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What would Honeydew: Mit „Zero“ dekliniert das The Aviary in Chicago nichtalkoholische Getränke neu

Von O auf 100 in 250 Seiten: Grant Achatz aus dem Restaurant Alinea sowie der Bar The Aviary legt ein erstaunliches Buch über nichtalkoholische Getränke vor. Reinhard Pohorec ist nach der Lektüre von Zero nicht nur glücklich, sondern auch herrlich berauscht, ganz ohne Schwips und Kater.

Die 2005 gegründete Alinea Group rund um Kulinarik-Wunderwutzi Grant Achatz ist nicht gerade für leicht verdauliche Kost bekannt. Nicht im Sinne der Bekömmlichkeit dessen, was in den höchstdekorierten Restaurants und Bars auf Teller und Glas landet, sondern hinsichtlich der Komplexität im Hintergrund.

2011 eröffnete Grant Achatz mit The Aviary eine Cocktail-Lounge. Deren elaborierte Grundphilosophie übersetzt das Buch „Zero“ nun stringent in die Sprache nichtalkoholischer Getränke. Der im Subtitel proklamierte „Neue Zugang“ spiegelt sich in sechs schlüssig aufgebauten Kapiteln wider, beginnend – wie könnte es anders sein – beim „mise en place“.

Der kulinarische Ansatz zum Thema Drinks heißt nichts anderes, als dass ebenjene Präzision, Detailverliebtheit und technische Perfektion, die man von den hauseigenen Küchenbrigaden kennt, im Barkosmos Anwendung finden. Zudem wird den bekannten Zutatenwelten und der DNA klassischer Cocktails auf den Grund gegangen.

Der neue, kulinarische Approach

Nachdem die Autoren die einzigartigen Charakteristika von Alkohol im Drink und als soziales Schmiermittel analysieren, bringen sie die quintessentielle Frage zu Papier: Wie lassen sich dasselbe Interesse für und dieselbe Tiefe in Getränke zaubern, denen ebenjene potent-voluminösen Prozentumdrehungen fehlen?

Die dafür nötigen Schlüsselelemente führen die Seiten des „mise en place“ Kapitels detailliert aus:

– Occasion: der Anlass, die Gegebenheit, die holistischen Rahmenbedingungen des Genussmomentes

– Aroma und Geschmack: wobei besonders mit arriviertem Kästchendenken von Küche versus Bar gebrochen wird. Speziell die flavoristischen Welten abseits gelernter Getränkepfade sollen erschlossen werden

– Visuelle Ästhetik: veranschaulicht durch ein Weinglas, in dem ein nichtalkoholischer Speisenbegleiter kredenzt wird. Alleine dadurch erfährt die Flüssigkeit beispielsweise enorme Aufwertung und wird als adäquate Weinalternative gewürdigt

– Textur und Form: spielen mit ähnlichen Überlegungen, wobei die haptischen zu den optischen Qualitäten hinzugefügt werden

– Würze und Balance: kommen gerade in Kombination mit Speisen zu tragen

– Mit den Parametern Temperatur nebst Eis, Serviergröße und Klarheit beschließen die Autoren ihre zugrundeliegende Matrix

– Ein interessanter Punkt ist die Komponente Proof oder Stärke: Haben wir es doch mit alkoholfreien Kreszenzen zu tun. Hierbei versucht man den Wahrnehmungseffekt des alkoholischen Brennens am Gaumen zu rezitieren.

Kurzum, ein ganzheitlicher Blick auf sensorische Empfindungen und interdisziplinäres Drinkdesign steckt hinter den Ausarbeitungen des gesamten Besuches.

Das technikaffine Brimborium

Durch alle Rezepturen hindurch bemüht sich das Team, die komplexen Prozesse eines Michelin-Stern-dekorierten Imperiums in haushaltsgerechte Happen zu zerteilen. Begriffe werden leicht simplifiziert, Gerätschaften entsprechend adaptiert und beschrieben, sowie eine Rezeptstruktur proklamiert, die sehr nahe an klassischen Kochbüchern angelehnt ist.

Dass dem geneigten Heimanwender ein Einkaufsbummel zum wohlsortierten Fachbedarf sowie Spezialitätenhändler dennoch nicht erspart bleibt, wird auf den ersten Seiten der „non-alcoholic backbar“ ersichtlich. „Im Stile von…“ werden gängige Basisspirituosen wie Gin, amerikanischer Whiskey, Tequila, aber auch fortifizierte und aromatisierte Weine re-interpretiert. Bisweilen mit recht exotischen Highlights wie pflanzlichem Glycerin. Alleine die Mezcal-angelehnte Essenz listet satte achtzehn Ingredienzien, alles freilich Sous-vide verarbeitet.

Dazu sei erwähnt, dass all jene, die sich ein Buch für 85 Dollar rein über alkoholfreie Drinks von einem der höchstdekorierten kulinarischen Starensembles kaufen, wohl ein gewisses Basisinteresse mitbringen und ein fortgeschrittenes Level an „Nerdiness“ an den Tag legen.

Zero, ein Buch für den reue-losen Rausch

Genau diese Zielgruppe wird bei Zero fündig und mit dem Buch nicht nur glücklich, sondern auch herrlich berauscht, ganz ohne Schwips und Kater.

Man vakuumiert sich durch auf Null getrimmte Classic Cocktails, sous-vide-badet sich über Modern Cocktails hin zu alkoholfreien Weinen und Bieren. Den abenteuerlichen Abschluss begießt man mit „Etcetera“, einem Sammelsurium von Drink-Kuriositäten, die von „Tsatsiki“, über „Erdnussbutter und Bananen Sandwich“ – ja, das kann man trinken! – bis zu einer vierseitigen Abhandlung eines Pulp Fiction inspirierten „5 $ Shakes“ reichen. Voll gepflastert mit Tonkabohnen-Safran-Eiscreme, Sassafras Milch, geschlagener Sahne und einem eleganten Finish von frisch geriebener Tonka und Luxardo Kirschen.

Zero ist ein inspiriertes Buch, ein inspirierendes Buch. Ein verspielt und detailliert ausgearbeitetes Werk, das zwar nicht für sanfte Gemüter geschaffen, aber ein Hochgenuss für technik-affine Drink-Enthusiasten ist. All jenen, die beim nächsten Sterne-Dinner nicht nur beim schüchternen Wasserglas sitzenbleiben möchten, sind hier Bilder in den Kopf gesetzt. Wörtlich, wie sprichwörtlich, sind doch die Fotografien der Rezepte ebenso auf den Punkt, gleichsam schlicht, wie die Beschreibungen fokussiert gehalten.

Ein stattlicher Band, dennoch handlich, anders als die oft erschlagend wirkenden Coffee Table Bücher, die einen eigenen Wohnbereich an Platz vom Leser einfordern. Stolz ist freilich auch der Preis, aber wer schielt bei so viel Fachwissen und geballter Expertise schon in die Brieftasche?

Ein bisschen Sterneglamour und eine Marke wie Alinea samt Grant Achatz muss da freilich ebenso gewürdigt werden. Kurzum: eine kulinarisch lyrische Köstlichkeit, von Zero auf Hundert in 250 Seiten.

Anmerkung: Zero ist aktuell nicht im deutschsprachigen Handel zu haben, sondern ist nur bei The Aviary direkt zu beziehen. Auch eine digitale Ausgabe liegt nicht vor. Das Presseexemplar wurde uns aus den USA zugeschickt. 

Credits

Foto: The Aviary

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