Inventur am 25. Oktober 2020 – Sperrstunden-Debatte in Berlin verschärft sich
Die gerade hinter uns liegende „längste Nacht“ des Jahres wird unter normalen Umständen gern für ausgiebige Bar- und Club-Touren genutzt. Macht Sinn, denn selbst wenn man sehr lang unterwegs ist, bekommt man am Folgetag sozusagen eine Extrastunde zur Erholung geschenkt. Dieses Jahr war und ist das anders: Bars laufen auf Sparflamme und vielerorts unter eine Sperrstunde (dazu gleich mehr), und was Clubs eigentlich genau sind, wie sie sich anfühlen, das beginnen wir allmählich beinahe zu vergessen.
Einen wunderschönen Beitrag zu diesem Thema – dem Vermissen im Allgemeinen und dem Vermissen von Nachtleben im Speziellen – hat Spiegel-Autorin Samira El Ouassil vor wenigen Tagen in ihrer Kolumne veröffentlicht. Auch sie vermisst das nächtliche Ausgehen, diesen besonderen „Dritten Ort“, den man eben nur findet, wenn man im Dunkeln durch Bars und Clubs zieht. Nur Egoismus? Beileibe nicht: El Ouassils Text dreht sich nämlich genau darum, dass das Vermissen geliebter Dinge oder Tätigkeiten in der aktuellen Krise eben gerade nichts Selbstsüchtiges an sich hat. Wer seiner Lieblingsdisco hinterhertrauert, der hat kein #FirstWorldProblem, sondern gestattet sich eine völlig nachvollziehbare Regung. Wir haben uns beim Lesen Pantha Du Prince aufgelegt und an eine schöne Club-Nacht in früheren Zeiten zurückgedacht. Von dort springen wir aber wieder ins Hier und Jetzt der Pandemie, und zwar wieder nach Berlin.
Sperrstunde in Berlin sorgt für weitere Urteile und Konflikte
Die Debatte um die mittlerweile an viele Orten geltende Sperrstunde wird immer intensiver und unübersichtlicher, besonders in Berlin verhärten sich die Fronten zwischen Gastronomen und der Landesregierung zunehmend. Schon letzte Woche hatten elf Berliner Wirte einen erfolgreichen Antrag gestellt, um von der Sperrstunde befreit zu werden, woraufhin sich die Berliner Administration ungelenk wehrte – u.a. mit einem unbegründeten Widerspruch, einer gerichtlich kassierten Zwischenverfügung sowie durch einen teils unangemessenen Tweet von Gesundheitssenatorin Kalayci.
Diese Woche hat sich das Geschehen weiter verdichtet: Das Verwaltungsgericht gab inzwischen einem weiteren Antrag von 20 Kneipiers und Barbetreibern statt, ihren Betrieb auch nach 23 Uhr aufrechtzuerhalten, weitere Klagen sind anhängig bzw. werden folgen (unberührt davon ist das nach wie vor geltende Alkoholverkaufsverbot ab 23 Uhr). Die Berliner Gerichte beziehen sich in ihren Begründungen darauf, dass alle greifbaren Zahlen deutlich zeigten, Bars und Restaurants seien keine Pandemie-Treiber. Der Senat wettert dennoch weiter und unterstellt den Bars Egoismus und Verantwortungslosigkeit. Die vom Tagesspiegel aufs Tableau gebrachte Vermutung, dass ausgerechnet die klagenden Bars nun verstärkten Corona-Kontrollen ausgesetzt seien, wurde zwar negiert – komplett aus der Luft gegriffen scheint der Vorwurf allerdings nicht zu sein.
Prominentes Deutsches Duo eröffnet Mezcal-Bar in London
Vom ikonischen weißen Blazer hin zum Smart Casual: Noch bis vor wenigen Wochen war der Deutsche Maxim Schulte Headbartender in der American Bar im Londoner Savoy Hotel, eine der berühmtesten Bars der Welt. Nachdem allerdings die Hotelleitung unter recht klandestinen Bedingungen einen kompletten Neustart für die Bar zu planen scheint, schied nicht nur Schulte aus dem Unternehmen aus, auch sein Vorgesetzter, der langjährige Bar-Direktor Declan McGurk, nahm seinen Hut (dazu auch das Tagebuch unseres Autors Martin Stein vom Last Dance der ehemaligen Savoy-Crew).
Nun erregt Schulte Aufsehen mit seinem neuen Projekt: Wie er im Laufe der Woche per Instagram bekanntgab, bringt er in Kürze die neue Location „Kol Mezcaleria“ an den Start. Geplant sei ein Bar & Food-Konzept mit klarem Fokus auf mexikanische Spirituosen – und zwar nicht nur solche aus Agaven. Mit dabei? Matthias Ingelmann, ehemals aus der kleinen deutschen Bar-Metropole Bamberg aufgebrochen und inzwischen mit erheblichen Meriten aus London und Paris ausgestattet. Wir sind gespannt auf diese „Kol-Laboration“ (den konnten wir uns nicht verkneifen) zweier so renommierter deutscher Bartender in der europäischen Bar-Hauptstadt.
Amerikas Beverage-Szene und ihre rasante Politisierung
Unser Redakteur Stefan Adrian hat es ähnlich auch schon in unserer August-Ausgabe proklamiert: Spätestens seit 2020 dürfte das alte Bar-Motto No Politics ausgedient haben. Zu drängend sind gesellschaftliche und soziale Themen oder die Klimawandeldebatte, dazu kommen weitreichende politisierte Debatten rund um die Corona-Krise. Besonders drastisch ist diese Entwicklung in den USA, die durch die Krise extrem ins Wanken geraten sind und deren Bürger in knapp zwei Wochen die Wahl haben, ob der Rechtspopulist Donald Trump für weitere vier Jahre im Weißen Haus bleiben darf.
Das hat auch für die Gastro- und Getränkeszene Konsequenzen, wie das Magazin SevenFiftyDaily in einem aufschlussreichen Dossier zeigt: Dem Artikel von Betsy Andrews zufolge betätigen sich immer mehr Akteure der Branche aktiv politisch – und machen, das ist das besondere, dabei auch vor Gästen oder Geschäftspartnern nicht halt. Im Zentrum steht dabei meist nicht die konkrete Ergreifung einer Partei-Seite, sondern primär Sensibilisierung und Aufklärung – etwa zu populistischen Verzerrungen oder zum in den USA hochbrisanten Thema der Wählerregistrierung. Eine unbedingte Lese-Empfehlung!
Single Malt vom Roboter statt per Handwerk? Schon längst Realität!
Zum Schluss unserer „Inventur“ gibt es gerne mal ein Kuriosum, so in gewisser Weise auch heute. Denn David Spanton packt für die Kollegen vom Australian Bartender Magazine ein heißes, geradezu emotionales Eisen an: das Verschwinden des Menschen aus der Spirituosenproduktion.
Anhand eines Reiseberichts durch Schottland illustriert der Autor, wie sich die Produktionsmechanismen beim Scotch transformiert haben. Technologische Fortschritte begünstigen die Automatisierung von Prozessen, hinzukommt, dass immer mehr Brennereien unter den Dächern großer Konzerne versammelt werden. Das bedeutet auch für die Romantik aus Kupferbrennblasen, traditionellem Handwerk und idyllischen Lagerhäusern voller Holzfässer, dass die Produktion ständig vom Controlling durchleuchtet und kostentechnisch optimiert wird. Ein Beispiel, das Spanton anführt: Wo früher teils mehrere hundert Menschen in einer Destille arbeiteten, sind es heute oft nur noch zwischen 15 und 30 – und das, obwohl der Ausstoß im Lauf der Jahrzehnte kontinuierlich gestiegen ist. Ein spannender Einblick in die Hintergründe einer Branche, die ihr Marketing nach wie vor am liebsten in warme, highlandmäßige Farbtöne kleidet.
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