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Die dunkle Seite des Lockdowns: Depression und mentale Probleme in der Barszene

Kaum eine Branche ist von einem Berufsverbot und einer damit einhergehenden Existenzangst in der Coronakrise so betroffen wie die Gastronomie. Durchhalteparole folgt auf Durchhalteparole. Aber die Folgen sind längst spürbar. Es ist an der Zeit, über Depressionen und mentale Gesundheit in der Barszene zu sprechen.

Der Facebook-Post Anfang Februar ist eigentlich nur ein schlichter Einzeiler. „Spricht jemand über Depressionen unter Corona-Lockdown?“ (sic!) Der Verfasser der Nachricht ist Guilherme Kilpp Gonzatti, Bartender im Berliner Provocateur. Der Post bleibt nicht lange unbeantwortet. Einige Kommentare folgen, die nicht nur Verständnis äußern oder Mut zusprechen, sondern auch vom eigenen, ähnlichen Gemütszustand berichten.

„Ich hatte einfach viele Gefühle in mir, Trauer, Wut und Enttäuschung. Eigentlich wollte ich schon früher etwas schreiben. Keinen ganzen Artikel, aber zumindest das Thema öffentlich machen. Dann war ich aber müde und in einer schlechten Verfassung und habe es einfach gepostet“, erinnert sich Guilherme Kilpp Gonzatti. „Viele haben mir danach noch zusätzlich privat geschrieben, auch Namen aus der Szene, von denen man nicht gedacht hätte, dass sie mit mentalen Problemen zu kämpfen haben.“

Der gebürtige Brasilianer, der 2016 nach Deutschland kam, spricht offen über seine Depression. Erste Züge hätten sich bei ihm schon in früher Kindheit gezeigt, im Laufe seines Lebens sei er immer wieder in Behandlung gewesen. Das Jahr 2020 aber hätte völlig anders begonnen. Er sei stabil wie nie gewesen, im Job sei er befördert worden, er sei eine neue Beziehung eingegangen und sein Therapeut hätte gesagt, dass er ihn im Grunde nicht mehr benötige. Aber mit dem zweiten Lockdown und der kalten Jahreszeit kam der Rückfall. „Ich hatte keine Struktur mehr in meinem Leben. Kein Sport, kein Geld, keine Arbeit, keine Hobbies. Einfach keine Perspektiven mehr. Hinzu kam das Gefühl, sozial irrelevant zu sein. Ich hatte Selbstmordgedanken”, beschreibt Guilherme weiter. „Ich habe vermutet, dass ich nicht der Einzige bin, der unter dieser Situation leidet. Aber es war unerwartet, wie viele Menschen Hilfe aus der Szene angeboten haben, und wie viele sich verwundbar gezeigt und von ihren Therapien geschrieben haben, oder den Medikamenten, die sie nehmen. Es ist ja nach wie vor ein Tabu, über das Thema zu sprechen.“

Zwischen Schokolade und Selbstbildnis

Zweifellos ist mentale Gesundheit nicht mehr so ein Tabu wie noch vor 20 oder 30 Jahren, zweifellos ist es aber nach wie vor ein Thema, das weiterhin allerorts mit Samthandschuhen angefasst wird. Und das weiterhin mit viel Unwissenheit behaftet ist. Laut einer Statistik der Stiftung Deutsche Depressionshilfe glaubte 2018 noch jeder fünfte Deutsche, dass eine Depression abklingen würde, wenn sich die Betreffenden „zusammenreißen und Schokolade essen“ würden. Über 90% waren darüber hinaus der Ansicht, dass ein depressive Störung oder ähnliche Leiden alleine von Schicksalsschlägen und Stress verursacht werden, während heute als erwiesen gilt, dass sie immer auch biologische Ursachen haben. In einem bizarren Umkehrschluss wird das Wort aber auch durchaus inflationär verwendet, schließlich ist schnell mal was deprimierend.

„Anzeichen einer Depression sind fehlender Antrieb, gepaart mit Freudlosigkeit und Lustlosigkeit selbst bei Aktivitäten, die einem früher Spaß gemacht haben, oft in Kombination mit Konzentrations- wie Schlafstörungen. Häufig kommt ein lang anhaltendes Morgentief hinzu. Man hat ein Gefühl von innerer Leere, Hoffnungslosigkeit sowie negative Gedanken. Das hat jeder Mensch mal. Wenn dieser Zustand jedoch dauerhaft über einen Zeitraum von mehreren Wochen anhält, sind das Warnsignale. Depression ist aber nur ein Bereich psychischer Erkrankungen. Auch Zwangsstörungen, Angststörungen oder soziale Störungen gehören unter anderem dazu“, fasst Ariane Mattner, Diplom-Psychologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Hypnose-Therapeutin in Berlin, zusammen. „Bartender sind es womöglich gewohnt, nachts Leistung zu bringen und betrachten sich als diejenigen, die über eine gewisse Lebens- und Menschenkenntnis verfügen. Wenn man dem Klischee folgen will: Sie sind dann auch vergleichbar mit Psychologen, sind die, die Ratschläge in Krisen geben. Jetzt finden sie sich in einer umgekehrten Situation wieder, sind konfrontiert mit Lethargie, Frust und wenig Kontakten. Hier in einer Art Rollenwechsel zuzugeben, dass es einem schlecht geht, mag eine größere Herausforderung darstellen als in anderen Branchen.“

Dabei wäre nichts verständlicher, als das zuzugeben. Denn wie könnte es einem auch gutgehen als Angehöriger eines Berufsstands, der sich seit einem Jahr mit Durchhalteparolen begnügen muss, denen kaum Lösungen folgen? Dessen Vorschläge ignoriert, dessen Umbaumaßnahmen übergangen und dem Vertrauen erst gar nicht entgegengebracht wird? Stattdessen müssen Bars und Restaurants einer Politik zusehen, die zunehmend kopflos zwischen Lockdowns und „Notbremsen“ hin- und hernavigiert; das Gefühl, das eigene Schicksal in Händen von Menschen liegen zu sehen, die nicht wissen, was sie tun, muss ein persönliches Gefühl von Hilf- und Hoffnungslosigkeit nur verstärken.

Denn eines ist klar: Die Gastronomie sitzt am hinteren Ende der Ersatzbank, von wo die Spieler auf das Feld der Lockerungen geschickt werden.

Normal ist, was man normal betrachtet

Eine Bartenderin, die damals auch einen Kommentar unter den Post von Guilherme Kilpp Gonzatti schrieb, war Natalie van Wyk. „Ich finde es grundsätzlich wichtig, über mentale Gesundheit zu sprechen, im Augenblick mehr denn je. Meine Prämisse ist: Normal ist, was man normal betrachtet. Wenn ich eine Verletzung am Knie habe, gehe ich ja auch regelmäßig zur Physiotherapie“, so die 27-jährige, die vor knapp zwei Jahren aus Lübeck nach München gezogen ist. Dort war sie anfangs im Ory tätig und ist zu Beginn der Coronakrise in das Schumann’s gewechselt. „Ich hatte im letzten Jahr mit Sicherheit depressive Phasen, wo ich mir die Fragen gestellt habe: ‚Geht es für mich beruflich weiter, macht es noch Sinn oder soll ich etwas anderes lernen? Wie lange geht die Pandemie noch, reicht das Geld?‘ Aber ich konnte meinem Therapeuten sagen: ‚Im Moment ist alles Scheiße, ich weiß nicht, was die Zukunft bringt.‘ Ich hatte diesen Ort, und so konnte sich diese Depression nicht in mich reinbohren. Denn natürlich fühlt es sich anders an, als einem Freund zu sagen, man hätte einen schlechten Tag. Der sagt dir ein paar nette Worte, das ist auch schön. Aber es ist ein Unterschied, diese Dinge in einem professionellen Umfeld auszuarbeiten.“

 

„Die meisten denken, irgend etwas Spezielles muss vorgefallen sein, damit jemand diesen Schritt macht. Aber das ist nicht der Fall. Es gibt tausend verschiedene Gründe, eine Therapie zu machen.“

 

Sie selbst habe bereits vor Jahren gemerkt, dass ihre Depression und ihr Verhalten sich auch auf andere Menschen auswirke, so van Wyk, 2019 auch Zweitplatzierte der Made in GSA Competition. Das wollte sie ändern, auch wenn es dann noch eine Weile gedauert hätte, bis sie tatsächlich einen Therapieplatz gefunden hätte; das sei erst in München geschehen. Heute postet sie sogar dann und wann einen Dialog mit ihrem Therapeuten, was verdeutlicht, wie offen sie mit dem Thema inzwischen umgeht. Auch sie sagt, dass sich immer wieder mal jemand vertraulich mit einer Frage an sie wendet, ob nun aus der Barszene oder nicht. „Schwierig ist der erste Schritt. Bei Depression oder Angstzuständen sagt man sich: ‚Vielleicht übertreibe ich. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, anderen geht es viel schlechter als mir.‘ Viele wissen nicht, wie sie im ersten Moment mit dieser Situation umgehen sollen. Ich hatte zu Beginn ebenfalls Hemmungen, davon zu sprechen. Die meisten denken nämlich, irgend etwas Spezielles muss vorgefallen sein, damit jemand diesen Schritt macht. Aber das ist nicht der Fall. Es gibt tausend verschiedene Gründe, eine Therapie zu machen.“

Von Supermännern und Superfrauen

So ganz neu ist das Thema mentale Gesundheit in der Barszene auch auf dieser Website nicht. Damien Guichard, heute Barchef der Truffle Pig Bar in Berlin, hat vor rund drei Jahren einen ausführlichen Text darüber geschrieben. Er stützte sich dabei auf eine anonyme Umfrage unter Kollegen, die sehr wohl gezeigt hat, dass im Sinne des positiven Scheins vieles unter die dunkle Barmatte gekehrt wird. Ein hochgradig stimulierendes Arbeitsumfeld, hoher körperlicher Einsatz, ständig Positivität ausstrahlen und natürlich die Nähe von Alkohol und Drogen, all das ein gefährlicher Cocktail, der zu Problemen führen kann. Er hätte das Thema nie zuvor unter Kollegen diskutiert und nicht gewusst, ob sich überhaupt jemand dafür interessiere, schreibt Guichard, „aber innerhalb weniger Tage hatten 20 Kollegen geantwortet. Fast jeder bestätigt, dass diese Themen Tabu sind. Es wird nicht darüber diskutiert, denn Bartender müssen stets Bestleistung bringen. Es gibt keinen Platz für Schwäche in dieser Branche.“

Seither hat sich auf dem Gebiet wenig getan, und eine globale Pandemie ist natürlich wenig geeignet, diesen Teppich auszulüften. Sondern vielmehr dafür, noch mehr Angestautes und Unbequemes darunter zu schaufeln. Denn alles, was diese Krise den Menschen im mentalen Bereich abverlangt, wird erstmal Durchhalteparolen und Inzidenzzahlen untergeordnet. Wir alle ahnen, dass wir noch einen Preis zahlen könnten, aber erstmal behandeln wir es, als ob wir die Fenster aufreißen könnten, nachdem der Sturm verzogen ist. „Die Konzentration liegt auf dem Virus, aber was in den Menschen passiert, kratzen wir nur an. Das unsichtbare Leben der Psyche trägt sich aber fort“, so Ariane Mattner. „Allgemein lässt sich aktuell beobachten, dass mehr Leute eine Therapie in Anspruch nehmen, viele davon haben ihre Arbeit im Lockdown verloren. Sie haben auf der einen Seite Existenzängste, auf der anderen aber auch Zeit, sich um ihre Psyche zu kümmern. Aus der Gastronomie sind jene am meisten gefährdet, die schon mal eine Depression hatten. Durch die äußeren Umstände, die Ängste, die fehlende Wertschätzung sowie das Gefühl der Diskriminierung, dass etwa der Lockdown nicht für alle Branchen gilt, ist die Gefahr hier mit Sicherheit höher.“

Ein Universum ohne Mittelpunkt

Womit wir bei einer wesentlichen Ursache sind: der fehlenden Arbeit. Die wirkt sich natürlich erstmal im Sinne eines fehlenden Gehalts und einer wirtschaftlichen und damit existenziellen Bedrohung aus. So haben laut barkombinat Hamburg e.V. beispielsweise per 1. März 53% der Bars in der Hansestadt MitarbeiterInnen entlassen müssen, während 31% der BarbetreiberInnen Hartz IV anmelden mussten. Eine desaströse Bilanz.

Mindestens so gravierend ist die fehlende Arbeit aber in der Art des Wesensentzugs für die Betroffenen; des Nicht-mehr-sein-könnens, wer man ist. Nicht von ungefähr, sagt Guilherme Kilpp Gonzatti, seien seine Probleme mit dem zweiten Lockdown wirklich gravierend geworden. „Der erste Lockdown war teilweise romantisiert, man denke an virale Videos von Menschen, die auf Balkonen singen. Wir Bartender kamen auch gerade aus dem Winter, wo am meisten zu tun ist, man konnte sich erholen. Dann kam der zweite Lockdown und die steigende Ungewissheit. Ich bin, wie viele, Bartender aus Leidenschaft. Eigentlich bin ich gelernter Chemiker. Ich habe immer angenommen, ich würde in einem Labor arbeiten, aber ich bin gerne Entertainer, die soziale Interaktion mit Menschen tut mir gut. Bararbeit ist vielseitig, und hart zu arbeiten steigert mein Selbstwertgefühl. Vielleicht hat man auch einen kleinen, besseren Einfluss in der Welt“, beschreibt er. „Ein Freund wollte mich in dieser Zeit aufmuntern und meinte: ‚Schau mal, du bist zu Hause, hast Kurzarbeitergeld und musst nicht arbeiten.‘ Ich dachte mir: Wie viele Menschen denken das noch? Dass Bartender sich ohne Grund beschweren? Bei 60% Kurzarbeitergeld von einem ohnehin nicht so hohen Gehalt, ohne Nachtzuschlag und Trinkgeld?“

 

„Eine Form von Glücksdarstellung scheint – bizarrerweise – in der Coronakrise noch stärker geworden zu sein. Als müsste man sich erst recht nicht anmerken lassen, dass man mit einer Espressotasse Wasser aus dem lecken Boot schöpft. So trifft diese spezifische Bartender-Philosophie, immer ‘on top of the game’ zu sein, auf den Corona-Zwang, sich neu erfinden zu müssen.“

 

Auch Natalie van Wyk findet den zweiten Lockdown schlimmer als den ersten und konstatiert eine unterschiedliche Wahrnehmung in der Wucht der Pandemie. „Der erste Lockdown war noch stärker getragen von einem kollektiven Gefühl. Die Sorge galt dem Virus: ‚Was ist das, was macht es?‘ Jetzt fühlt es sich an, als hätten sich viele Menschen davon entfernt. Sie überlegen, wo sie hinfliegen sollen, denn sie hätten sich ja ‚sattgesehen an der Stadt‘. Für viele Gastronomen unterscheidet sich der zweite aber nicht vom ersten Lockdown: Man hat nichts, man weiß nichts, alles wirkt bedrohlich. Man fühlt sich wie ein Bauernopfer“, so die Schumann’s-Bartenderin. „Gleichzeitig nimmt meine Arbeit ein sehr großes Zentrum in meinem Leben ein, und ich glaube, so geht es vielen. Die meiste Zeit habe ich beim Arbeiten verbracht oder habe Freunde in Bars besucht, denn die meisten meiner Freunde sind ebenfalls Bartender. Nun fühlt es sich an wie ein Universum, dem der Mittelpunkt fehlt.“

Die Tücken der dauernden Glücksdarstellung

Und genau das ist es: dieser Mittelpunkt fehlt. Allen. Und überall. Es ist dieser physische Tresen, auf dem man die Gläser gestellt und den man trocken gewischt hat für die nächste Runde. Dieser reale Raum, den wir jetzt alle täglich rekonstruieren, in digitalen Discos, Zoom-Meetings und Livestreams; den wir aus zugeschnürten Cocktailpaketen puhlen und aus Plastikbags gießen, nicht ohne zuvor ein Boomerang-Snippet gemacht zu haben. Und dabei so gut es geht verbergen müssen, dass uns dieser Ort wahnsinnig fehlt. Ein Phänomen, das nicht nur auf Bartender und Gastronomen zutrifft, sondern auf die Bar- und Spirituosenindustrie insgesamt. So hat MIXOLOGY auch mit einem Markenbotschafter einer globalen Spirituosenmarke gesprochen. Auch diese Person war vor einiger Zeit wegen einer Depression in therapeutischer Behandlung, möchte allerdings anonym bleiben.

„Man hat als Markenbotschafter nochmal eine gesteigerte Form der falschen Glücksdarstellung, weil man ja Repräsentant für etwas Positives ist. Die Marke bist du, du bist die Marke. Man darf noch weniger zeigen, dass man verwundbar ist. Alleine die Tatsache, dass dieses Gespräch anonym stattfindet, zeigt das nach wie vor hohe Tabu”, so der Markenbotschafter. „Abgesehen davon glaube ich, dass Corona auch Gräben geöffnet hat. Viele meinten: ‚Wo sind die Markenbotschafter, warum tun sie nichts?‘ Viele haben aber im Hintergrund etwas getan. Und wir haben auch Ängste um den Job, viele haben Familie und müssen ihre Rechnungen bezahlen.“

Nicht jeder möchte sich neu erfinden

Eine Form von Glücksdarstellung scheint – bizarrerweise – in der Coronakrise noch stärker geworden zu sein. Als müsste man sich erst recht nicht anmerken lassen, dass man mit einer Espressotasse Wasser aus dem lecken Boot schöpft. So trifft diese spezifische Bartender-Philosophie, immer on top of the game zu sein, auf den Corona-Zwang, sich neu erfinden zu müssen. Es regiert das Schlagwort von der Krise als Chance – wer bremst, verliert nicht nur, sondern wird überrollt.

Natürlich bringt es auch nichts, täglich einen Post abzusetzen, wie schlimm es ist, in einer mit modernem Luftfilter ausgestatteten Bar zu sitzen und zum fünften Mal die Plexiglasscheiben zu putzen, aber beizeiten scheint die Adaption an die Krise wie eine selbstmörderische Camouflage. Anstatt sagen zu können, wie satt man das das alles hat, muss man sich als Pizzabäcker, Hot-Dog-Dealer und Slushee-Spezialist neu erfinden. Und bottlen, was das Zeug hält. Plötzlich ist man nicht mehr nur Bartender oder Gastronom, sondern Streaming-Spezialist, Vorreiter der Digitalisierung und Cocktail-Entrepreneur. Wir alle wissen, dass Barmenschen ein sehr kreativer Menschenschlag sind, der diese Dinge draufhat. Gleichzeitig sind vieles davon stumpfe Arbeitsbereiche oder Tätigkeitsfelder vor Laptops, gegen die sich viele zuvor ganz bewusst entschieden haben.

Nicht jeder möchte sich eben als CEO einer neuen Bottled-Brand erfinden, nicht jeder so tun, als hätte er schon sein Leben lang drauf gewartet, Cocktails mit einem Gewinnergrinsen für die Steadycam zu shaken – und nicht immer ist man deswegen gleich gegen Innovation. „Ich wollte mich nicht neu erfinden, ich hatte mich schon als Bartender neu erfunden“, beschrieb kürzlich auch der einflussreiche US-Bartender Jeffrey Morgenthaler seinen Gemütszustand. „Bartender ist einer der wenigen Jobs, bei dem es immer sofort Feedback gibt. Ich glaube nicht, dass viele Leute über die Tatsache sprechen, wie deprimierend es ist, wenn das wegfällt.”

 

„Ein Pokerface wahren – auch dieser Zug trifft die Stimmung in der Pandemie gut. Wenn man aber auch etwas Positives an der Coronakrise finden will, dann vielleicht das: Womöglich wird gerade die eine oder andere Weiche gestellt für mehr Verständnis für mentale Probleme.“

 

Dieses Feedback und dieser unmittelbare Austausch kann auch durch Social Media kaum reproduziert oder gar substituiert werden; außerdem hat auch nicht jeder die Social-Media-Reichweite (oder den Willen), sich dieses Feedback dort zu holen. Ganz im Gegenteil, steigt der Druck, wenn man den Kolleginnen und Kollegen weiterhin beim Posten zuzusehen; hier Champagnerflaschen, dort Austern, da Vorträge und digitale Events. Während bei einem selbst der Anfragepegel auf das Niveau eines Schiffskapitäns sinkt, der seinen Frachter im Suez-Kanal geparkt hat. Es hilft nichts, sich vorzubeten, dass Realität und Social Media zwei Paar Schuhe sind: Das Gefühl des Abgehängtwerdens, das Social Media auslöst, ist nichtsdestotrotz real.

„Wir können uns nicht sehen, wir können nichts richtig erleben und müssen das wenige, das wir erleben, besonders groß zeigen“, beschreibt Ariane Mattner das Prinzip. „Wir tun das auch, um uns selber zu trösten, gar nicht so sehr, um den anderen zu zeigen, was sie alles nicht haben und nicht hinkriegen. Sondern vielmehr als Strategie, von der eigenen Frustration abzulenken oder nach außen ein Pokerface zu wahren. Welche Motive, Leid oder Emotionalität dahintersteckt – da sind wir alle mittlerweile genug geübt im Umgang mit Social Media, um sich das nicht anmerken zu lassen, sondern jene Fassade zu zeigen, die uns in dem Moment dient.“

Jeder hat das Recht auf Therapie in Deutschland

Ein Pokerface wahren – auch dieser Zug trifft die Stimmung in der Pandemie gut. Wenn man aber auch etwas Positives an der Coronakrise finden will, dann vielleicht das: Womöglich wird gerade die eine oder andere Weiche gestellt für mehr Verständnis für mentale Probleme. Vielleicht visualisieren die Menschen mit dem Wort Depression nicht gleich einen unzugänglichen, tablettenabhängigen Menschen, der mit hängenden Schultern durch seine triste, unerreichbare Parallelwelt schlurft. Vielleicht verstehen sie, dass gerade jene lautesten, positivsten mitunter jene sein können, die am meisten glauben, ihr Leiden überdecken zu müssen.

Und vielleicht haben ebenfalls viele erkannt, dass auch die eigene Eisdecke gar nicht so dick ist, wie man geglaubt hat. Zumindest das Verständnis für psychische Überlastung sollte ein Rekordhoch erfahren. Immerhin gab es wohl kaum einen so kontinuierlichen Zeitraum, in dem dieses diffuse Gefühl aus Verunsicherung, Überlastung und Verdrängung den vorherrschenden kollektiven Zustand einer Gesellschaft beschreibt. Ob nun Bartender, Eltern im Homeoffice oder, ja, Politiker in Dauersitzungen.

Dieser Artikel dient auch nicht dem Zweck, kollektiv zur Therapie aufzurufen. Vielmehr soll er darlegen, wovon viele hinter vorgehaltener Hand sprechen. Aber viele Betroffene wissen auch nicht, dass man in Deutschland ein Recht auf drei Formen von Therapie hat: Die Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie, und die tiefenpsychologische Gesprächstherapie werden von der Krankenkasse bezahlt. Der Weg dorthin führt erstmal über den Hausarzt. „Der schwierigste Ansatz der Lösung einer Depression ist zu sagen: Ich kann mich nur da selber rausholen, weil das keiner für dich tun. Aber ich kann mir professionelle Hilfe suchen. Ich habe damals den Mut aufgebracht zu sagen: Das mache ich jetzt. Mein wichtigster Punkt ist: Menschen, die in einer Depression sind, dürfen nicht das Gefühl haben, schwach oder ein Einzelfall zu sein“, ergänzt der Markenbotschafter. Er selbst sei seit einiger Zeit nicht mehr in Therapie, halte sich aber die Option offen, sollte es eines Tages wieder nötig sein.

Kein Schmelzen in der Sonne

Es ist ein Weg, der dauern kann. Aber es ist ein Weg, der sich lohnt, ist Natalie van Wyk überzeugt. „Je mehr man darüber spricht, desto selbstverständlicher wird es. Das hört man eher ‚Hattest du eine gute Stunde, ja, gehen wir gleich einen Kaffee trinken?‘ Die Entwicklung, die man nehmen kann, bringt viel mehr als die Scham, keine Schwäche zu zeigen, oder die Angst, verurteilt zu werden“, so die Bartenderin. „Angesichts der aktuellen Lage würde es mich nicht wundern, wenn jeder mit diesen Problemen kämpft. Ich werde häufiger nach Rat gefragt, und ich helfe gerne. Das Gespräch verläuft meistens ähnlich und beginnt mit: ‚Du, ich muss dich mal was Komisches fragen…‘”

Wir leben in extrem komischen Zeiten. Es ist also kein Zeichen von Schwäche, mal was Komisches zu fragen. Denn eines ist klar: Der kommende Sommer lässt diese Probleme nicht einfach so wegschmelzen. Die sind nämlich auch nicht aus Schokolade.

Credits

Foto: Hyo-Song Becker

Comments (1)

  • Peter Schütte

    Ein toller Artikel! Er macht Mut zum vielfach besprochenen ersten Schritt. Danke dafür.

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