorthin reicht.

Unglaubliche Vielfalt an Möglichkeiten neuer Liköre

Aufregung und Ärger gab es auch 1974 in Schleswig-Holstein in der berüchtigten Nacht von Malente. Die WM-Spieler feilschten mit dem DFB um Siegprämien und beinahe wären der Kader und Bundestrainer Helmut Schön abgereist. Deutschland im eigenen Land blamiert. Es kam zur Einigung und aus dem Streit erwuchs der berühmte Geist von Malente. Bis heute als ursächlich gehalten für Zusammenhalt und späteren WM-Titel.

Aus diesem beschaulichen ostholsteinischen Ort kommt auch Matthias Sievert. Wer mit ihm spricht, muss schnell sein mit Stift und Kopf. Sievert ist Händler für pharmazeutische Laborbedarfstechnik: »Universitäten oder die Cannabisindustrie zählen zu meinen Kunden.« Inzwischen ist er mit seiner Marke und Destillerie Spiritus Rex der Nachlassweiterentwickler von Christoph Keller und der legendären Stählemühle. Angefangen hat alles vor über zehn Jahren: »Den besten Schnaps für gute Kumpels brennen, das war die Initialzündung.« Das wollen viele. Sievert stürzte sich aber gleich mit professionellem Furor in das Unterfangen. Erfahrungen sammelte er dabei vor allem als Kuckucksbrenner.

Der eigentliche Brandbeschleuniger war aber die Bekanntschaft mit Christoph Keller 2011. Sie mündete in einer Freundschaft und einem kongenialen Verständnis für die intuitive Obsession und wissenschaftliche Verfahrensweise, um das Optimum in jeder Phase des Brennens zu realisieren. Als Keller 2016 seinen Rückzug bekannt gab, fragte er Sievert, ob der den Geist der Stählemühle weitertragen wolle. Nach einem Jahr des Abwägens wurde »der versponnene Gedanke« in die Tat umgesetzt. Keller überließ seinem Nachfolger einige Rezepte und begleitete den Übergang. Inzwischen steht die Ausrüstung in Bad Malente, von dort aus geht er nun seine eigenen Wege. Wie bei Sieverts beruflichem Hintergrund nicht anders zu erwarten, verfügt er nicht nur über eine eigene Streuobstwiese, sondern in seiner landwirtschaftlichen Brennerei über allerlei labortechnische Geräte, die in die Destillationsprozesse einbezogen werden. Bei Sievert ist das keine Attitüde, er weiß genau, was er tut. Sievert begreift das Brennen als Forschungsreise: »Es geht darum, so nah wie möglich an den Ursprung der Ausgangsprodukte heranzukommen. Sie zu atomisieren, um sie neu zu komponieren. Ich homogenisiere zum Beispiel mit Ultraschall. Das kitzelt noch feinere, elegantere Aromen aus dem Destillat.« Genauso intensiv befasst er sich mit Fässern, Hölzern und greift auch da hin und wieder auf ungewöhnliche Methoden zurück: »Aus Kirgisien habe ich seltene Triebe verschiedener Obstbäume ›eingeschmuggelt‹.«

Inzwischen wendet er sich auch der Produktion von Likören zu. Ein schwarzer Johannisbeer-, Mirabellen- und Eierlikör mit Kirschwasser: »Ich stehe da noch am Anfang, aber die Vielfalt der Möglichkeiten ist unglaublich. Aber ich sollte besser nicht zu viel verraten«, hüllt sich der Geist von Malente in Schweigen. Hier gärt die Zukunft im Drucktank.

Ginseng Mule
Christof Reichert, Berlin

4 cl Dr. Jaglas Ginseng-Elixier
½ Limette, ausgepresst
Ginger Beer

Drink im Glas auf Eiswürfeln bauen und mit einem hausgemachten Gurken-Espuma (aus Gurkensaft und Eiweiß im Sahnesiphon bereitet) toppen. Mit einer Dillspitze garnieren.

Neue Liköre werden von Überpharmazeutungstätern gemacht

Ganz ohne die Inspiration der Stählemühle ging es auch bei der studierten Apothekerin Dr. Christina Jagla nicht: »In Berlin habe ich im Museumsshop eine Flasche Monkey 47 gesehen. Schnaps in Apothekerflaschen, das war die Eingebung, die Familientradition wieder zu beleben.« Schon der Urgroßvater produzierte in seinem Kolonialwarenladen ein Kloster-Elixier, einen hochprozentigen Magenbitter, der sich als Digestif schnell einen Namen machte. Christina Jaglas Vater entwickelte ihn Ende der 1960er-Jahre weiter, indem er eine Artischockentinktur ansetzte und das Artischocken-Elixier kreierte. Wenig später folgte das Ginseng-Elixier, alle Zutaten entsprechen dem Standard des Arzneibuches, reine Apothekerware. Bis eben zu der erwähnten Begegnung im Museumsshop, vor allem aber mit Christof Reichert, der war damals Bartender im Basler Hotel Les Trois Rois. Ihm stellte Christina Jagla die Produkte vor und seit drei Jahren ist sie mit der Range Dr. Jaglas auf dem Markt. Reichert hat dafür eigens Signature-Drinks entworfen.

Die Auszüge und Tinkturen werden in der heimischen Apotheke in Wuppertal produziert, der Vertrieb sitzt in Berlin. »Wir handeln unsere Elixiere auf B2B-Messen, über Provisionsvertrieb und sind in Restaurants und Bars vertreten«, erklärt sie. So angesehene Berliner Adressen wie Nobelhart & Schmutzig und das Rutz sind darunter. Inzwischen bereichern ein zuckerfreier Navy Gin (»Dry GIN-seng«) und ein »Glühweinkräuter-Elixier« das Sortiment.

Furore machte auch die bittersüße Sonderedition »Maca Ginseng-Elixier« für Die Zeit. Dem Ginseng-Elixier wurde die nussige Maca-Wurzel beigegeben, um das Profil weiter aufzuschließen. Als nächsten Schritt plant Christina Jagla die Klostertradition in die nächste Kategorie zu verlagern. Diese ist nicht unumstritten, aber wer ohne Vorbehalte damit umgeht, erkennt mehr als nur einen Trend (siehe MIXOLOGY 2/2020): »Ich entwickle gerade einen alkoholfreien Aperitif mit Hibiskus«, verrät sie. Obwohl es das eigentlich nicht gibt: auf gesund folgt gesünder.

Inzwischen sind sie Legende. Die Geschichten von zufällig gefundenen Rezepten: auf Dachböden, in Kisten, auf einer Insel oder dem Mond. »Ich saß neben meinem Vater am Kamin, als er private Briefe, auch Liebesbriefe, verbrannt hat. Plötzlich tauchte ein DIN-A6-Blatt von Opa Edmund mit einem Likörrezept auf, das mein Vater mir dann ausgehändigt hat«, lacht Dr. Martin Kullmer. Er kennt die Marketing-Tricks, schwört aber hartnäckig, dass es so war und man mag es ihm glauben. Damit begann der Trip in eine eigentlich nahe und doch so ferne Welt. »Ich habe dann viel Fachliteratur gelesen und in der eigenen Apotheke mit allerlei Auszügen experimentiert. Es ist ja eigentlich alles in der Lieferkette drin und die Zutaten sind konform zum Arzneimittelbuch.«

One Trick Pony macht eine Trinklinie mit den neuen Likören

Auch Kullmer kommt aus einer Apothekertradition über Generationen. »Da wir ja kaum noch selbst Dinge herstellen, war das der besondere Reiz. Ethanol-Wasser-Mixturen, Pflanzenauszüge, das ist unsere technisch-historische Tradition. Das zu kombinieren mit Mazeration, Destillation und Perkulation hat mich fasziniert.« Kullmer hat dann einige Likör-Varianten zur Reife gebracht und suchte sich fachmännischen Rat bei Ralph Schmidt in Freiburg. Der betreibt die Weinhandlung Drexler und war so angetan, dass er gleich mehrere Flaschen bestellte: »Er war der Katalysator dafür, das Ganze zur Marktreife zu bringen.« Seit 2017 sind die Produkte im Handel und haben bereits mehrere Auszeichnungen erworben. So war es konsequent, dass Boris Gröner, Mitinhaber der exzellent beleumundeten Freiburger Bar One Trick Pony, eigens für »Edmunds Liköre« eine Drink-Linie entwickelt hat.

Kullmer ist am Brüten. Er kann sich vorstellen, bald noch intensiver ins Likörgeschäft einzusteigen. Im Moment sortiert er Anfragen zur Bitters-Herstellung. »Ich bin am Recherchieren, das ist was für die Zukunft.« Aktuell gibt es genug zu tun, die Nachfrage nach seinen aktuellen Produkten zu befriedigen. Die hören auf die schönen Namen: Krambambuli, Maranera, Kolanitida und Bitterfürst. Poetisch. Passend zu den neuen Likören eben. Und der neuen Likörkultur.

Dieser Text erschien erstmals in leicht abgeänderter Form in der Ausgabe 3/2020 von MIXOLOGY – Magazin für Barkultur.

Credits

Foto: Editienne

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