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London erwacht: Erste Eindrücke nach dem Ende des Lockdowns

Ferdinand Guizetti ist Bar-Manager der „Untitled Bar“ in London. Mitte April durften Bars in der britischen Hauptstadt unter Auflagen wieder ihren Außenbereich öffnen, mittlerweile auch den Innenbereich. Für MIXOLOGY Online rekapituliert der gebürtige Münchener die ersten Wochen nach dem Ende des Lockdowns und fragt sich: Finden Gäste zur Normalität zurück? Und was ist normal?

11. April 2021 – London erwacht

Der 11. April ist ein eher grauer Sonntag in London, also so weit nichts Ungewöhnliches. Doch es liegt etwas in der Luft. Es erinnert an den letzten Schultag, bevor die Sommerferien beginnen. Auch wenn es für Bartender, Baristas und Kellner eher andersherum ist. Es liegt mehr Bewegung über der Stadt und die Menschen lächeln, was in den vergangenen Monaten natürlich nicht allzu häufig vorkam – zum einen, weil die Londoner eben sind, wie sie sind, zum anderen, weil es ein harter Winter war.

Aber jetzt scheint es, als sei die britische Hauptstadt bereit für den Frühling, bereit zum Aufwachen und bereit, sich zu erholen. Erholen von den Monaten der Abschottung, der Isolation und der existenziellen Sorgen für eine Branche, die im Herzen dieser sonst so pulsierenden Stadt schlägt: das Gastgewerbe – die Branche, für die ich nach London gezogen bin.

Es fühlt sich an, als würde man die Bar neu eröffnen

So, jetzt geht’s los. Es ist der Tag, bevor Bars, Restaurants und Cafés in Großbritannien offiziell ihre Außenbereiche öffnen dürfen. Die Untitled Bar öffnet zum ersten Mal seit Mitte Dezember 2020, was sich wirklich wie eine Ewigkeit anfühlt. Im Dezember durften wir plötzlich für drei Wochen öffnen, nachdem wir vier Wochen lang geschlossen waren, nur um ein paar Tage vor Weihnachten wieder geschlossen zu werden. Davor war die Gastronomie nach einer viermonatigen Schließung vier Monate lang geöffnet gewesen.

Ich denke, Sie haben den Punkt verstanden: Die Politik in Großbritannien ist ungefähr so beständig wie das Wetter in London. Der einzige Unterschied ist, dass das Wetter für die kommenden Monate vielversprechender aussieht. Nach monatelangem Auf und Ab wird endlich wieder Normalität einkehren. Irgendwie. Masken sind Pflicht für das Personal und für die Gäste, bis sie an ihrem Tisch sitzen. Es gilt ein Meter Abstand zwischen den Tischen, Sechs-Personen-Regel oder zwei Haushalte im Freien. Gäste müssen sich bei der Ankunft mit der NHS-Track-and-Trace-App anmelden. Ansonsten ist alles wieder normal. Aber was ist schon normal? Damit sich unsere Gäste wohlfühlen, gehen wir die Extrameile und messen ihre Körpertemperatur und bieten Handdesinfektionsmittel und Gesichtsmasken an, nur für den Fall. Aber wird all das tatsächlich dazu führen, dass sich unsere Gäste wohler fühlen, oder wird es zu ihrem Frust beitragen? Wir wollten doch Normalität und nicht noch mehr Regeln und Einschränkungen, richtig?

Der „Moon Garden“ der Untitled Bar in London freut sich über Auslastung

Zurück auf Null

Eine Bar nach all den Monaten wiederzueröffnen, fühlt sich an, als würde man sie von Grund auf neu eröffnen. Die meisten unserer Produkte sind abgelaufen, ein Teil unseres Personals ist nach dem Lockdown nicht aus Italien, Griechenland oder der Slowakei zurückgekommen. Das letzte Mal, dass wir Gäste hatten, war um die Weihnachtszeit – als Großbritannien noch Teil der EU war.

Jetzt steht nur der im Außenbereich im Garten zur Verfügung, und es ist schwierig, gutes Personal mit einem UK-Visum zu finden. Alles zurück auf Null also. Nach zwei Wochen Tiefenreinigung, Einarbeitung neuer Mitarbeiter, Bestellungen und Vorbereitungen sitzt das Team im Garten zusammen, wo wir morgen um 17 Uhr unsere ersten Gäste begrüßen werden. Zum ersten Mal seit vier Monaten. Wir machen ein Brainstorming, ob wir an alles gedacht, genug Vorräte bestellt und genügend Heizkörper im Garten haben. Wir gehen jeden kleinen Schritt immer wieder durch: Wie begrüßen wir unsere Gäste? Welche Hygienemaßnahmen haben wir ergriffen? Haben wir überprüft, ob alle Systeme funktionieren? Nachdem wir alles zum dritten Mal durchgegangen sind – und obwohl ich mir sicher bin, dass wir etwas vergessen haben werden –, machen wir Schluss. Als ich in der Nacht vor der großen Wiedereröffnung im Bett liege, fühle ich mich einigermaßen zuversichtlich, aber immer noch leicht besorgt. Die Buchungen sahen gut aus, aber was, wenn die Menschen nicht auftauchen? Londoner haben die Tendenz, mehrere Plätze gleichzeitig zu buchen und vor Ort zu entscheiden, in welche Bar oder welches Restaurant sie gehen wollen. Oder was ist, wenn zu viele Gäste auftauchen? Nachdem wir so lange geschlossen haben, müssen wir so viele Gäste wie möglich unterbringen, ohne zu lange Wartezeiten für Getränke oder Essen zu riskieren. Und natürlich müssen wir uns an die Abstandsregelungen zwischen Tischen und Gästen halten …

Untitled Bar

538 Kingsland Road
London e8 4ah London

12. April 2021, 15:00 Uhr – Es ist so schön, wieder da zu sein

Zwei Stunden vor Öffnung stelle ich fest, dass wir nicht überprüft haben, ob unsere Kartenautomaten funktionieren. Ich wusste, ich hatte etwas vergessen. Wir hatten noch nie Probleme mit ihnen, also bin ich sicher, dass sie in Ordnung sind. Ich versuche trotzdem, eine Kartenzahlung vorzunehmen – keine Verbindung. Wir versuchen es erneut, setzen zurück und stellen die Verbindung wieder her. Nichts funktioniert. Ein Anruf bei der Support-Hotline muss her. Fast zwei Stunden und rund zwölf graue Haare später sind wir startklar. Alle im Team waren fünf Stunden vor Öffnung in der Bar und wir haben es trotzdem gerade noch geschafft, alle Vorbereitungen rechtzeitig zu beenden. Ein Klassiker.

Gleich nach der Eröffnung kommen die ersten Gäste: „Es ist so schön, wieder hier zu sein!“ – „It’s even better to have you back!“ ist die Antwort, die implizieren soll, dass wir uns an ein Gesicht erinnern, das nur einmal zuvor in unserer Bar war – und das war vor vierzehn Monaten und drei Schließungen. Es gibt aber auch viele bekannte Gesichter, und das fühlt sich großartig an!

Die ersten paar Drinks zu machen, fühlt sich bizarr an. Alle Bewegungen sind eingerostet und nicht mehr so geschmeidig, wie sie es einmal waren. Ein Tablett zu halten, mit den Gästen zu sprechen und vor allem so viele Menschen auf einem Fleck zu sehen, scheint unwirklich. Aber etwa eine Stunde nachdem wir unsere Türen geöffnet haben, sind alle Zweifel und Sorgen verflogen. Es stellt sich heraus, dass wir so ziemlich an alles gedacht haben und das Team einen tollen Job beim Aufbau und der Vorbereitung gemacht hat. Unsere Gäste scheinen sich wohl zu fühlen. Eine Gruppe bestellt gleich bei der Ankunft eine Runde Mezcal und bleibt die ganze Nacht, lacht und genießt sowohl sich selbst als auch unsere Getränke und Speisen. Andere rücken ihre Stühle weiter weg von anderen Tischen, obwohl wir schon mehr Platz als nötig haben, trinken stillschweigend zwei Drinks und gehen.

London feiert bereits bis spät in die Nacht

Trotz des erwarteten Schluckaufs verlief die erste Nacht großartig. Auf dem Rückweg von einer anstrengenden, aber sehr lohnenden ersten Schicht fahre ich mit dem Fahrrad durch Shoreditch, bekannt als Londons urbanes Kunst- und Modezentrum, aber auch berüchtigt für Junggesellenabschiede, die aus dem Ruder laufen und in handgreiflichen Auseinandersetzungen enden oder bei denen sich hippe Londoner auf dem Bürgersteig übergeben. Heute ist die Stimmung gut. Die Leute sind so glücklich, wieder draußen zu sein, dass sie in Gruppen von zehn und mehr Leuten feiern, die sich an einem Tisch zusammenkauern, mit Fremden rummachen und versuchen, dem Türsteher wortreich zu erklären, warum sie noch einen Schuss Tequila trinken dürfen. Ich stelle fest, dass unser Hygienemaßstab definitiv über dem Durchschnitt liegt. Der Rausch kehrt nach London zurück, und ich frage mich, ob ich diese Nächte vermisst habe. Ich denke, das habe ich. London ist eine verrückte Stadt, in der Menschen aus allen Gesellschaftsschichten leben, und es ist schön, diese Menschen wieder auf den Straßen zu sehen. Es ist schön, zurück zu sein.

13. Juni 2021 – Zurück ins Leben

Jetzt ist es Mitte Juni und die Gastronomie darf sowohl ihren Außen- wie auch Innenbereich öffnen. Es gibt immer noch jede Menge Vorschriften, wie z.B. die maximale Anzahl von Personen, die an einem Tisch sitzen dürfen, aber abgesehen davon fühlen sich die Dinge ganz normal an. Es gibt immer noch neue Gäste, die sagen, dass sie das erste Mal seit dem ersten Lockdown wieder draußen sind. Es erfüllt einen mit Demut, dass sie zum ersten Mal seit einem Jahr in die Untitled Bar kommen und noch mehr, wenn sie sich dafür bedanken, dass wir ihren ersten Abend so besonders gemacht haben. Diese Leute sind seit über einem Jahr nicht mehr ausgegangen, weil sie Angst vor dem Virus hatten. Wenn sie einem sagen, dass sie jede Minute genossen haben und sich in ihrer Zeit bei uns wohl und sicher gefühlt haben, bedeutet das, dass wir ein paar Dinge richtig gemacht haben.

Es ist ein Samstagabend und wieder fahre ich durch Shoreditch nach Hause. Jetzt ist es wärmer, es ist nicht mehr grau. Ich kann hören, wie sich Fremde streiten, weil jemand auf die weißen Balenciaga-Pantoffeln eines anderen getreten ist. Eine Gruppe sehr gesprächiger und sehr betrunkener Mädchen mit hochhackigen Schuhen rennt fast in mich hinein. Eine ganz normale Nacht hier. London ist wirklich wieder zum Leben erwacht, obwohl es immer noch eine langsame und ungewisse Erholung ist. Ich spreche auch mit Freunden und Familie in Deutschland, wo Bars und Restaurants gerade wieder öffnen, und ich lächle. Ich freue mich darauf, dass Deutschland und der Rest der Welt langsam erwachen und sich wieder lebendig fühlen – genau wie London.

Credits

Foto: Untitled Bar

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